| # taz.de -- Rentenreform in Frankreich: Viele Gründe für Skepsis und Zorn | |
| > Präsident Macron möchte das komplizierte Rentensystem reformieren. Dass | |
| > es dabei fair zugeht, trauen viele der Staatsführung nicht zu. | |
| Bild: Feuer frei in Perpignan | |
| Paris taz | Gleiche Regeln für alle und keine Privilegien! Das müsste in | |
| Frankreich, wo die „Égalité“ als gesetzgebendes Prinzip der | |
| Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung hochgehalten wird, eigentlich wie | |
| eine schöne Fortschrittsverheißung klingen. Präsident [1][Emmanuel Macron | |
| strebt eine Vereinheitlichung des komplizierten Rentensystems] und die | |
| Abschaffung zahlreicher Sonderkassen im öffentlichen Dienst und in diversen | |
| freiberuflichen Gewerben an. Doch dieser Versuch wird [2][als | |
| Frontalangriff auf die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit | |
| verstanden]. | |
| Keine Regierung der letzten zwanzig Jahre hätte das riskiert. Jacques | |
| Chiracs Premierminister Alain Juppé war der Letzte, der 1995 eine | |
| umfassende Reform riskiert hatte – nach mehrwöchigen Streiks, die das Land | |
| weitgehend lahmlegten, musste Juppé einlenken. Seither gab es bloß | |
| schrittweise „Anpassungen“ wie die Erhöhung des offiziellen Rentenalters | |
| von 60 auf 62 oder die Verlängerung der für eine Vollrente erforderlichen | |
| Beitragsdauer auf 43 Jahre (ab Jahrgang 1973). | |
| Sowohl die Staatsführung, die ihre Pläne durchsetzen will, als auch die | |
| Gewerkschaften, die zum großen Abwehrkampf mobilisieren, sind sich bewusst, | |
| dass diese Kraftprobe eine soziale „Entscheidungsschlacht“ wird wie 1995. | |
| Macron betrachtet die tiefgreifende Modernisierung des Rentensystems als | |
| „Mutter aller Reformen“. | |
| Für die Gewerkschaften und die linke Opposition geht es um mehr als die | |
| Wahrung diverser Sonderinteressen. Das Sozialmodell, auf das Frankreich | |
| bisher so stolz war, wird im Sinne einer wirtschaftsliberalen Logik der | |
| Defizitbekämpfung infrage gestellt. Die Reformpläne der Regierung zu | |
| akzeptieren, käme für die Gewerkschaften einer bedingungslosen Kapitulation | |
| gleich. | |
| Wie die Regierung im Detail die große Reform mit einem individuellen | |
| Punktesystem zur Berechnung der Rente gemäß Gesamtdauer der | |
| Erwerbstätigkeit umsetzen möchte, lässt sie aus taktischen Gründen offen. | |
| Das ermöglicht es ihr, bei der voraussichtlich sehr starken | |
| gewerkschaftlichen Mobilisierung in zahlreichen Punkten noch Konzessionen | |
| zu machen oder im umgekehrten Fall eine härtere Gangart zu wählen. Dass die | |
| Regierung ihre Karten verdeckt hält und entscheidende Fragen unbeantwortet | |
| lässt, provoziert erst recht viele ArbeitnehmerInnen, die um ihre | |
| Rentensicherheit bangen. Sie reagieren mit wütendem Misstrauen auf diesen | |
| Mangel an Offenheit. | |
| ## Als plumpe Lüge empfunden | |
| Wie die Zeitung Libération am Vortag der Streiks analysierte, ist eher | |
| klar, „viele werden viel verlieren, und wenige haben wenig zu gewinnen“. | |
| Das mehrfach wiederholte Versprechen der Staatsführung, das neue System sei | |
| positiv für „alle“, wird als plumpe Lüge empfunden. Natürlich birgt auch | |
| das heutige komplizierte System mit mehr als vierzig Sonderkassen | |
| Ungleichheiten. Eine Mehrheit der Bevölkerung wäre auch laut Umfragen nicht | |
| gegen eine Harmonisierung, eine größere Mehrheit aber traut es der | |
| gegenwärtigen Staatsführung nicht zu, dies auf faire Weise zu machen. | |
| Absehbar ist, dass alle, die bisher nicht im defizitären Hauptsystem des | |
| „Régime général“ versichert waren, sondern in einer der separaten Kassen, | |
| die mit ihren Überschüssen oft über bedeutende Reserven verfügen, weniger | |
| günstige Bedingungen erhalten. Das gilt vor allem für den öffentlichen | |
| Dienst: für das „privilegierte“ Bahnpersonal, das zum Teil ab 52 in Rente | |
| gehen kann, aber auch für die LehrerInnen, die Militärs, PolizistInnen usw. | |
| Ihnen stellt die Regierung zwar mögliche Kompensationen in Aussicht, wie | |
| beispielsweise künftig auch gewisse Prämien in die Berechnung der | |
| Rentenhöhe einzubeziehen oder eventuell die Löhne anzuheben. | |
| ## Viele Verlierer und magere Gewinner | |
| Das freilich sind Versprechen, die in der Regel nur für diejenigen | |
| verbindlich tönen, die daran glauben. Heute beträgt in Frankreich eine | |
| Rente brutto 1.422 Euro im Durchschnitt, doch während Männer | |
| durchschnittlich 1.933 brutto erhalten, müssen sich die Frauen, die | |
| häufiger Teilzeit arbeiten oder die Berufstätigkeit unterbrechen, mit 1.123 | |
| Euro begnügen. Wenn nun die gesamte Erwerbsdauer und nicht bloß die 25 | |
| „besten Jahre“ (im Privatsektor) oder die sechs letzten Monate für das | |
| öffentliche Personal die Höhe der Rente bestimmt, droht eine | |
| Verschlechterung. Die Jüngsten sagen sich vielfach, dass sie wohl nie eine | |
| anständige Rente erwarten können. | |
| Selbst bei den wenigen Glücklichen, die laut Regierung auf jeden Fall zu | |
| den Gewinnern zählen sollen – die Landwirte und Handwerker oder | |
| alleinerziehende Frauen –, herrscht Unzufriedenheit. Zwar soll in Zukunft | |
| die Mindestrente auch für sie nicht weniger als 1.000 Euro im Monat | |
| betragen. Dafür aber braucht es Beiträge während 42 Jahren | |
| Erwerbstätigkeit, und bei Näherem Zusehen entpuppt sich die großzügige | |
| Geste als magere Erhöhung um 20 Euro. | |
| Noch aber liegt das detaillierte Paket der Reform nicht vor. | |
| Premierminister Édouard Philippe soll es Mitte des Monat enthüllen. Er wird | |
| den letzten Schliff dem Verlauf der jetzigen Proteste anpassen. Ein | |
| Verzicht war für ihn, zumindest vor dem „Schwarzen Donnerstag“ am 5. | |
| Dezember, keine Option. Falls [3][Macron unter dem Druck der Straße] etwas | |
| anderes entscheidet, muss Philippe (wie mehrere Vorgänger vor ihm) als | |
| „Blitzableiter“ der Volkswut den Hut nehmen. | |
| 5 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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