# taz.de -- Proteste in der Türkei: „Erdoğan, tritt zurück!“ | |
> Die Proteste gegen den türkischen Präsidenten reißen trotz harter | |
> Repressionen nicht ab. Auch Konservative gehen jetzt auf die Straße. | |
Bild: Die Proteste in der Türkei reißen nicht ab, Istanbul, 25. März 2025 | |
Istanbul taz | Die vier Männer, die dicht gedrängt inmitten der | |
DemonstrantInnen vor dem Rathaus von Istanbul stehen, haben die Nase voll. | |
„Fast 25 Jahre sind wirklich genug. Es muss jemand anderes an die | |
Regierung.“ Die vier sprechen offen aus, was viele über den türkischen | |
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und sein Vorgehen gegen den wichtigsten | |
Oppositionspolitiker denken. „Es geht nicht nur um İmamoğlu, es geht um | |
unsere Zukunft“, sagt einer der jungen Männer. Vor eineinhalb Jahren habe | |
er einen Abschluss in BWL gemacht, doch einen Job habe er immer noch nicht | |
gefunden. „Wir haben keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive in Erdoğans | |
Türkei.“ | |
Die Protestierenden in der Türkei haben Angst vor staatlichen Repressionen, | |
aber diese Angst hält sie nicht mehr zurück. Der Frust über die | |
Inhaftierung des populären Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu | |
treibt seit über einer Woche Zehntausende im ganzen Land auf die Straße. | |
„Etliche meiner Freunde sind schon ins Ausland gegangen“, sagt einer der | |
vier Männer in Istanbul. „Aber ich will, dass wir hier, in unserem eigenen | |
Land, eine Chance haben.“ | |
Es sind nicht nur Anhänger von İmamoğlus Partei CHP, die sich den Protesten | |
anschließen. Das Spektrum reicht von linksradikalen Gruppen bis zu | |
Jugendlichen, die das Wolfszeichen der Nationalisten zeigen. Doch in einem | |
sind sich alle einig. Sie fordern: „Erdoğan istifa“ – Erdoğan, tritt | |
zurück. | |
Unabhängig von den von der CHP organisierten Protesten vor dem Rathaus im | |
Istanbuler Stadtteil Saraçhane haben die StudentInnen ihr eigenes Programm. | |
Am Dienstagabend, während der in Saraçhane umjubelte CHP-Vorsitzende Özgür | |
Özel seine Rede vor dem Rathaus hält, ziehen sie zu Zehntausenden durch den | |
Stadtbezirk Şişli. | |
## Porträts entfernt | |
Hier hat die Regierung nach der Verhaftung des CHP-Bezirksbürgermeisters | |
einen staatlichen Zwangsverwalter eingesetzt. Der hat erst einmal alle | |
Porträts von İmamoğlu und andere Protestplakate entfernen lassen und | |
anschließend verkündet, dass die sogenannten Kent Lokantası geschlossen | |
werden – von der Stadtverwaltung İmamoğlus subventionierte Restaurants mit | |
sehr günstigem Essen. Aus dem Gefängnis heraus rief İmamoğlu daraufhin zu | |
Spenden für Bedürftige in Şişli auf. Schon nach wenigen Stunden waren fast | |
eine Million Lira zusammengekommen, umgerechnet rund 25.000 Euro. | |
Täglich wechseln die Istanbuler StudentInnen jetzt ihre Protestorte, um die | |
Polizei zu verwirren. Denn die Repressionen sind hart. Gruppen von | |
Studierenden werden eingekesselt, geschlagen und gezwungen, ihre Masken | |
abzunehmen. Wer nicht festgenommen wird, riskiert die Exmatrikulation. | |
Trotz der Besetzung der Unis durch Gefolgsleute Erdoğans setzen sich einige | |
DozentInnen weiterhin für die freie Lehre und ein freies Leben ein. Mit dem | |
Risiko, ihre Jobs zu verlieren. | |
Auch abseits der großen Plätze gibt es Protest. In einem Stadtteil von | |
Kadıköy versammeln sich, wie in vielen anderen Nachbarschaften auch, immer | |
um 20.30 Uhr kleine Gruppen, die Töpfe schlagend und Parolen rufend durch | |
die Straßen ziehen. Eine ältere Dame, in Deutschland wäre sie wohl eine der | |
