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# taz.de -- Performance im Radialsystem Berlin: Ein verletzliches Vielleicht
> Im Radialsystem ist „Träumerei des Verschwindens“ von Choreografin Lina
> Gómez zu sehen. Sie lässt darin ritualähnliche Situationen entstehen.
Bild: Die Tänzer:innen Camille Chapon, Felipe Fizkal, Bella Hager, Julek Kreut…
Ein Impuls zuckt durch einen in sich verhakt auf dem Boden liegenden
Körper. Er wandert unter der Haut weiter, poppt an einer anderen Stelle
wieder auf. „Nimm dir Zeit“, sagt die Choreografin Lina Gómez, „stell dir
vor, du würdest kochen.“
Sie presst einer der fünf Tänzer:innen, mit denen sie das alte, neue Stück
„Träumerei des Verschwindens“ probt, sacht die Hand auf verschiedene
Körperstellen. Die Erinnerung an die Reflexe auf die Berührung werden im
Laufe der Übung Ausgangspunkt für die muskuläre Impulswanderung.
Ein Durchlauf des Stückes, das ab dem 27. 1. im Radialsystem zu sehen sein
wird, steht an. Nach einem Bodenreinigungsritual legen die Tänzer:innen
Camille Chapon, Felipe Fizkal, Bella Hager, Julek Kreutzer und Diethild
Meier die Trainingskleidung ab und werden am hinteren Raumende zu Haut-,
Muskel- und Knochenskulpturen. Die Körper in sich verhakt wie eine Spinne
im eigenen Netz.
„Träumerei des Verschwindens“ ist in einem längeren Prozess entstanden. D…
gebürtige Kolumbianerin Lina Gómez, die in Brasilien aufwuchs und dort ihr
erstes Studium absolvierte (Communication of the Arts of the Body), hat an
ihrem Material bereits vor der, wie sie sagt, „freiwilligen Migration“ nach
Deutschland gearbeitet.
## Von der Pandemie zum griechischen Theater
Sie interessierte sich für die Umkehrung festgelegter körperlicher
Strukturen: den dominanten Kopf so gut wie verschwinden lassen und
verschiedene Punkte des Körpers neu miteinander verknüpfen. Wie bewegt man
sich, wenn die Elle an der Ferse liegt? In Berlin setzte sie diese
Rekombinatorik dann aus der Perspektive des „fremden Körpers“, zu dem sie
geworden war, ein: „Was von mir verschwindet in einer neuen Umgebung, was
wird anders wahrgenommen?“
Das Rempeln fiel ihr zum Beispiel auf. Rempeln Leute, die durch mehrere
Kleidungsschichten verhüllt sind, häufiger, weil sie ihre Haut weniger
spüren? Die Pandemie löste die Frage auf ihre Weise. Auch das Verschwinden
bekam andere Bedeutungsebenen.
Virtuell wurde die Menschheit zu talking heads, während im analogen Leben
die Gesichter hinter dem Mund-Nasen-Schutz verschwanden wie einst im
griechischen Theater die Schauspieler:innen hinter der Maske. Ein
„prosopeion“ schuf eine Distanz vom Menschen zum Spieler und legte
Archetypen fest.
Der zeitgenössische Künstler Panos Kompis, der aktuell in der Kreuzberger
Galerie Steinzeit im Rahmen der Ausstellung „AthenSYN II: Going viral“
gezeigt wird, hat sich auf verschiedene Arten mit solchen Maskenzuständen
beschäftigt. Auch einem Stück Landschaft hat er eine Maske verpasst. In
seiner aktuellen Videoarbeit „docile being“ (zu deutsch: williges Wesen)
setzt er einen Helm aus schwerem Stein auf einen nackten Körper, was diesen
umso verletzlicher werden lässt.
## Glieder wie angeschwemmtes Treibholz
Bei Lina Gómez werden die Gesichter entweder auf den Boden gepresst, hinter
anderen Körperteilen verborgen oder nach hinten weggedreht. Der dadurch
auftretende Effekt ist weniger ein Unterscheiden der Tänzer:innen anhand
anderer spezifischer Charakteristika als ein fragmentarisches Schauen: Die
Glieder wirken wie angeschwemmtes Treibholz, das in immer andere
Formationen gespült wird.
Die Skelette der zähen Körper zeichnen sich ab, das Fleisch führt kein
Eigenleben, sondern wird von Muskeln kontrolliert, aus asymmetrischen
Schulterständern wachsen Glieder wie Äste.
Die Konzentration auf organischen Strukturen, das imaginäre Verwachsen des
Körpers mit nicht-menschlichen Umgebungen, ist eine beliebte
Versuchsanordnung im Tanz. [1][Xavier Le Roys „low pieces“ (2011) schaffen
auf diese Art Tier-Wahlverwandtschaften], in Isabelle Schads „Pieces and
Elements“ erzeugen die Gliedmaßen Bewegungsmuster von belebter Materie –
Einfaltungen, Entfaltungen, Auflösungen, Metamorphosen.
Lina Gómez ist eine noch junge Choreografin, deren bisherige Arbeiten durch
ihre Eigenständigkeit auffielen und nicht so leicht in Diskursmoden zu
verschlagworten sind. Am ehesten lässt sich ihr eine Nähe zum magischen
Realismus anhängen, indem sie durch Insistieren und Wiederholungen
ritualähnliche Situationen entstehen lässt, an die wiederum neue
Vorstellungswelten andocken können.
Auf dem Arbeitstisch im Probenraum liegt Gaston Bachelards Buch „L’air et
les songes“, das den Titel „Träumerei des Verschwindens“, der zunächst …
ein Schumann-Klavierstück klingt, erklärt. Bachelard unterscheidet die
„Träumerei“ durch ihren konkreten Materialbezug vom „Traum“. Sie ist e…
von der konkreten Wahrnehmung angestoßene poetische Einbildung.
Dafür bieten die Tänzer:innen in ihren Formationen viel Angriffsfläche.
Gleichzeitig lenkt die Choreografie die Wahrnehmung gezielt auf den Punkt
zu, an dem die Bewegungsimpulse nicht mehr von außen oder aus der
Erinnerung der Körper kommen, sondern durch die Haut-an-Haut-Sensualität
neu entstehen. Als Ahnung. Als ein verletzliches Vielleicht.
24 Jan 2022
## LINKS
[1] /Symposium-ueber-Tiere-und-Kunst/!5298290
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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