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# taz.de -- Provenienzforschung in Göttingen: Alten Knochen auf der Spur
> Die Uni Göttingen erforscht die Herkunft von Gebeinen aus ihrer Sammlung.
> Einige könnten aus Kolonien stammen, eine Rückgabe ist unwahrscheinlich.
Bild: Bei diesem Schädel ist bekannt, dass er bei Ausgrabungen in Kalkriese ge…
Göttingen taz | „Das hier ist definitiv Südsee“, sagt Birgit Großkopf. D…
promovierte Göttinger Anthropologin muss sich strecken, um aus dem
obersten Regalfach einen Pappkarton zu fischen. Auf die Schachtel hat
jemand mit Filzstift die Ziffern 653/08 geschrieben. Großkopf öffnet den
Karton und hebt einen Schädel heraus. Der Unterkiefer ist abgebrochen, die
Wissenschaftlerin schiebt ihn mit ein paar Handgriffen wieder an die
richtige Stelle.
„Sehen Sie, hier steht es: Neu-Mecklenburg.“ Großkopf zeigt auf einen
vergilbten Zettel, der unter dem Schädel auf dem Boden der Schachtel
gelegen hat. Neu-Mecklenburg war der deutsche Name für die Insel Niu Allen
in Papua-Neuguinea. Von 1885 bis 1918 war sie deutsche Kolonie, zunächst
als Teil des „Schutzgebietes“ der Neuguinea-Kompagnie, ab 1899 des
kaiserlich-deutschen Schutzgebietes Deutsch-Neuguinea.
Der Schädel, das kann Großkopf anhand der Zahnreste erklären, stammt von
einem 20 bis 40 Jahre alten Mann. Aber wann er lebte, wie er starb und ob
er von deutschen Kolonisten oder den Teilnehmern einer der deutschen
Südsee-Expeditionen geraubt wurde, weiß Großkopf noch nicht. Sie zuckt mit
den Schultern. „Aber wir wollen versuchen, es herauszufinden.“
Und zwar im Rahmen eines groß angelegten Projektes, mit dem die Göttinger
Universität die Herkunft der in ihrem Besitz befindlichen menschlichen
Schädel und anderen Knochen erforschen will. Die Volkswagenstiftung fördert
das Vorhaben mit dem etwas sperrigen Namen „Sensible Provenienzen.
Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten in den Sammlungen der
Universität Göttingen“ drei Jahre lang mit insgesamt rund einer Million
Euro.
## 1.200 Schädel, dazu Skelette und Mumien
Die meisten Exponate bewahrt die Hochschule in der Sammlung der
Historischen Anthropologie auf. In dem wuchtigen, vom Verfall bedrohten Bau
am Rand der Innenstadt lagern an die 1.200 menschliche Schädel, außerdem
Skelette und Mumien. Die meisten Schädel wurden der Uni in den 1950er
Jahren vom Hamburger Völkerkundemuseum überlassen, erzählt Großkopf. Die
Lieferungen erfolgten fast ohne weitere Information, beigefügte
Karteikarten enthielten oft gerade mal ein Schlagwort und eine
Registriernummer.
„Wir gehen davon aus, dass viele Schädel von Hamburger Friedhöfen und von
Ausgrabungen aus Tirol stammen“, sagt Großkopfs Kollegin Susanne Hummel.
„Und dass ein kleinerer Teil aus außereuropäischer Provenienz stammt.“
Außereuropäische Provenienz, das meint in diesem Fall: Wahrscheinlich aus
deutschen Kolonien. Das Völkerkundemuseum selbst hatte 1910 eine große
Südsee-Expedition unternommen. Andere Schädel könnten aus dem damaligen
Deutsch-Ostafrika – das Gebiet umfasste die heutigen Staaten Tansania,
Ruanda und Burundi – über Hamburg nach Göttingen gelangt sein. Es sei
möglich, so Hummel, „dass die Schädel den Ureinwohnern geraubt wurden oder
dass sie Tauschobjekte waren.“
Die Anthropologische Sammlung umfasst außer den Schädeln ein Dutzend
Skelettserien verschiedener Epochen von der Neuzeit bis in die jüngere
Bronzezeit mit mehr als 2.000 Individuen. 800 weitere Skelette entstammen
einem Pestmassengrab des Hochmittelalters. Mit den Knochen aus der
niedersächsischen Lichtensteinhöhle liegen die genetisch typisierten
Skelette eines 60 Personen umfassenden Familienclans einer Höhlenbestattung
aus der Bronzezeit vor. In der Göttinger Anatomie befindet sich zudem die
Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Mediziner Johann Friedrich Blumenbach
angelegte Sammlung mit etwa 830 Schädeln.
