# taz.de -- Psychologe über Missbrauch in der Kirche: „Wir können das nicht… | |
> Hans Zollner ist Priester und Professor für Psychologie. Im Vatikan | |
> kämpft er für die Aufarbeitung von Missbrauch. Ein Gespräch über Reformen | |
> und die Rolle des Papstes. | |
Bild: Hans Zollner an der Gregoriana, der Päpstlichen Universität in Rom | |
wochentaz: Herr Zollner, wie verhindert man Missbrauch? | |
Hans Zollner: Das hängt vor allem davon ab, wie die Menschen sich selber | |
verstehen, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse kennen. Wie sie damit umgehen | |
und ob sie mit den Menschen, mit denen sie leben und arbeiten, auf eine | |
Weise zusammenkommen, die die Würde und die Grenzen der anderen | |
respektiert. Es gibt Risiko- und Schutzfaktoren. Sowohl was das Persönliche | |
als auch das Institutionelle angeht. | |
[1][Die katholische Kirche gilt als Risikoinstitution]. Sie sehen von Ihrem | |
Büro aus die Zentrale, den Vatikan. | |
Ich sehe vom Schreibtisch aus gegenüber den Petersdom. | |
Auch sonst sind Sie dem Papst sehr nah. | |
Das kann man so nicht sagen. Ich habe ihn während der Pandemie gar nicht | |
gesehen. Dann zwei, drei Mal im November und im Januar. Aber ich habe | |
keinen regelmäßigen Termin bei ihm. | |
[2][Hierzulande fragen sich viele, warum der Papst Bischöfe wie Rainer | |
Maria Woelki, Reinhard Marx und Stefan Heße im Amt lässt,] obwohl sie im | |
Umgang mit Missbrauchsfällen versagt haben. | |
Ich weiß es auch nicht. Und wundere mich, nicht nur in Bezug auf diese | |
drei, sondern auch auf andere, die im deutschen Sprachraum weniger bekannt | |
sind. Man muss natürlich bedenken, dass bei den dreien das Niveau der | |
rechtlichen Anschuldigungen sehr unterschiedlich ist. Vor allem ist nicht | |
klar, welche Kriterien angewendet werden, warum in einem Fall jemand | |
entlassen wird und in einem anderen nicht. Was aber angepackt werden muss, | |
ist die moralische Verantwortung, die natürlich unabhängig ist von | |
Verjährungsfristen. | |
[3][Das jüngste Gutachten aus dem Bistum Freiburg attestiert dem Ex-Bischof | |
Robert Zollitsch], der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz | |
war, das „Vollbild einer Vertuschung“. Wieder fordern Betroffene, dass die | |
Politik handelt. Was muss passieren? | |
Bundespolitisch muss die Stelle der Unabhängigen Beauftragten der | |
Bundesregierung gegen sexuellen Missbrauch verstetigt und verstärkt werden. | |
Schon 2020 habe ich in Berlin für eine Wahrheits- und | |
Aufarbeitungskommission geworben. Ich glaube, dass von der Bundesebene | |
definiert werden müsste, was die Kriterien für die Aufarbeitung von | |
Missbrauch sind und wie die Beteiligung von Betroffenen aussieht. | |
Und auf Landesebene? | |
Da braucht es Anlaufstellen für Betroffene. Wie jetzt im Saarland eine | |
geschaffen wurde, wie sie in Bayern diskutiert wird. Dringend notwendig | |
ist, dass für alle Ausbildungs- und Studiengänge, in denen es um die Arbeit | |
mit Kindern und Jugendlichen geht, das Pflichtfach Kinderschutz eingeführt | |
wird. Das ist bis heute weder im Lehramtsstudium noch in der Psychologie, | |
der Medizin oder der Sozialarbeit der Fall. Ich finde das unglaublich. | |
Sie lehren Kinderschutz. Als Jesuitenpater an einer päpstlichen Uni. Können | |
denn die Frösche das Austrocknen des Teiches lehren? | |
Ich möchte hoffen, dass die Leute differenzieren können, dass sie nicht | |
alle Priester und Ordensleute über einen Kamm scheren. In der | |
Präventionsarbeit, nicht in der Aufarbeitung, hat die katholische Kirche, | |
auch in Deutschland, sehr viel gemacht. Erzwungenermaßen. Im Bereich | |
Prävention kann man sagen, dass manchmal sogar staatliche Stellen und NGOs | |
auf uns zukommen und um Rat bitten. | |
Wird die katholische Kirche also ungerecht behandelt? | |
Die katholische Kirche wird nicht ungerecht behandelt. Sie hat einen | |
höheren moralischen Anspruch verkörpert und vor sich hergetragen. Daran | |
wird sie berechtigterweise gemessen. Und wenn die Fallhöhe höher ist, dann | |
ist natürlich auch die Aufmerksamkeit höher. Aber alle Expertinnen und | |
Experten sagen, dass der größte Anteil von sexueller Gewalt im | |
Familienkontext geschieht. Das geht in der öffentlichen Debatte fast völlig | |
unter. Onlinemissbrauch ist auch nur sehr sporadisch im Blickpunkt. Und das | |
ist meines Erachtens der größte Risikofaktor für Kinder und Jugendliche | |
heute. Was wir in den letzten ein, zwei Jahren auch verstärkt mitbekommen | |
haben, ist Missbrauch in Sportvereinen, auch in anderen Arten von Vereinen. | |
Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, | |
Kerstin Claus, spricht davon, dass auch in der evangelischen Kirche noch | |
nicht genug getan ist. | |
Ich will nicht als jemand erscheinen, der mit dem Finger auf andere zeigt. | |
Aber die Protestanten sind nicht nur etwas hintendran, sondern fast 15 | |
Jahre. Sie haben sich gerne hinter den Katholiken versteckt und bauen jetzt | |
hohe Hürden auf, weil es bald auch an die Aufarbeitung und an | |
Entschädigungszahlungen von Opfern in ihren Reihen geht. | |
Im März haben Sie die Päpstliche Kommission zum Schutz von Minderjährigen | |
verlassen, die Sie vor neun Jahren mitgegründet haben. Warum? | |
Ich habe gesehen, dass die Kommission selber nicht die Prinzipien anwendet, | |
die die Kirche sich offiziell gegeben hat: Verantwortungsübernahme, | |
Rechenschaftspflicht und Transparenz. Nachdem meine Versuche, diese | |
Bedenken an die Leitung zu kommunizieren, ungehört verhallt sind, musste | |
ich die Konsequenz ziehen. | |
Worum ging es konkret? | |
Um die Neubesetzung der Kommission, die im vergangenen Jahr im Gang war. | |
Von den vier Menschen im Auswahlgremium ist einer mittlerweile selbst | |
Mitglied der Kommission, und zwei sind bei der Kommission angestellt. Das | |
widerspricht meinem Verständnis von Compliance. Es ging auch um die | |
Unklarheit, wo die Gelder herkommen für die Kommission, wie sie verwaltet | |
und wie sie auditiert werden. Wenn es diese Lücke gibt zwischen dem, was | |
kommuniziert wird, und dem, was gemacht wird, dann kann ich nicht mehr | |
mitmachen. Weil genau das ein Wurzelgrund für möglichen Missbrauch ist. | |
Wer ist verantwortlich? Der Kommissionspräsident Kardinal Seán O ’Malley | |
oder auch der Papst? | |
Zunächst sehe ich den Präsidenten der Kommission und den Sekretär der | |
Kommission, Andrew Small, in der Pflicht. Wenn das nicht klappt, dann muss | |
der Papst eingreifen. | |
O ’Malley hat sich „überrascht und enttäuscht“ gezeigt über Ihre Kriti… | |
kürzlich aber selbst von „Wachstumsschmerzen“ gesprochen und Änderungen | |
angekündigt. | |
Da wurden plötzlich alle möglichen Dokumente auf die Website der Kommission | |
gestellt, wo es um Vereinbarungen mit anderen Ministerien hier im Vatikan | |
geht. Aber wenn man sich die durchliest, ist meinem Eindruck nach alles | |
schwammig und wenig nachvollziehbar. Es bleibt bei Absichtserklärungen, bei | |
denen man nicht weiß, was das eigentliche Ziel ist und wer seine Einhaltung | |
überprüfen soll. Und die große Frage, die überhaupt noch nicht angegangen | |
ist: Wer überwacht denn die Finanzen? Es kann nicht sein, dass eine | |
Kommission sich selber überwacht. | |
Der Präsident der Kommission ist auch Erzbischof von Boston. Sind diese | |
Ämter überhaupt vereinbar? | |
Sie wären vereinbar, wenn der Präsident oft in Rom wäre, wenn er die Zeit | |
hätte oder sich nähme, an den Dingen dranzubleiben. Und wenn er bereit | |
wäre, in den Ring zu steigen. Denn natürlich ist es ein Feld, das hier im | |
Vatikan auch Widerstand findet, so wie überall. Seit der Verfassungsreform | |
des Vatikans im vergangenen Jahr untersteht die Kommission dem | |
Glaubensdikasterium. | |
Die Kommission ist jetzt also Teil eines vatikanischen Ministeriums. Sie | |
befürchten, dass sie dort untergeht. | |
Ich bin überzeugt, dass das nicht gut zusammenpasst. Nachdem es jetzt aber | |
so ist, braucht man jemanden, der auch stark in Konflikte geht. Und das | |
macht Kardinal O’Malley nicht. | |
Papst Franziskus ist seit 10 Jahren im Amt. Ihre Bilanz, was die | |
Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch angeht? | |
Wenn es um die Empathie, um die Herzlichkeit und die Nähe zu Menschen geht, | |
denen Leid widerfährt, ist er wirklich ganz glaubwürdig. Das habe ich | |
selber erlebt, das hat er vor einigen Tagen wieder gezeigt, als Betroffene | |
von Missbrauch aus München hier waren. Er ist jemand, der das Thema | |
wachgehalten hat, der im rechtlichen Bereich mehr Verschärfungen eingeführt | |
hat als alle seine Vorgänger zusammen. Aber man muss auch sagen: Er hat es | |
leider nicht zu der Priorität Nummer eins seines Pontifikats gemacht. Für | |
ihn stehen die Armutsbekämpfung, die Migration und Ökologie ganz oben. | |
Missbrauch spielt eine wichtige Rolle, aber halt nicht die wichtigste. Was | |
ich sehr bedauere, weil ich glaube, dass das ein Thema sein wird, mit dem | |
sich die Weltkirche noch viele Jahre und Jahrzehnte auseinandersetzen wird. | |
28 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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