| # taz.de -- Rektorin über das Startchancen-Programm: Vom Brennpunkt zum Bildun… | |
| > Trotz vieler Probleme hat eine Rektorin in Mülheim einen guten Lernort | |
| > geschaffen. Erhält ihre Grundschule nun Geld aus dem neuen | |
| > Startchancen-Programm? | |
| Bild: Schulleiterin Nicola Kueppers hofft auf mehr Geld für ihre Schule | |
| taz: Frau Kueppers, Sie leiten eine Grundschule [1][im sozialen Brennpunkt] | |
| in Nordrhein-Westfalen und haben gute Chancen, Mittel aus dem neuen | |
| Startchancen-Programm zu erhalten. Haben Sie schon einen Anruf bekommen? | |
| Corinna Kueppers: Noch nicht. Ich bin aber auch nicht sicher, ob ich einen | |
| erhalten werde. In Nordrhein-Westfalen werden Schulen ja je nach | |
| Sozialindex in Stufen von eins bis neun zugeordnet. Neun bedeutet: höchste | |
| Belastung. Wir sind ab kommendem Schuljahr bei sieben eingestuft, auch wenn | |
| es sich eher nach Stufe acht oder neun anfühlt (lacht). Es müssten also | |
| noch viele andere Schulen vor uns an der Reihe sein, wenn es darum geht, | |
| für das Startchancen-Programm ausgesucht zu werden. | |
| Ich habe nachgeschaut. Laut offizieller Statistik sind rund 270 | |
| Grundschulen in NRW schlechter dran als Sie. Schulministerin Dorothee | |
| Feller (CDU) hat aber angekündigt, landesweit würden 900 Schulen von dem | |
| Programm profitieren. So schlecht sieht es also nicht aus. | |
| Das müssen jetzt die Mitarbeiter:innen im Ministerium prüfen und | |
| entscheiden. Natürlich würde ich mich freuen, wenn unsere Schule für das | |
| [2][Startchancen-Programm] ausgewählt würde. | |
| Die Grundschule am Dichterviertel liegt im Stadtteil Eppinghofen in Mülheim | |
| an der Ruhr. Mehr als 90 Nationen leben hier zusammen, die Armutsquote ist | |
| deutlich höher als in anderen Vierteln. Was bedeutet das für Ihre Arbeit? | |
| Dass wir von der [3][Pädagogik bis zur Elternarbeit sehr gezielt auf die | |
| Kinder und die Familien eingehen] müssen. Wir sehen, dass viele Menschen in | |
| unserem Einzugsgebiet mehrfach benachteiligt sind. Viele sprechen kaum oder | |
| kein Deutsch, 80 Prozent „unserer“ Eltern beziehen staatliche | |
| Transferleistungen. Für sie ist es zum Teil schwer, Behördengänge zu | |
| erledigen oder einen Kitaplatz zu bekommen. Da können wir nicht erwarten, | |
| dass alle immer zum Elternabend kommen. Gute Elternarbeit setzt voraus, | |
| dass sich die Menschen an der Schule willkommen fühlen. | |
| Wie sieht die aus, gute Elternarbeit? | |
| Wir machen zum Beispiel zum Elternabend ein Picknick im Garten, wo sich die | |
| Schulgemeinschaft einfach mal kennenlernen darf. Oder wir bieten an, | |
| Elterngespräche auch digital zu führen, wenn die alleinerziehende Mutter es | |
| einfach nicht in die Schule schafft. Das sind vielleicht nur Kleinigkeiten. | |
| Aber wenn eine Frau mit Fluchterfahrung sich traut, bei uns einen Tee zu | |
| trinken, ist das aus meiner Sicht sehr viel wert. Vor knapp anderthalb | |
| Jahren haben wir dann ein eigenes Familiengrundschulzentrum gegründet, wo | |
| sich Eltern treffen, über Freizeitaktivitäten informieren und auch Hilfe | |
| für Behördengänge bekommen können. | |
| Als Sie die Funktion vor gut zehn Jahren übernommen haben, konnte so gut | |
| wie kein Kind richtig lesen oder schreiben. Im länderübergreifenden | |
| Vergleichstest Vera für die dritte Klasse landeten 98 Prozent der | |
