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# taz.de -- Politologe zu Armut in Deutschland: „Der Bericht wird missbraucht…
> Für den Politologen Butterwegge ist der Armuts- und Reichtumsbericht zu
> unspezifisch: Reichtum würde darin nur sehr ungenau erfasst – weil es
> nicht gewollt sei.
Bild: Reiche zur Kasse bitte: Kühne Forderung eines Demonstranten in Berlin im…
taz: Herr Butterwegge, [1][an diesem Mittwoch will die Bundesregierung im
Kabinett den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht beschließen.] Sie waren
Mitglied im wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Bericht. Wie fällt
Ihre Bilanz aus?
Christoph Butterwegge: Ich habe den Entstehungsprozess des Berichts
kritisch begleitet, ohne dass meine Ratschläge befolgt worden wären.
Positiv ist auf jeden Fall, dass nun eine Untersuchung der Lebenslagen
statt einer Betrachtung der Lebensphasen im Mittelpunkt steht. Hierdurch
entgeht man der Gefahr einer Individualisierung des Problems und einer
Verabsolutierung des Alterseffekts. Es wird deutlicher, dass die
Mittelschicht unter Druck geraten und dafür die Ränder am oberen und
unteren Ende der Verteilung gewachsen sind. Und es zeigt sich auch, wie
verfestigt Armut und Reichtum sind.
Was sehen Sie kritisch?
Ein zentrales Problem des weit über 500 Seiten starken Armuts- und
Reichtumsberichts besteht darin, ein riesiges Datengrab zu sein. So viel
statistisches Material in einem Dokument zu finden ist schön, man droht
aber den Blick für die wesentlichen Punkte und die eigentlichen
Problemlagen zu verlieren. Möglicherweise ist die dadurch erzeugte
Unschärfe gewollt. Vor allem aber fehlt eine Analyse des strukturellen
Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum.
Wie meinen Sie das?
Bertolt Brecht hat schon in den 1930er Jahren die Begegnung eines armen und
eines reichen Mannes beschrieben. Da sagt der eine zu dem anderen: „Wär ich
nicht arm, wärst du nicht reich.“ Dieser Blick auf den Kausalzusammenhang
zwischen niedrigen Löhnen und hohen Gewinnen fehlt im Bericht komplett.
Das müssen Sie genauer erklären.
Wer wenig Geld hat, wie eine Kurzarbeiterin, geht zum Discounter, um Geld
zu sparen, oder muss in den Dispo bei der Bank. Damit macht sie die
Familien, denen Ketten wie Aldi oder Lidl gehören, noch reicher. [2][Diese
sehr kleine Gruppe von extrem Vermögenden taucht im Bericht ebenso wenig
auf] wie die Großaktionäre der Industriekonzerne und Finanzkonglomerate wie
Blackrock. Die Bundesregierung hinkt weit hinter der Einsicht her, dass ein
kapitalistisches Wirtschaftssystem auf sozialer Ungleichheit basiert, die
sich durch eine neoliberale Politik weiter verschärft. Dazu haben die
Demontage des Sozialstaates und eine Steuerpolitik, die Gutverdienende und
Vermögende enorm entlastet, beigetragen.
Allerdings wird Reichtum im neuen Bericht detaillierter analysiert?
Ja, und das ist eine Verbesserung gegenüber früheren Berichten. Erstmals
hat das DIW Hochvermögende über eine repräsentative Zusatzstichprobe
genauer unter die Lupe genommen. Und die Ergebnisse sind erschreckend,
tauchen im Bericht allerdings nur abgeschwächt und verklausuliert auf.
Später verschwinden die Reichen dann ganz von der Bildfläche des
Regierungsberichts.
Wie geht das denn?
Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung hat man die Bevölkerung acht
sozialen Lagen zugeordnet. Die oberste wird aber nicht etwa Reichtum,
sondern „Wohlhabenheit“ genannt. Was ist denn das bitte? Ausgerechnet im
neuen Armuts- und Reichtumsbericht benennt man Reichtum auf einmal nicht
mehr als solchen? Dazu passt, dass diese Kategorie viel zu breit ist und
dadurch das Ausmaß der extremen Vermögensungleichheit in Deutschland
verschleiert wird. Von Dieter Schwarz, dem als Eigentümer von Lidl und
Kaufland mit 41,8 Milliarden Euro Privatvermögen reichsten Deutschen, bis
hin zum Stadtbewohner mit Eigentumswohnung und zum Gutverdiener mit einem
Nettoeinkommen von 3.900 Euro monatlich fallen alle in dieselbe Kategorie.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Kritik daran, dass die
Bundesregierung die Berichte schönt.
Ja, die Bundesregierung missbraucht den Bericht stets als Vehikel, um die
Erfolge ihrer Politik zu „verkaufen“. Armut und der Reichtum werden
hingegen – wo immer möglich – relativiert. Die Einkommensungleichheit soll
ausgerechnet seit 2005, als Hartz IV in Kraft trat und der
Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer mit 42 Prozent auf den niedrigsten
Stand seit 1949 sank, nicht mehr zugenommen haben. Geht es um den Anstieg
der Armuts(risiko)quote, wird angefügt, dass dieser ja gar nicht so klar
ersichtlich sei, und betont, dass alle von der guten wirtschaftlichen
Entwicklung profitiert haben.
Sie bestreiten das?
[3][Zieht man den Mikrozensus als größte und aussagekräftigste
Sozialstatistik der Bundesrepublik heran], sieht man, dass die Armut und
die Einkommensungleichheit gestiegen sind, auch und gerade in den
vergangenen Jahren. [4][Von der guten Wirtschaftsentwicklung bis zur
Covid-19-Pandemie haben nun wirklich nicht alle Menschen gleichermaßen
profitiert.]
Die Bundesregierung stellt sich im Bericht selbst ein gutes Zeugnis im
Kampf gegen Armut aus.
Ja, der Bericht fungiert als politischer Persilschein. Unter der Rubrik
„Zusammenfassung und Maßnahmen“ listet die Bundesregierung alles auf, was
sie unternommen hat, und feiert das als Erfolg. Sogar die geringe,
gesetzlich vorgeschriebene Anpassung der Hartz-IV-Regelbedarfe und das
Baukindergeld, das sogar eher für mehr Ungleichheit gesorgt hat, müssen als
Maßnahmen dagegen herhalten. Welch ein Irrwitz!
12 May 2021
## LINKS
[1] https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Bericht/Der-sechste-Bericht/s…
[2] /Studie-zu-Verteilung-von-Vermoegen/!5695974
[3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Haushalt…
[4] /Ungleichheit-in-der-Coronakrise/!5752630
## AUTOREN
Alina Leimbach
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