# taz.de -- Proteste in Beirut: „Samstag der Rache“ | |
> Nach Massenprotesten in Beirut schlägt Libanons Ministerpräsident Diab | |
> Neuwahlen vor. Bis der Modus dafür klar ist, will er im Amt bleiben. | |
Bild: Beirut am Samstag: Mit Unmengen Tränengas bekämpft die Polizei die Prot… | |
BEIRUT taz | Aus Holz und Stricken haben die Protestierenden | |
Henkerschlingen gebastelt und auf den Märtyrerplatz in der Beiruter | |
Innenstadt gestellt. Eine junge Frau hält ein Schild mit der Aufschrift | |
„Unsere Regierung tötet“ in die Höhe. Tausende Libanes*innen [1][forderten | |
am Samstagmittag] den „Niedergang des Regimes“ und Gerechtigkeit für die | |
Opfer der Explosion. | |
Am 4. August explodierten 2.750 Tonnen [2][Ammoniumnitrat] in einem | |
Lagerhaus am Hafen in Beirut. 150 Menschen wurden getötet, über 6.000 | |
verletzt, rund 250.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Der Stoff verblieb | |
nach bisheriger Erkenntnis sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen in | |
dem Lagerhaus, obwohl dessen Gefahr für die Stadt der politischen Elite | |
bekannt war. | |
Aus Wut und Zorn über die Unfähigkeit der Politiker, die Menschen vor dem | |
Unglück zu bewahren, besetzten die Protestierenden Ministeriumsgebäude und | |
legten Feuer am Sitz des Bankenverbands. Ein Polizist kam ums Leben, als er | |
in einem Hotel festsitzenden Menschen half und dann von einer Menschenmenge | |
angegriffen wurde und tödlich gestürzt sei, erklärte die libanesische | |
Polizei. Über 700 Menschen wurden verletzt, teilten das Rote Kreuz und der | |
Islamische Hilfskorps mit. Die Polizei setzte Tränengas auf dem gesamten | |
Platz ein, Aktivist*innen filmten, wie das Militär mit Stöcken auf | |
Protestierende einschlug. | |
Die Menschen, die nun [3][Schippen und Schaufeln in die Hand nehmen], um | |
die Straßen und Wohnungen aufzuräumen, sind wütend auf die Regierung, deren | |
Militär und Polizei untätig danebenstehen. Viele hatten noch Besen in der | |
Hand, als sie auf dem zentralen Platz in Beiruts Innenstadt ihre Politiker | |
für die Katastrophe verantwortlich machten. | |
## Zentrale Forderung: Änderung des Wahlrechts | |
Elena Saade steht mit weißem Kittel auf dem Märtyrerplatz. Die 25-Jährige | |
arbeitet als Anästhesistin im Krankenhaus und hätte eigentlich Dienst | |
gehabt. „Mein Chef hat gesagt: Die Patienten brauchen dich jetzt [auf der | |
Straße], nicht hier“, erzählt sie, während ihr Tränengas in die Augen | |
steigt. „Was wir am 4. August in den Krankenhäusern erlebt haben, hat uns | |
allen zu verstehen gegeben, wie wichtig es ist, auf die Straße zu gehen“, | |
sagt sie, bevor das Interview aufgrund des vielen Tränengases abgebrochen | |
werden muss. | |
Die Demonstrierenden sehen ihre Anstrengungen als Fortführung der | |
[4][Massenproteste], die am 17. Oktober 2019 begonnen hatten. Bereits | |
damals verlangten die Menschen den Rücktritt ihrer Regierung, deren | |
Korruption und Misswirtschaft das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise | |
gebracht habe. | |
Auch wenn am 29. Oktober der ehemalige Regierungschef [5][Saad Hariri und | |
sein Kabinett zurückgetreten] sind: Viele Libanes*innen sind unzufrieden | |
mit seinem Nachfolger Hassan Diab. Dessen Kabinett besteht zwar aus | |
Technokrat*innen, ist jedoch mit der alten Elite verbandelt und wird vor | |
allem von der iran-nahen schiitischen Hisbollah und ihren Verbündeten | |
unterstützt. | |
Eine wichtige Forderung der Revolutionsbewegung bleiben unabhängige | |
Neuwahlen und eine Änderung des komplizierten Wahlrechts. Dieses verteilt | |
die Sitze im Parlament nach Proporz, jede konfessionell geprägte Partei | |
bekommt einen bestimmten Anteil. Das soll Stabilität und Frieden in dem | |
Land gewähren, in dem 18 anerkannte Religionsgemeinschaften leben. Es | |
führte aber auch zu einem klientelistischen System. | |
„Manche Menschen unterstützen ihre Parteien noch, weil sie hungrig sind. | |
Sie werden [für Wahlen] gekauft, mit 10, 15 US-Dollar“, sagt die 24-jährige | |
Marwa, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. „Aber glaub mir, die | |
meisten haben es so satt. Unsere Herzen bluten, sie nehmen alles von uns, | |
sogar unsere Leben.“ | |
Als Reaktion auf den Protest sagte Regierungschef Diab, er schlage dem | |
Parlament am Montag Neuwahlen vor. Diab gab den politischen Parteien zwei | |
Monate, um sich über die nächsten Schritte einig zu werden und Reformen zu | |
verabschieden, die das Land aus der Wirtschaftskrise bringen sollen. In | |
dieser Zeit wolle im Amt bleiben. | |
9 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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