| Schüler:innen beim Zuhören in der niedrigsten Kompetenzstufe. Heute | |
| liegen die Leistungen über dem Landesschnitt und Ihre Schule gilt als | |
| Beispiel für gelungene Bildungsgerechtigkeit. Wie haben Sie das geschafft? | |
| Das werde ich häufiger gefragt. Natürlich gibt es nicht die eine Antwort. | |
| Es ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig, um so einen Wandel | |
| hinzubekommen. Und das fängt vor allem beim eigenen Denken an. | |
| Das müssen Sie erklären. | |
| Als ich im Jahr 2013 an die Schule kam, hatten wir auch schon hervorragende | |
| Lehrkräfte. Nur haben die sich aufgerieben in den bestehenden Strukturen. | |
| Als ich gefragt habe, was sie jetzt brauchten, haben sie gesagt: eine | |
| Spülmaschine. Stellen Sie sich das vor! Die waren so am Limit, dass ihnen | |
| schlicht die Vorstellungskraft gefehlt hat, um „Out of the box“ denken zu | |
| können. Um aber die belastenden Strukturen ändern zu können, mussten wir | |
| uns erst mal bewusst machen, dass wir dafür viel stärker als Team | |
| zusammenarbeiten müssen. Das ist zum Beispiel eines der Dinge, die ich | |
| schnell geändert habe. Ohne diesen Schritt wäre der Unterricht, so wie wir | |
| ihn heute machen, gar nicht möglich. | |
| Haben Sie ein Beispiel? | |
| Gerne. Wir unterrichten ja nicht nach Schulstunden und auch nicht nach | |
| Jahrgangsstufe. Bei uns gibt es neun jahrgangsübergreifende Klassen. | |
| Während der selbstgesteuerten Lernphase gibt es überall im Haus Stationen | |
| mit verschiedenen Lernangeboten, je nach Interesse, Leistungsstand oder | |
| Förderbedarf der Kinder. Das bieten Lehrkräfte genauso an wie | |
| Lernbegleiter:innen oder Studierende. Die Lernphasen bereiten wir | |
| einmal die Woche gemeinsam mit allen Beteiligten vor. Ein anderes Beispiel | |
| ist unser Epochalunterricht in Kunst, Musik, Philosophie, Religion. Die | |
| Fächer unterrichten wir immer je zwei Wochen am Stück, also zwölf | |
| Schulstunden. Das bereiten auch immer zwei Kolleg:innen gemeinsam vor. | |
| Mehrere Grundschulstudien haben jüngst Alarm geschlagen, dass immer mehr | |
| Grundschüler:innen die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und | |
| Rechnen verfehlen. Wie ist das bei Ihnen an der Schule? | |
| Wir merken, dass unsere sehr individualisierte Förderkultur wirkt. Heute | |
| sprechen wir für jedes dritte Kind eine Gymnasialempfehlung aus – die | |
| Hauptschulempfehlungen sind dagegen stark gesunken. Das ist ein großartiger | |
| Erfolg. Gleichzeitig haben wir aber auch immer noch zu viele Kinder, die | |
| wir nicht so erreichen, wie wir uns das wünschen. Das wollen wir natürlich | |
| noch weiter verbessern. | |
| Wie könnte das gelingen? | |
| Wir müssen die Kinder noch früher abholen, am besten schon im frühen | |
| Kindergartenalter. Schule muss mehr ein Raum des Gelingens werden, für | |
| viele Kinder ist Schule ja eher ein Ort, der mit dem Gefühl des Versagens | |
| verknüpft ist. Um das zu ändern, müssen wir wegkommen von dem | |
| Dauerleistungsmessen, über das wir Kinder ständig untereinander | |
| vergleichen. Tests oder andere Formen der Leistungsdiagnose sollten vor | |
| allem dazu dienen, die nächsten notwendigen Schritte im Lernprozess der | |
| einzelnen Schüler:innen zu planen. Lernen und Leisten müssen neu | |
| definiert und gelebt werden. Dazu gehört auch, Hausaufgaben in der | |
