# taz.de -- Rassismus gegen Sinti und Roma: Aus der Mitte der Gesellschaft | |
> Rassistische Vorurteile gegen Sinti und Roma sind ein Problem – besonders | |
> im Kontakt mit Behörden habe das existenzielle Auswirkungen auf | |
> Betroffene. | |
Bild: 8. April 2012 am Internationalen Tag der Sinti und Roma in Berlin: Stolz … | |
Eine serbische Familie, die einen Antrag auf Leistungen nach | |
Sozialgesetzbuch II stellen will, wird von der Sachbearbeiterin am Schalter | |
eines Berliner Jobcenters beleidigt: „Ich will deine Unterlagen nicht | |
sehen. Ich will mit Zigeunern nichts zu tun haben.“ Als die betroffene Frau | |
anfängt zu weinen, wird sie vom Sicherheitspersonal rausgeworfen. | |
So steht es in der Broschüre der Dokumentationsstelle Antiziganismus | |
(Dosta), die der Verein Amaro Foro am Dienstag vorstellte. Die Broschüre | |
ist voll von Beispielen wie diesem. Seit fünf Jahren sammelt die vom Senat | |
finanzierte Dokumentationsstelle Vorfälle und wertet sie aus. Eine der | |
zentralen Erkenntnisse, die Amaro Foro daraus zieht: Antiziganismus, also | |
Rassismus gegen Angehörige der Sinti und Roma beziehungsweise gegen | |
Menschen, die als solche angesehen werden, begegnet den Betroffenen in | |
allen Lebensbereichen. Und er kommt aus der Mitte der Gesellschaft, nicht | |
nur von Rechtsradikalen. | |
## Schmerzhafte Erfahrung | |
„Wir beobachten, dass Menschen mit selbst- oder fremdzugeschriebenem | |
Roma-Hintergrund inzwischen unter Generalverdacht zu stehen scheinen – bei | |
den Behörden und ihren MitarbeiterInnen, aber auch in Schulen, gesetzlichen | |
Krankenkassen, am Arbeitsplatz und im Kontakt mit Justiz- und | |
Ordnungsbehörden. Für sie sind Beleidigungen, Bedrohungen und sogar | |
Angriffe eine schmerzliche alltägliche Erfahrung und etwas, womit im | |
Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft jederzeit zu rechnen ist“, erklärt | |
Georgi Ivanov, Vorstandsmitglied von Amaro Foro. | |
Ein Beispiel aus der Dosta-Broschüre: Eine Kindertagesstätte hat eine neue | |
Regelung eingeführt, die eine Mitarbeiterin offen erläutert: „Für | |
Roma-Familien haben wir das so eingeführt, dass wir ihre Verträge fristlos | |
kündigen dürfen, sobald sie die Beiträge nicht rechtzeitig zahlen.“ | |
In den Jahren 2014 bis 2019 hat Dosta – was übrigens auf Serbisch, | |
Kroatisch, Romanes und anderen auf dem Balkan gesprochenen Sprachen „genug“ | |
und „es reicht“ bedeutet – 699 antiziganistische Vorfälle erfasst. Im | |
vorigen Jahr blieb die Zahl mit 161 Vorfällen auf dem Niveau von 2017 | |
(167). Die Zahlen seien aber nicht als repräsentativ anzusehen, erklärte | |
Projektmitarbeiterin Violeta Balog, man müsse im Gegenteil, wie bei allen | |
Dokumentationen von rassistischen Vorfällen, von einer sehr hohen | |
Dunkelziffer ausgehen. | |
Die meisten Vorkommnisse, die Betroffene der Stelle melden, kommen aus den | |
Lebensbereichen „Kontakt zu Leistungsbehörden“ (37 Prozent) sowie „Alltag | |
und öffentlicher Raum“ (24). Es folgen „Zugang zu Bildung (10), „Zugang … | |
Gütern und Dienstleistungen“ (7), „Kontakt zu Ordnungsbehörden und Justiz… | |
(6), „Arbeitswelt“ (6), „Zugang zu medizinischer Versorgung“ (5), „Zu… | |
zu Wohnraum“ (5). | |
## Diskriminierung bei Behörden | |
Amaro-Foro-Sprecherin Andrea Wierich betonte, die Häufigkeit von | |
Diskriminierungen beim Kontakt mit Leistungsbehörden sei insofern besonders | |
dramatisch, als sie für Betroffene oft existenzielle Auswirkungen haben. So | |
zeigen die dokumentierten Fälle laut Amaro Foro, dass in den Jahren 2016 | |
bis 2018 Angehörigen der Minderheit in 46 Fällen unrechtmäßig Leistungen | |
versagt wurden. 38-mal wurde die Annahme von Anträgen verweigert, 42-mal | |
wurden irrelevante Unterlagen angefordert. | |
Fatale Folgen habe Diskriminierung auch im Bereich des Zugangs zu Bildung, | |
stellt die Dokumentationsstelle fest: Da Diskriminierung hier häufig von | |
ErzieherInnen und LehrerInnen ausgehe, „ist davon auszugehen, dass das | |
Verhalten sich auch auf Kinder ohne zugeschriebenen Roma-Hintergrund | |
auswirkt und vorhandene rassistische Ressentiments unter diesen verstärkt“, | |
heißt es in der Broschüre. Vor allem aber wirke sich Diskriminierung | |
negativ auf die gesamte Biografie der Betroffenen aus, wenn sie in der | |
Folge etwa Schulangst entwickelten oder sich ihre Leistungen | |
verschlechterten. | |
Die Broschüre dokumentiert zum Beispiel einen rumänischen Vater von drei | |
Kindern, der berichtet, dass seine Kinder in der Schule durch Mitschüler | |
permanent gemobbt und geschlagen werden. Nach einem erneuten Vorfall habe | |
die Schulsekretärin seine Kinder nach Hause geschickt und gesagt, dass sie | |
sich sicher sei, dass sie an der ganzen Situation selbst schuld seien. | |
## Antiziganistisch geprägte Debatten | |
Einen wichtigen Hintergrund für die dokumentierten Vorfälle bilden laut | |
Amaro Foro „politische und mediale Debatten, die in den letzten Jahren | |
immer stärker antiziganistisch geprägt waren“, so Wierich. So hätten sich | |
im Zuge der Debatten der letzten Jahre um „Armutszuwanderung“ aus | |
Südosteuropa die gesetzlichen Bestimmungen zum Zugang zu Sozialleistungen | |
für EU-BürgerInnen verschärft. „Es lässt sich eine deutliche Verschiebung | |
der Diskurse nach rechts konstatieren – und damit verbunden eine immer | |
geringere Hemmschwelle, sich antiziganistisch zu äußern.“ | |
Als Schlussfolgerung empfiehlt Amaro Foro zum einen konkrete Schritte für | |
die verschiedenen Lebensbereiche. Beim Thema Zugang zu Bildung etwa müsse | |
der Antidiskriminierungsbeauftragte des Senats in seiner Kompetenz | |
gegenüber Schulen gestärkt werden. Langfristig brauche man eine Änderung | |
der Lehrpläne, „das Thema Antiziganismus muss mehr präsent sein“. Zum | |
anderen müssten die Öffentlichkeit und die Beschäftigten in sensiblen | |
Bereichen mehr sensibilisiert werden. Aktuell plane Amaro Foro ein Projekt | |
mit „Trainings für MitarbeiterInnen von Leistungsbehörden“. Auf die Frage, | |
ob diese denn bereit wären, daran teilzunehmen, erklärt Ivanov: „Das werden | |
wir sehen.“ | |
1 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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