Marie Luise Allemeyer ist die Chefin der universitären Sammlungen und
Museen in Göttingen. Sie erläutert, wie die am Projekt beteiligten
Forscherinnen und Forscher zunächst vorgehen wollen. Zum einen würden alte
Expeditionsberichte und andere Quellen ausgewertet, zum anderen sollen
Kontakte zu Gemeinschaften und sogenannten Chiefs in Ozenanien aufgebaut
und intensiviert werden. Die weiteren Untersuchungen würden dann in enger
Zusammenarbeit mit Forschern aus den mutmaßlichen Herkunftsländern
abgestimmt.
Der Verständigungsprozess mit den Gemeinschaften in Ozeanien, sagt
Allemeyer, „das ist das Wichtigste bei unserem Projekt. Indem wir die
Gemeinschaften zu einem möglichst frühen Zeitpunkt einbinden, können wir
eine Diskussionsplattform eröffnen sowie Ziele und Methoden des
Forschungsvorhabens gemeinsam festlegen.“ Und sie ergänzt: „Wir müssen
selbst dahin.“ Die Uni hat deshalb bereits ein dreijähriges
Promotions-Stipendium für einen Nachwuchswissenschaftler oder eine
-wissenschaftlerin aus Ozeanien ausgeschrieben. Zudem werden fünf bis sechs
Kurzzeit-Stipendien vergeben, die Stipendiaten sollen zumindest einen Teil
ihrer Studien ebenfalls vor Ort betreiben.
Die Frage, ob die Schädel gegebenenfalls auch denen zurückgegeben werden,
denen sie einst gehörten, halten die Wissenschaftlerinnen dagegen für nicht
so dringlich. „In Ozeanien geht man unterschiedlich damit um“, weiß
Anthropologin Hummel. „Einige Gemeinschaften wollen sie zurück, andere
nicht.“ Dass eine mögliche Rückgabe nicht das vorrangige Ziel ist,
unterscheidet das Göttinger Projekt von anderen Vorhaben in der
Provenienzforschung: Bei von den Nationalsozialisten geraubten
Kulturgütern etwa spielt die Restitution, also die Rückerstattung
gestohlener, enteigneter, erpresster oder zwangsverkaufter Kulturgüter an
die legitimen Voreigentümer oder deren Erben eine große Rolle.
Eine individuelle Zuordnung der Schädel zu einer bestimmten Familie wird im
Rahmen des Projekts ohnehin nicht möglich sein. Die von der Universität
beantragte Untersuchung mittels einer DNA-Analyse wurde vom
Gutachtergremium der Volkswagenstiftung abgelehnt. „Das Gremium hat
argumentiert, das sei nicht zielfördernd“, sagt Hummel. „Für unser Vorhab…
ist das ein Wermutstropfen.“
Neben den Schädeln und Gebeinen wird auch das Forschungsvorhaben selbst
einem wissenschaftlichen Check unterzogen. Ein Team um die in Göttingen
lehrende Kulturanthropologin und Ethnologin Regina Bendix soll den Prozess
beobachten. Dabei, so Allemeyer, gehe es um Fragen wie: „Wie und wo finden
die Gespräche statt? Wo gibt es Konflikte?“ Auch wissenschaftsethische
Fragen wie der Umgang mit und die Präsentation von menschlichen Überresten
sollen zur Sprache kommen.
5 Mar 2020
## AUTOREN
Reimar Paul
## TAGS
Provenienzforschung
Universität Göttingen
Museum für Völkerkunde
Deutscher Kolonialismus
Restitution
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Ethnologie
Provenienzforschung
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