| Grundschule ganz zu verbieten. | |
| An Ihrer Schule gibt es keine Hausaufgaben? | |
| Nein, es gibt auch keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, ob | |
| Hausaufgaben zu besseren Lernleistungen führen. Deshalb muten wir sie | |
| unseren Kindern nicht zu. | |
| Es klingt nicht so, als ob Sie die Hilfe aus dem Startchancen-Programm | |
| unbedingt benötigen. Wo hakt es noch? | |
| Beim Personal. Aktuell habe ich fünf Mitarbeiter:innen, die befristet | |
| angestellt sind. Das ist immer eine große Unsicherheit, wenn wir nicht | |
| wissen, ob es für sie bei uns weitergeht und wen wir vielleicht stattdessen | |
| einsetzen können. Und natürlich ist jede zusätzliche Stelle höchst | |
| willkommen. | |
| Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Schule? | |
| Aktuell endet unsere Nachmittagsbetreuung um 16 Uhr. Um unseren Kindern | |
| einen ganztägigen Beziehungs- und Bildungsort bieten zu können, müssten wir | |
| eine Ganztagsschule bis mindestens 18 Uhr sein. Wir stellen fest, dass die | |
| Personalproblematik ja nicht nur die Schulen trifft, sondern auch die | |
| Träger, die die Nachmittagsbetreuung sicherstellen. Ebenso die kommunalen | |
| Verwaltungen, die mit der Umsetzung vieler schulischer Projekte betreut | |
| sind. Hoch überschuldete Kommunen mit geringer Personaldecke benachteiligen | |
| Schulen in den notwendigen Entwicklungen zusätzlich. | |
| Mit Ihrer Erfahrung: Was raten Sie Schulen, die vielleicht noch nicht so | |
| weit sind wie Sie? | |
| Sie sollen sich zuallererst Hilfe für die Schulentwicklung holen. Ohne die | |
| Reflexion darüber, wo man steht und was man braucht, kommt man nicht | |
| wirklich weiter. Heute haben wir nur deshalb Strukturen, die an anderen | |
| Schulen undenkbar wären. Beispielsweise ein akutes Krisenmanagementsystem, | |
| das dafür sorgt, dass immer sofort zwei Erwachsene zur Stelle sind, wenn | |
| ein Kollege oder eine Kollegin im Unterricht überfordert ist. Da steckt die | |
| Überzeugung dahinter, dass wir nur als Team eine für alle gute Schule | |
| hinbekommen. Wenn jeder für sich allein arbeitet, wird das nichts. | |
| Die Politik knüpft hohe Erwartungen an das Startchancen-Programm. Glauben | |
| Sie, dass es ihnen gerecht werden kann? | |
| Ich fürchte, nicht mittelbar. Das Programm selbst finde ich sehr gut, es | |
| ist auch ein wichtiges Zeichen, dass die Politik das Thema ungleiche | |
| Chancen ernst nimmt. Es ist auch richtig, dass die Schulen über einen Teil | |
| der Mittel sehr frei verfügen können und dass die Zeitdauer von zehn Jahren | |
| realistisch angelegt ist. Das ist aber nur dann förderlich, wenn die | |
| Schulen von Anfang an gut begleitet werden. Ich weiß aus Erfahrung, dass es | |
| sehr schwierig wird, 900 Schulen mit Schulentwicklungsberatung in NRW zu | |
| begleiten. Mir ist ein Rätsel, wie das klappen soll. | |
| Die Bund-Länder-Einigung sieht vor, dass die Länder zur Begleitung der | |
| Startchancen-Schulen „entsprechende Strukturen“ aufbauen sollen. Wie | |
| müssten die Ihrer Meinung nach aussehen? | |
| Ganz wichtig ist neben der Beratung die Vernetzung, am besten bundesweit. | |
| Schulen brauchen mehr Austausch darüber, welche Konzepte funktionieren oder | |
| welche nicht. Wir müssen auch da mehr im Team arbeiten. | |
| 21 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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