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# taz.de -- Politische Stimmung in Großbritannien: Kein Toaster mehr übrig
> Die Wahl in Großbritannien war eine emotionale Abrechnungsorgie​. Labour,
> Liberale und die Reformpartei profitierten von der Proteststimmung.
Bild: Sohn eines Werkzeugmachers: Premierminister Keir Starmer mit Ehefrau Vico…
Die Spielshow „Queen for a Day“ war in den 1940er und 50er Jahren eine
beliebte Sendung im US-Fernsehen. Der Moderator versprach den
Teilnehmerinnen Verlockendes. Eine von ihnen würde er zur Königin für einen
Tag machen – samt Krone, Thron und roter Rosen. Vorher mussten sie jedoch
einem Millionenpublikum ihre Leidensgeschichte erzählen.
Wer die grauenhaftesten Dinge erlebt hatte – Armut, kranke Kinder,
prügelnde Ehemänner und Wohnungsbrände –, bekam Geld und eine
Waschmaschine. Wer nicht ausreichend gelitten hatte, konnte nur noch auf
den Toaster hoffen. Teilnehmerinnen mit schauspielerischem Talent hatten
bei der Show die besten Chancen. Umso gekonnter sie schluchzten umso mehr
klatschten die Zuschauer im Studio, was das Studiobarometer nach oben
trieb.
Kurz vor dem ekstatischen Höhepunkt wurde der seelische Striptease mit
Werbeeinblendungen unterbrochen: Kühlschrank-, Schuh- oder Modefirmen
priesen ihre Produkte an. Die Leidenskönigin des Tages bekam am Ende den
gesamten Plunder geschenkt. Lange bevor der Begriff Greenwashing erfunden
wurde, konnten sich Firmen so als „karitativ engagiert“ und „frauenaffin�…
verkaufen.
Das Konzept von „Queen for a Day“ scheint auch auf britische Wahlsendungen
starken Einfluss genommen zu haben. In den letzten Wochen mussten sich fast
alle Politiker seelisch ausziehen, um zu punkten.
Herkunft als Faktor
Rishi Sunak und [1][Sir Keir Starmer] betonten unermüdlich ihre Herkunft
aus bescheidenen Verhältnissen (der eine Kind indischer Einwanderer, der
andere Sohn eines Werkzeugmachers).
Übertrumpft wurden sie jedoch eindeutig von der [2][Labourpolitikerin
Angela Rayner.] Sie wuchs als armes Kind einer bipolaren Analphabetin auf.
Rayner musste mit 16 ohne Abschluss die Schule verlassen, weil sie
schwanger geworden war. Sie erarbeitete sich den Weg aus dem Schlamassel
mithilfe der Gewerkschaften. Mittlerweile ist sie eine linke Version von
Margaret Thatcher geworden und seit dem 5. Juli die Nummer zwei in Starmers
Kabinett.
Starmer ist jedoch keine Reinkarnation des jungen Tony Blair, der 1997 die
Menschen begeisterte. Starmer ist ein netter Langweiler, dessen Reden die
Zuhörer regelmäßig in den Tiefschlaf versenken. Seine Partei gewann zwar am
4. Juli dank des Mehrheitswahlrechts 411 Sitze, aber nur 33,7 Prozent der
Stimmen.
In Wirklichkeit war die Wahl eine emotionale Abrechnungsorgie. Die Wähler
konnten sich nur auf einen Punkt einigen: Die Tories hatten fulminant
versagt und mussten bestraft werden. Davon profitierten, abgesehen von
Labour, auch die Liberalen und die Reformpartei.
Warnungen vor Migration
Obwohl der Liberale Ed Davey nur clowneske Stunts absolvierte, die an Guido
Westerwelles Tourbus-Zeiten erinnerten, erhielt er dafür am Ende 72 Sitze.
Aus Protest wurde auch [3][Nigel Farages] Partei Reform gewählt. Mit seinen
Warnungen vor Migration erhielt er über 4 Millionen Stimmen. Reform sorgte
auch dafür, dass die konservative Partei restlos implodierte.
Während die Tories sich in den nächsten fünf Jahren mit Schuldzuweisungen
zerfleischen werden, hat Reform jetzt die Chance, zur großen rechten
Oppositionspartei aufzusteigen. Bei der nächsten Unterhauswahl 2029 wird
sie ein ernst zu nehmender Gegner für Labour werden.
Wie gefährlich es ist, das Thema Migration Nigel Farage zu überlassen, hat
Tony Blair gerade in einem Artikel in der Sunday Times dargelegt. Es ist
nicht das einzige Problem für Starmer. Die Kassen sind leer, und es gilt,
unbeliebte Entscheidungen zu treffen.
Der neue Premierminister wird viele verzweifelte Geschichten von sozialer
Ungerechtigkeit hören. Rote Rosen wird es für die Bittsteller mit
Sicherheit nicht regnen. Die Frage wird eher sein: Wer bekommt wenigsten
noch einen Toaster?
9 Jul 2024
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## AUTOREN
Karina Urbach
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