# taz.de -- Protokolle zur Iran-Revolution: Schlafen mit Handy unterm Kissen | |
> Im Exil oder vor Ort, aktiv oder passiv – Frauen erzählen, wie sie die | |
> Revolution in Iran aktuell erleben. Fünf persönliche Protokolle. | |
Bild: Weltweiter Protest, wie hier in Berlin: das Abschneiden der Haare wurde z… | |
## „Krieg, kein Straßenkampf“: Jina Amiri schloss sich den Protesten in der | |
Stadt Rascht im Nordwesten des Irans an | |
Ich komme aus Bandar Anzali, einer kleinen Stadt in Nordiran. Und ich bin | |
lesbisch. Als ich die Aufrufe in den sozialen Medien las, habe ich mich den | |
Protesten in der Stadt Rascht angeschlossen. Gleich am ersten Tag haben die | |
iranischen Streitkräfte versucht, die Proteste aufzulösen. Sie haben | |
Tränengas verwendet – wie immer. Die Proteste wurden an einem Ort von den | |
Milizen aufgelöst und an einem anderen Ort wieder begonnen. | |
Am zweiten Tag der Proteste waren wir wieder auf der Straße. Schon damals | |
konnte man sehen, dass die Proteste größer und radikaler werden. Auf dem | |
berühmten Platz der Jugend in Rascht, genannt „Sabzeh Meydan“, hatten | |
Jugendliche einen Stuhl aus Holz zerschlagen und zerteilt, um sich mit den | |
Holzstücken zu verteidigen. Ich habe mich ihnen angeschlossen, und wir | |
haben es geschafft, die Milizen ein wenig zurückzudrängen. Ich war erst | |
froh – doch dann sah ich, dass ein Polizeiauto von der anderen Seite kommt. | |
Ein anderes Mal habe ich erlebt, wie Milizionäre mit schweren Waffen auf | |
Motorrädern in die Menge gefahren sind. Das war kein Straßenkampf mehr, | |
sondern ein Krieg. [1][Die Proteste werden immer radikaler, die Angriffe | |
der Milizen auch.] Inzwischen wurde ein Freund von mir ermordet. Ich konnte | |
mich kaum bewegen, als ich die Nachricht bekommen habe. Vor ein paar Tagen | |
haben wir seinen 40. Todestag begangen. Sie können uns nicht mehr zum | |
Schweigen bringen. | |
Jina Amiri heißt anders. Aus Sorge um ihre Sicherheit möchte sie anonym | |
bleiben. | |
Protokoll: Mina Khani | |
## „Handy unter dem Kissen“: Noushin Shahgaldi beteiligt sich von | |
Deutschland aus an der Revolution | |
Den Aufstand in Iran erlebe ich in Hannover. Geboren bin ich in Mashhad, im | |
Nordosten des Landes. Mich beunruhigen die Nachrichten aus Iran so sehr, | |
dass ich kaum schlafen kann. Früher habe ich mein Handy ausgemacht, bevor | |
ich ins Bett gegangen bin. Jetzt schlafe ich mit dem Handy unter dem | |
Kissen, keine Nachricht will ich verpassen. | |
In den sozialen Medien bin ich ständig unterwegs und verfolge alles, was in | |
Iran passiert. Den Zwangshidschab musste auch ich in Iran tragen. Ich habe | |
es gehasst. Auch die Angst vor der Sittenpolizei kenne ich. Ich würde so | |
gerne hinreisen! Ich habe einen 25-jährigen Sohn, der auch in Deutschland | |
lebt. Wenn ich nur ein paar Stunden nichts von ihm höre, werde ich panisch. | |
Ich weiß nicht, was die Mütter der Ermordeten in Iran gerade durchmachen. | |
Ich bin wegen häuslicher Gewalt – und weil die Gesetze in Iran uns Frauen | |
eher kriminalisieren als in Schutz zu nehmen – nach Deutschland geflüchtet. | |
Von hier aus tue ich alles, was in meiner Macht steht. Ich unterschreibe | |
Petitionen, nehme an allen Demonstrationen teil, etwa an der Großdemo in | |
Berlin am 22. Oktober. | |
Wer sagt, dass wir in Iran [2][keine politischen Alternativen zum Regime | |
haben], irrt sich. Es gibt unzählige Menschen in und außerhalb des Landes, | |
vor allem aber in den iranischen Gefängnissen, die das Land wieder aufbauen | |
könnten. Sepideh Gholian, Hamed Esmaelion, Shirin Ebadi, und Hossein | |
Ronaghi sind nur einige Beispiele. Alles, was ich will, ist, ein freies | |
Iran zu erleben. | |
Protokoll: Mina Khani | |
## „Kurdistan ist nicht allein“: Arezou Arefi schämt sich für das Regime | |
und ist stolz auf die Proteste | |
Ich bin in Sanandaj aufgewachsen, der größten kurdischen Stadt in Iran. Die | |
Nachricht, dass Jina Mahsa Amini getötet wurde, sah ich, während ich bei | |
der Arbeit war. Ich habe mich schrecklich gefühlt: Stell dir vor, du bist | |
eine Frau in Iran, eine Kurdin. Du besuchst eine fremde Stadt und die | |
Regierung und ihre Schergen töten dich, weil sie dein Kopftuch für nicht | |
bedeckend genug halten. Ich schämte mich, meinen Arbeitskolleg:innen zu | |
erzählen, dass in meinem Heimatland eine Frau wegen ihres Kopftuchs getötet | |
wurde – dass mein Land Menschen so behandelt. | |
Als die Demonstrationen in Iran begannen, änderte sich dieses Gefühl. Viele | |
Jahre habe ich mir den Umsturz der Islamischen Republik gewünscht: dass in | |
