# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Frankreich: Die Angst vor Le Pen | |
> Viele Migrant:innen fürchten einen Sieg der rechtsextremen Kandidatin. | |
> Sie sind keine Macron-Fans, kämpfen aber „lieber gegen Demokraten als | |
> gegen eine Faschistin“. | |
Bild: Demonstration gegen Rassismus am 19. März in Paris | |
Die Slogans an den Plakatwänden in Paris unterscheiden sich beim ersten | |
Lesen kaum. „Nous tous“ – „Wir alle“ steht auf dem Bild des Amtsinhab… | |
Emmanuel Macron. „Pour tous les Français“ – „Für alle Franzosen“ he… | |
auf jenen der rechtsextremen Herausforderin Marine Le Pen. Für Menschen wie | |
Bchira Ben Nia ein bedeutender Unterschied. | |
2015, mit Anfang 30, kam die Historikerin für eine Doktorarbeit aus | |
Tunesien nach Frankreich, lebte danach jahrelang ohne Aufenthaltserlaubnis. | |
Vier Tage vor der Wahl sitzt sie in einem Café am Pariser Place de la | |
Nation, gerade endete ihre Schicht als häusliche Altenpflegerin in einem | |
Vorort. Hunderttausende „Sans Papiers“ – Menschen ohne in Frankreich | |
gültige Aufenthaltsdokumente – arbeiten in solchen Tätigkeiten. Ohne sie | |
würde das Land nicht funktionieren. | |
Besonders schlimm traf die Sans Papiers die Coronapandemie. Viele verloren | |
ihre prekären Jobs. „Und im Lockdown konnten wir nicht mal ohne Angst Brot | |
kaufen“, sagt Ben Nia. Denn wer seine Wohnung verließ, musste mit einer | |
Ausweiskontrolle rechnen. | |
Erst vernetzten sich die Sans Papiers auf Facebook, ab Mai 2020 gingen sie | |
auf die Straße. „Wir mussten die Stille durchbrechen.“ Mitten im Lockdown | |
demonstrierten sie in der Pariser Innenstadt für ein Aufenthaltsrecht, | |
zunächst mit einigen Tausend, dann mit Zehntausenden. Die Polizei beschoss | |
sie mit Tränengas, die Repression sei „extrem gewalttätig“ gewesen, „das | |
war ja bei den Gelbwesten schon so“, sagt Ben Nia. Im Oktober 2020 | |
organisierten die Sans Papiers einen Sternmarsch aus der ganzen Republik | |
zum Élysée-Palast. „Aber Macron hat uns nicht empfangen.“ | |
Aus diesen Protesten ging nun, vor der Wahl, das Bündnis Antirassismus und | |
Solidarität hervor. Hunderte NGOs haben sich darin im Kampf gegen Marine Le | |
Pen zusammengetan. Ben Nia ist eine der Sprecherinnen. In den Wochen vor | |
der Wahl gehen sie in ganz Frankreich auf die Straße. Ihr Motto: „Nein zur | |
extremen Rechten, für Gerechtigkeit und Gleichheit.“ [1][Einen Wahlaufruf | |
pro Macron gibt es von dem Bündnis nicht]. „Aber natürlich ist es besser, | |
Widerstand gegen einen Demokraten zu leisten als gegen eine Faschistin“, | |
sagt Ben Nia. Und natürlich würden sich die Französ:innen in dem | |
Netzwerk „alle genau überlegen, was sie am Sonntag tun“. | |
## „Es ist vor allem die Sprache“ | |
Es sei vor allem die Sprache, die die Kandidat:innen unterscheide. Der | |
Hass, der aus der Kampagne von Le Pen gegen Menschen wie sie zu hören war, | |
setzt Bchira Ben Nia zu. „Wenn einem solcher Rassismus entgegen schlägt – | |
davon kann man sich nicht einfach emotional distanzieren.“ Die Sans Papiers | |
haben seit Jahrzehnten dafür gekämpft, so genannt zu werden. „Macron | |
benutzt den Begriff, für Le Pen sind wir nur Illegale.“ | |
Daran hängt konkrete Politik. Im Mai sagte Macron bei einer Rede zu den | |
Sans Papiers: „Vor den Rechten stehen die Pflichten.“ Fünf Jahre in | |
Frankreich, 30 Monate Beschäftigung, Arbeitsvertrag, Sprachkenntnisse: Wer | |
diese Bedingungen erfüllt, kann einen Aufenthaltstitel beantragen. „Formal | |
hält Macron daran fest, faktisch ist es unter ihm viel schwieriger | |
geworden“, sagt Ben Nia. Die Verwaltungshaft für Sans Papiers wurde | |
ausgeweitet. | |
Und wer von der Polizei aufgegriffen werde, werde viel eher als früher | |
ausgewiesen, und erhalte teils ein Wiedereinreiseverbot. Doch letztlich | |
ließ Emmanuel Macron Möglichkeiten offen, den Aufenthalt zu legalisieren. | |
Auch Ben Nia hat auf dieser Grundlage im September 2021 einen vorläufigen | |
