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# taz.de -- Postkoloniales Gedenken: Begrabene Erinnerungen
> Was machen wir mit veraltetem kolonialen Gedenken wie dem „Herero-Stein“?
> Die Ausstellung „Buried Memories“ startet einen Diskussionsprozess.
Bild: Masken im Sand als Sinnbild „begrabener“ Erinnerungen an die Toten: K…
Berlin taz | Kurz bevor Besucher*innen die Ausstellung betreten, lässt
eine Frauenstimme aus dem Nirgendwo innehalten. „Das Erinnern gehört zur
Kultur der Menschheit. Oft werden dafür öffentlich sichtbare Zeichen
gesetzt“, tönt es aus einem Lautsprecher. Auf die Kälteschutzfolie, die den
Blick in den Ausstellungsraum versperrt, sind Bilder projiziert – Fotos
eines Steins, schwarz-weiße, farbige. Auf manchen kann man die Inschrift
lesen, auf anderen liegen Gedenkkränze vor dem Granit-Findling. Mal stehen
Menschen mit ernsten Gesichtern daneben; oft ist der Stein mit roter Farbe
beschmiert, mit Kommentaren versehen.
Die Stimme erzählt im neutralen Nachrichtenton die Geschichte des Steins –
dass es eine KI ist, eine künstlich generierte Stimme, hört man nicht, der
Leiter des Museums Neukölln, Mathias Henkel, erzählt es im Gespräch mit der
taz nebenbei. Wichtig ist: Dieser „Herero-Stein“ ist seit Jahrzehnten ein
Streitpunkt in Neukölln, ein „Stein des Anstoßes“, wie Henkel sagt. Von
diesem Streit und wie der Bezirk mit dem Stein umgehen könnte, handelt die
neue Ausstellung „Buried Memories: Vom Umgang mit dem Erinnern. Der Genozid
an den Ovaherero und Nama“, die am Samstag im Museum Neukölln im Gutshof
Britz eröffnet wurde.
„Der Stein ehrt deutsche Soldaten, die im deutsch-namibischen Krieg ihr
Leben verloren haben. Ihr Tod wird als Heldentod heroisiert“, sagt die
Stimme. Weil das so ist, legen Soldatenvereinigungen wie das Afrikakorps
jährlich Kränze dort ab. Über den Tod von zehntausenden Herero und Nama im
Kolonialkrieg 1904–08, dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, erzählt der
Stein, der 1973 auf den Garnisonfriedhof versetzt wurde, nichts.
## „Anschläge“ auf den Stein
[1][Seit Jahrzehnten empören sich vor allem afrodiasporische und
postmigrantische Gruppen] über dieses einzige Berliner „Denkmal“ an den
Völkermord, das keines ist. Die Bezirkspolitik einigt sich 2009 nach langer
Diskussion auf eine Gedenkplatte, die neben dem Stein angebracht wird – und
das Ganze fast noch schlimmer macht. „Zum Gedenken an die Opfer der
deutschen Kolonialherrschaft in Namibia 1884–1915 insbesondere des
Kolonialkrieges von 1904–07“, heißt es darauf. Kein Wort von Völkermord,
keine Opferzahlen, keine Erwähnung der Herero und Nama. Die
Kritiker*innen sind entsetzt, es gibt weiterhin Proteste – und immer
wieder „Anschläge“ auf den Stein, der mit roter Farbe überschüttet, mit
Parolen übermalt wird.
All dies hören und sehen Besucher*innen, bevor sie durch den Vorhang den
Ausstellungsraum betreten. „Es soll ein bisschen eklig sein, da durch zu
gehen, man soll den alten kolonialen Blick ‚verlernen‘“, erklärt Henkel …
Anspielung auf Bonaventure Ndikung, den Intendanten des Hauses der Kulturen
der Welt, der von der Notwendigkeit des „verlernen Lernens“ spricht, um
dekolonial denken zu können.