Iran demokratische Gesetze gelten. Dass Männer und Frauen gleiche Rechte | |
bekommen. Dass sie Meinungsfreiheit genießen dürfen. Dass Frauen ihre | |
Kleidung selbst aussuchen dürfen. Dass sie nicht wie Menschen zweiter | |
Klasse behandelt werden. | |
Nun haben sich Menschen in ganz Iran zusammengeschlossen, um gegen das | |
Regime zu kämpfen. [3][Meine Heimat Kurdistan] hat im Laufe der Zeit so | |
viele Opfer gebracht in diesem Kampf, viele Kurd:innen wurden getötet. | |
Jetzt ist Kurdistan endlich nicht mehr alleine. Ich wäre sehr gerne dort, | |
um mit den Protestierenden in meiner Heimat auf die Straße zu gehen. Aber | |
da ich in Deutschland im Exil lebe, tue ich hier, was ich kann: Ich gehe zu | |
den Demonstrationen und versuche, die Stimme der Menschen meiner Heimat zu | |
sein. | |
Protokoll: Negin Behkam | |
## „Zwei Söhne verloren“: Talat Imani lebt in Jerusalem und möchte noch | |
einmal ihre alte Heimat sehen | |
Im Jahr 1985 konnte ich [4][endlich nach Israel ausreisen]. Sechs Jahre | |
lang musste ich bis dahin unter dem Druck des Regimes von Ruhollah Chomeini | |
leben. Ich hatte einen Reisepass, trotzdem versuchten sie lange, meine | |
Ausreise zu verhindern. Ich hatte das Gefühl, dass sie nach einem Grund | |
suchten, mich zu verhaften. Zum Schluss warfen sie mir vor, eine Agentin | |
Israels zu sein. Mein Mann musste schließlich ein Dokument unterschreiben, | |
das versicherte, dass ich nach Iran zurückkommen würde – was ich nicht | |
getan habe. | |
Ich liebe Israel, aber in Iran bin ich geboren und aufgewachsen, ich habe | |
viele Erinnerungen an das Land. Ich war glücklich dort. Ich möchte so gerne | |
noch einmal zurückkehren, obwohl ich dort keine Familienangehörigen mehr | |
und kaum noch Bekannte habe. Ich habe zwei meiner Söhne wegen des Regimes | |
und seiner Verbündeten verloren, einen davon im Krieg gegen Libanon. Hätte | |
ich Iran nicht verlassen müssen, wäre mein Sohn nicht zur israelischen | |
Armee gegangen und wäre nicht in diesem Krieg getötet worden. Den zweiten | |
Sohn habe ich bei einem Terroranschlag verloren. | |
Ich hoffe, dass der Schah zurückkommt und die Islamische Republik fällt. | |
Ich fühle mit den Muslimen in Iran, sie werden ebenfalls unterdrückt. Ich | |
fühle auch mit den Anhängern des Bahai-Glaubens, die nach der Revolution in | |
großer Zahl ermordet wurden. Ich wünsche mir, dass es Konsequenzen hat, | |
wenn das Regime Jugendliche ermordet. Ich wünsche mir, dass wir eines Tages | |
alle frei sind. | |
Protokoll: Mina Khani, Lisa Schneider | |
## „Gleichheit, Freiheit“: Tamana Paryani protestierte in Afghanistan gegen | |
die Taliban und fühlt mit den Iranerinnen | |
Mit jeder Zelle meines Körpers fühle ich mit Frauen in Iran und ihrem | |
Kampf. Den Weg, den die revolutionären iranischen Frauen seit September | |
gewählt haben, bin auch ich gegangen. Als die Taliban die Macht in meiner | |
Heimat übernahmen, initiierte ich das Afghanistan Women’s Civil Rights | |
Movement, um mich mit anderen Frauen im Land zu verbünden und für unsere | |
Rechte zu kämpfen. Ich gründete eine WhatsApp-Gruppe und lud die Frauen | |
ein, die zu dieser Zeit noch in Kabul waren. Gemeinsam wollten wir uns | |
gegen die Gesetze der Taliban, die Frauen unterdrücken, stellen. | |
Am 7. September 2021 organisierten wir unsere erste Demonstration auf der | |
Straße. Wir zogen in Richtung Zitadelle von Kabul, als wir auf | |
Taliban-Soldaten trafen. Sie schossen auf uns und schlugen uns, um uns zu | |
verängstigen, uns zu zerstreuen. Es war schrecklich. An diesem Tag wurden | |
viele Menschen verletzt, gefangen genommen und für Wochen ins Gefängnis | |
gesteckt. Aber wir riefen weiter: „Menschlichkeit, Gleichheit, Freiheit!“ | |
Unseren Protest gegen den Kopftuchzwang und andere frauenfeindliche Gesetze | |
der Taliban konnten sie nicht brechen. | |
Am 19. Januar 2022, um Mitternacht, kamen die Taliban zu uns nach Hause, | |
verhafteten mich und meine Schwester. Nach unserer Festnahme gab es keine | |
Proteste mehr, alle waren verängstigt. Die Taliban hatten erreicht, was sie | |
wollten. Im Gefängnis folterten sie mich. Meine Familie bettelte um unsere | |
Freilassung. Nach 26 schrecklichen und dunklen Tagen ließen sie uns gehen, | |
aber wir wurden unter Hausarrest gestellt. Doch unser Protest wird | |
weitergehen. [5][Die Frauen in Afghanistan] und in Iran haben einen | |
gemeinsamen Kampf – und das ist der für Freiheit. | |
Protokoll: Parwana Rahmani | |
16 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Mina Khani | |
Negin Behkam | |
Lisa Schneider | |
Parwana Rahmani | |
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