Aufenthaltstitel bekommen. | |
Marine Le Pen hingegen will mit Volksabstimmungen regieren – und als erstes | |
über ein Paket zur Migration abstimmen lassen: keine | |
Familienzusammenführungen mehr, Asylanträge nur noch im Ausland, | |
Sozialleistungen für Ausländer erst nach fünf Jahren Arbeit im Land, Entzug | |
der Aufenthaltserlaubnis nach einem Jahr ohne Arbeit, „Illegale“ | |
systematisch ausweisen, französische Staatsangehörigkeit nur nach | |
„Assimilationskriterien“. Für Ben Nia und Millionen andere gäbe es keine | |
Perspektive mehr. | |
Le Pen sei „gegen das Wesen Frankreichs“, sagt Ben Nia. Das Land sei „nic… | |
faschistisch“. Warum wählt dann fast die Hälfte trotzdem so? | |
## Nizza, Bataclan und die Medien | |
Bchira Ben Nia nennt die häufigsten Erklärungen, die in Frankreich dazu zu | |
hören sind: Die islamistischen Mordanschläge in Nizza und im Pariser | |
Bataclan-Theater. Und die Medien. „Die tragen die größte Verantwortung.“ | |
Denn sie hätten den islamophoben Hass jahrelang bereitwillig verbreitet. | |
Ein Bürogebäude in der Pariser Innenstadt, fünf Stockwerke, ein kleiner | |
Garten im Hinterhof. Seit fünf Jahren steht es leer, am Sonntag haben 80 | |
Sans Papiers es mit der antirassistischen Gruppe La Chapelle Debout | |
besetzt. Der Zeitpunkt sei „schon mit Blick auf die Wahl“ ausgesucht, sagt | |
Houssem, einer der Besetzer:innen, Mitte 20, der im Haus für die | |
Übersetzungen in Farsi zuständig ist. „Alle Kandidaten machen Wahlkampf mit | |
der Migration“, sagt er bei einer Zigarettenpause im Hof. „Aber ihr | |
einziges Thema dabei ist die Logistik der Abschiebungen. Wir wollen, dass | |
über Aufenthaltsrechte gesprochen wird.“ | |
Durch die Wahl drohe „Faschismus“ in Frankreich insgesamt. Doch auf der | |
staatlichen Ebene sei eine entsprechende Entwicklung seit Langem zu | |
beobachten, sagt Houssem, der selbst in Frankreich geboren ist. | |
„Unter Macron weiß die Polizei: Sie kann mit Migranten machen, was sie | |
will.“ Viele Sans Papiers müssten auf der Straße leben. „In Paris kommt d… | |
Polizei nachts dreimal zu ihren Schlafplätzen, vertreibt die Menschen immer | |
wieder mit Tränengas. Sie können sich nirgends waschen und müssen dann mit | |
dem Gas in der Kleidung weiter auf der Straße bleiben.“ Im Februar habe | |
eine Antiterroreinheit der Polizei ein von Migrant:innen besetztes Hause | |
geräumt. „Eine Militarisierung der Repression“, habe es unter Macron | |
gegeben. | |
„Alle, die hier sind, stammen aus Ländern, die von Europa oder Frankreich | |
kolonisiert waren“, sagt Houssem. Doch selbst Asylanträge aus Mali, wo | |
Dschihadisten wüten, würden oft ohne Anhörung abgelehnt. Macron stelle sich | |
als Kämpfer dar, um das Land vor der extremen Rechten zu retten. Dabei habe | |
er dieser überhaupt erst einen Weg in den Élysée-Palast geebnet, sagt | |
Houssem: „Wir rufen nicht zur Wahl von irgendwem auf. Wir rufen dazu auf, | |
uns zu organisieren, egal wer gewinnt.“ | |
## „Die Faschisten geben die Macht nicht wieder her“ | |
Zeit für eine Neuorganisierung der Linken, um 2027 Macron abzulösen, das | |
sei für ihn das Argument für eine weitere Amtszeit Macrons. Der dürfe nicht | |
nochmal antreten. Le Pen aber würde sich nicht abwählen lassen, glaubt er. | |
„Wenn Faschisten erst mal an der Macht sind, geben sie sie nicht mehr her.“ | |
Angesichts dessen, was drohe, sei die gesellschaftliche Reaktion sehr | |
schwach, sagt er. „Als 2002 Jean-Marie Le Pen gegen Jacques Chirac in die | |
Stichwahl kam, sind über eine Million Menschen auf die Straße gegangen.“ | |
Jetzt waren es nur einige Zehntausend. Das sei sie, die „Faschisierung der | |
Gesellschaft“. Anders als nun Macron hatte Chirac sich damals geweigert, in | |
einem TV–Duell mit Le Pen aufzutreten – und haushoch gewonnen. | |
23 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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