In diesem Fall heißt das: Man muss durch diese geradezu empörende
Geschichte des Herero-Steins hindurchgehen – um unversehens vor einem
„Gräberfeld“ zu stehen. Hinter dem Vorhang blickt man auf einen vielleicht
20 Quadratmeter großen Haufen rot-braunen Sandes, in dem weiße Masken halb
begraben liegen. Die Kunstinstallation „They Tried to Bury Us“ der
namibischen Künstlerin und Ko-Kuratorin der Ausstellung, Isabel Tueumuna
Katjavivi, füllt fast den ganzen Raum, an den Wänden ringsum sind
Ereignisse und Texte zur Geschichte und Rezeption des Genozids aufgestellt.
Die Masken stellen alle dasselbe Gesicht dar, nämlich Katjavivis. In einem
Text, der am Empfangstresen erhältlich ist, erklärt sie, die Masken
„symbolisieren die 70.000 getöteten Menschen, und gleichzeitig
repräsentieren sie die verschüttteten und verdrängten Erinnerungen an diese
so grausamen Ereignisse“.
## Museum im Dialog
Wie gehen wir mit dieser Geschichte um? Was machen wir mit „Spuren des
Kolonialismus im Stadtbild“ wie dem Herero-Stein, fragt Henkel in seiner
Rede zur Eröffnung am Samstagnachmittag. Er sei dankbar für
Mitstreiter*innen, mit denen man sich nun an eine „Neuerfindung des
Gedenkens an den Völkermord“ wagen könne – anstatt den Stein des Anstoßes
zu entfernen und damit die „falsche“ Erinnerung des kolonialen Blicks
einfach auszulöschen.
Der Weg, den das Museum stattdessen gehen will, ist zumindest originell:
Als „Museum im Dialog“ will man in den kommenden acht Monaten, so lange
geht die Ausstellung, mit interessierten Bürger*innen und
Akteur*innen der Zivilgesellschaft einen Diskussionsprozess starten, wie
wir heute angemessen des Völkermords gedenken wollen – und wie mit dem
Stein umgegangen werden soll. „Der Erfahrungsbericht wird damit zugleich
zur Handlungsempfehlung für den künftigen operativen Umgang mit dem
Gedenk-Ensemble auf dem Friedhof am Columbiadamm“, [2][so die
Ausstellungsmacher auf ihrer Webseite].
Eigens für diesen Diskussionsprozess wurde eine Jurte angeschafft, die im
Garten des Museums Platz für Diskussionen, Workshops und mehr bieten soll.
Das Programm steht nicht ganz fest, [3][noch werden Moderator*innen
und Dozent*innen gesucht]: Das Museum hat zusammen mit der Initiative
Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und dem afrodeutschen
Bildungsarchiv AFROTAK TV cyberNomads die Idee entwickelt, insbesondere
Personen aus der engagierten Zivilgesellschaft zu gewinnen, „die fachlich
fundierte Module im Rahmen der Neuköllner Museumsakademie anbieten“.
Dass der Herero-Stein am Ende womöglich nicht wegkommt, wie es viele
Aktivist*innen so lange schon fordern, findet [4][Israel Kaunatjike] in
Ordnung. Zwar kämpft der Herero-Nachfahre und -Aktivist selbst seit
Jahrzehnten dagegen. „Aber diese ganze Geschichte wäre verloren, wenn der
Stein wegkommt“ – ein Kommentar, eine Ergänzung daneben sei daher besser,
findet er.
## „Ein langer Weg bis hierher“
Auch die Ausstellung im Gutshof, die Installation von Katjavivi, all dies
sei sehr wichtig, „damit die Menschen das kennenlernen vor Ort“, sagt
Kaunatjike bei der Eröffnung zur taz. Ihm liegen vor allem die Kinder und
Schüler*innen am Herzen, als Bildungsreferent versucht er seit
Jahrzehnten eine postkoloniale Sicht auf die Kolonialzeit und ihre
Verbrechen zu vermitteln. „Es war ein langer Weg bis hierher. Wir sind fast
angekommen, aber die Geschichte geht immer noch weiter.“
7 Nov 2023
## LINKS
[1] /Afrikastein-in-Berlin-Neukoelln/!5870084
[2] https://schloss-gutshof-britz.de/museum-neukoelln/ausstellungen/buried-memo…
[3] https://schloss-gutshof-britz.de/museum-neukoelln/ausstellungen/buried-memo…
[4] /!5422438/
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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