| # taz.de -- Politologe über Wahlrechtsreform: „Das beste zweier Welten“ | |
| > Das Wahlrecht muss reformiert werden, weil der Bundestag immer weiter | |
| > wächst. Der Politologe Bernhard Weßels über Demokratie- und Machtfragen. | |
| Bild: Der Bundestag 2019: mit 709 Abgeordneten das größte Parlament aller wes… | |
| taz: Herr Weßels, keine andere westliche Demokratie hat ein so großes | |
| Parlament wie wir – die französische Nationalversammlung hat zum Beispiel | |
| 577, das US-Repräsentantenhaus 435 Mitglieder. Der Bundestag hat 709. | |
| Warum? | |
| Bernhard Weßels: Das hat mit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht aus | |
| dem Jahr 2012 [1][zu den Überhangmandaten] zu tun. Also jenen Mandaten, die | |
| entstehen, wenn eine Partei in den Wahlkreisen mehr Mandate erringt, als | |
| sie nach Zweitstimmenanteilen hätte. Problematisch wird es, wenn eine | |
| Partei extrem viele Wahlkreise gewinnt. Früher wurden diese Überhangmandate | |
| bei den anderen Parteien nicht ausgeglichen, das ist aber laut | |
| Bundesverfassungsgericht nicht korrekt. Deshalb wächst seitdem das | |
| Parlament. | |
| Ist unser Wahlrecht besonders demokratisch? | |
| Wir haben ein gemischtes Wahlrecht, von dem es in der Literatur heißt, es | |
| sei das beste zweier Welten: also der Mehrheitswahl, wo in einem Wahlkreis | |
| ein Kandidat gewählt wird, und der Verhältniswahl, also der proportionalen | |
| Wahl von Parteilisten. Diese Mischung macht aus meiner Sicht Sinn. | |
| Was heißt das genau? | |
| Bei den Direktmandaten wird die Mehrheit repräsentiert. Dort ist Politik | |
| lokal angebunden und Verantwortlichkeit klar zurechenbar. Bei der | |
| Verhältniswahl geht es um kollektive Repräsentation, da sind die Parteien | |
| die Spieler, die dafür sorgen, dass dieses kollektive Mandat erfüllt wird. | |
| Das ist so kompliziert, dass es viele nicht mehr verstehen. Kann das | |
| demokratisch sein? | |
| Ja, das ist eine Frage. Wir fragen in unseren Wahlstudien immer auch nach | |
| der Erst- und Zweitstimme und wofür sie sind. Es wissen 60 Prozent der | |
| Bürgerinnen und Bürger Bescheid. | |
| Heißt auch: 40 Prozent verstehen es nicht. Wirkt das nicht abschreckend? | |
| Da letztlich ja die prozentualen Ergebnisse entscheidend sind, besteht | |
| zumindest nicht die Gefahr, dass das Wahlergebnis verfälscht wird, weil man | |
| sich mit der Erst- und Zweitstimme vertut. Insgesamt ist das Wählen bei uns | |
| eine relativ einfache Geschichte, man muss sich nicht registrieren und es | |
| wird sonntags gewählt. Die Wahlbeteiligung ist im europäischen Vergleich | |
| noch immer hoch. Wenn etwas abschreckend wirkt, dann wohl eher, wie die | |
| Politik sich selbst darstellt. | |
| Einig sind sich alle Fraktionen, dass der Bundestag verkleinert werden | |
| muss, Streit gibt es über das Wie. Warum? | |
| Das hat viel damit zu tun, was das für die einzelnen Parteien und die | |
| Individuen bedeutet. | |
| Machtstrategische Gründe. | |
| Ja, man will Macht- und auch einzelne Existenzpositionen nicht verlieren. | |
| Die stärkste Gegnerin mit Blick auf die Reduzierung der Anzahl der | |
| Direktmandate ist die CSU – weil dort alle über Direktmandate in den | |
| Bundestag eingezogen sind. | |
| Die CSU sagt: Direkt gewählte Abgeordnete stehen in besonders enger | |
| Verbindung zu den Bürgern. Stimmt das? | |
| Natürlich sind diese davon abhängig, dass die Bürgerinnen und Bürger in | |
| ihrem Wahlkreis sie beim nächsten Mal wieder wählen und deshalb mit ihnen | |
| in engerem Kontakt. Aber ob dabei eine bessere Repräsentation rauskommt, | |
| ist die Frage. Die Abgeordneten können im Wahlkreis viel versprechen, aber | |
| sie können das nicht durchsetzen. In den USA ist das anders, da können die | |
| Abgeordneten auf der Bundesebene für ihren Wahlkreis etwas tun, zum | |
| Beispiel durch regionalspezifische Gesetze. Und wichtig ist auch: Wenn sich | |
| die direkt gewählten Abgeordneten nicht an die Versprechen der Partei | |
| halten, verliert man Verbindlichkeit. | |
| Gar nicht im Gespräch sind wirklich radikale Reformen, zum Beispiel ein | |
| Wechsel zum reinen Verhältniswahlrecht, was die Erststimme abschaffen | |
| würde. So wählt man zum Beispiel in Österreich. | |
| Und in den Niederlanden. | |
| Was spricht dagegen? Das würde doch alles vereinfachen. | |
| Das Problem bei einer radikalen Reform ist, dass niemand weiß, wie die | |
| Wähler darauf reagieren würden – ob zum Beispiel das Ergebnis der heutigen | |
| Zweitstimme so bleiben würde. Und dieses Risiko will man nicht eingehen. | |
| Wichtig ist auch: Wahlrechtsfragen sind einerseits verbunden mit normativen | |
| Vorstellungen und der Frage, wie man sich so eine Demokratie vorstellt. | |
| Wenn es aber darum geht, etwas zu ändern, sind es Machtfragen. In Osteuropa | |
| zum Beispiel gab es viele Wahlrechtsänderungen, bei denen ganz klar war, | |
| dass es darum geht, dass die, die an der Macht sind, dort leichter bleiben | |
| können. Und die, die bei uns von gewissen Komponenten profitieren, wollen | |
| die auch gerne behalten. | |
| Was ist mit dem Grabensystem, bei dem die Hälfte der Abgeordneten direkt | |
| gewählt wird, die andere über die Verhältniswahl – voneinander entkoppelt, | |
| ohne Verrechnungen wie bei uns. Das wäre nicht ganz so radikal. Ist das | |
| weniger demokratisch? | |
| Ich bin ein großer Fan von Proportionalwahlsystemen, weil wir in | |
| vielfältigen Gesellschaften möglichst vielen eine Stimme im Parlament geben | |
| sollten. Und nicht nur der Mehrheit. Aber das ist meine Meinung. | |
| Wissenschaftlich lässt sich schwer sagen, was demokratischer ist – unser | |
| System mit den Verrechnungen oder ein Grabensystem. Ein reines | |
| Mehrheitswahlsystem wie in den USA oder in England aber lässt meiner | |
| Meinung nach zu viele Stimmen ungehört. | |
| Und was sollten die Abgeordneten nun tun? | |
| Ich sehe eine Lösung eigentlich nur in der Vergrößerung der Wahlkreise, | |
| also einer Reduktion der Direktmandate. | |
| So wie [2][im Vorschlag von Grünen, Linken und FDP]? | |
| Ja, aber da wird es einen Kompromiss geben müssen. | |
| 29 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine am Orde | |
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