Omas gegen rechts, mahnt die Gruppe in Kadıköy, auch am nächsten Abend | |
wieder zusammenzukommen. „Wir dürfen nicht nachlassen“, sagt sie. | |
„Wir brauchen wirklich einen langen Atem.“ Frauen fürchten am meisten um | |
ihre Rechte. „Wir wollen nicht, dass Erdoğan noch auf den letzten Metern | |
sein islamisch-faschistisches System durchdrückt“, sagt die Dame. „Die | |
Türkei ist seit 1923 eine säkulare Republik und muss es bleiben.“ Andere | |
treibt vor allem die zunehmende Willkür an. „Ohne Gerechtigkeit ist alles | |
nichts“, sagt eine jüngere Frau. „Wenn sie İmamoğlu so behandeln können, | |
können sie auch uns alles wegnehmen. Berufsabschlüsse, Häuser, was sie | |
wollen.“ | |
Als Reaktion auf die Proteste hat Erdoğan die Ferien auf neun Tage | |
verlängert. Eine Studentin sagt: „Die Regierung denkt, je länger die Ferien | |
sind, desto länger verreisen die Leute. Ich hoffe dennoch, dass sie auf die | |
Straßen strömen.“ | |
Derzeit sind die Proteste in Istanbul am größten, doch auch in Städten wie | |
Rize, Konya und Diyarbakır gibt es Demos. Und in der Hauptstadt Ankara. | |
Videos in den sozialen Medien zeigen Studierende der Orta Doğu Teknik | |
Üniversitesi, die von der Polizei auf dem Campus eingekesselt werden. Auf | |
dem Plakat, das ein Student in die Luft hält, steht: „Räum schon mal deinen | |
Palast, wir kommen“. Mit Wasserwerfern und Gummigeschossen schießt die | |
Polizei auf die Studierenden. Diese wiederum rufen den BeamtInnen in Bezug | |
auf die vielen Femizide im Land zu: „Wo wart ihr, als jeden Tag eine Frau | |
starb?“ | |
Präsident Erdoğan spricht derweil von „Straßenterror“ und wirft der | |
Opposition vor, die Wirtschaft des Landes zu schädigen. „Diese Art von | |
Aktionen wird vor Gericht verhandelt werden.“ Bislang wurden 1.879 Menschen | |
festgenommen, 260 inhaftiert. Am 27. März wurde bekannt, dass auch | |
[1][İmamoğlus Anwalt festgenommen wurde]. Die Regierung plant, noch 2025 | |
mit dem Bau von 11 neuen Haftanstalten zu beginnen. | |
Die Rundfunkaufsichtsbehörde hat unterdessen gegen mehrere oppositionelle | |
Fernsehsender Strafen verhängt. Sözcü TV etwa wurde mit einer zehn Tage | |
langen Bildschirmabschaltung bestraft. Die Sender Halk TV, Tele 1 und NOW | |
bekamen Geldstrafen. | |
## Zorn auf Erdoğan | |
Wie verbreitet der Zorn auf Erdoğan mittlerweile ist, konnte man bei der | |
Wahl des inhaftierten İmamoğlu zum Spitzenkandidaten der CHP sehen. In den | |
langen Schlangen vor den Wahllokalen im ganzen Land war die große Mehrheit | |
der Wartenden nicht Mitglied der Partei. 1,5 Millionen Mitglieder hat die | |
CHP, doch 15 Millionen Menschen kamen zu der symbolischen Abstimmung. | |
Hier, wo man nicht fürchten musste, mit Reizgas oder Wasserwerfern | |
beschossen zu werden, stellten sich auch viele ältere Menschen in die | |
Schlange, vereinzelt auch Frauen mit Kopftuch. Etliche frühere | |
Erdoğan-WählerInnen wollten bei der nächsten Wahl für İmamoğlu stimmen, �… | |
die Demokratie zu retten“, wie ein alter Herr vor einem Istanbuler | |
Wahllokal sagte. | |
Das renommierte Umfrageinstitut Konda veröffentlichte am 27. März das | |
Ergebnis einer aktuellen Umfrage, laut der 72 Prozent aller TürkInnen | |
[2][die Proteste unterstützen], solange sie friedlich sind. | |
Für den 29. März hat die CHP erneut zu einer Großdemonstration in Istanbul | |
aufgerufen. Der Druck auf die Regierung soll so lange erhöht werden, „bis | |
İmamoğlu freikommt und Erdoğan vorgezogenen Neuwahlen zustimmt“, wie | |
CHP-Chef Özgür Özel sagte. | |
28 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
Dilan Gündogan | |
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