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# taz.de -- Matthias Brandt am Berliner Ensemble: Solo für Gantenbein
> Geschichten anprobieren wie Kleider: Brandt feiert am BE mit Max Frischs
> „Mein Name sei Gantenbein“ die Rückkehr auf die Bühne nach 20 Jahren.
Bild: Matthias Brandt als Solist in „Mein Name sei Gantenbein“ am BE
Da steht er, [1][der ehemalige „Polizeiruf“-Kommissar], mit Hut und
Trenchcoat, inmitten eines sich ins Schwarz verflüchtigenden Guckkastens,
umrahmt von Neonleuchten, die mal blau, mal rosa, mal grün aufstrahlen,
sich zwischendurch verdoppeln und verdreifachen wie Spiegelbilder.
Hier schauen wir [2][Matthias Brandt] beim Neusortieren der Gedanken zu.
Als Erzähler des „Gantenbein“-Romans probiert er Geschichten aus, die sein
Leben sein könnten: „Ich stelle mir vor: Mein Leben mit einer großen
Schauspielerin, die ich liebe und daher glauben lasse, ich sei blind. Unser
Glück infolgedessen. Ihr Name sei Lila.“
Der neongerahmte Kasten, innen holzgetäfelt, lässt die Bühne wie einen
großen Fernseher wirken, als schaue Brandt uns noch immer aus der
Mattscheibe entgegen. Als Hanns von Meuffels war er ein Kommissar aus gutem
Hause, ein Schweiger und Melancholiker, der sich in seine Einsamkeit
zurückzieht, dem jedoch stets im Gesicht geschrieben steht, dass es noch
vieles zu enträtseln gäbe. Dieses sichtbare Denken beim Sprechen zeichnet
ihn nun auch auf der Bühne aus.
Seine langen Reflexionspausen wirken zwar oft affektiert, doch Brandt lässt
ein psychologisches Spiel in vielen Variationen entstehen, die auch Max
Frischs Selbstironie nicht missen lassen. Tragikomisch ist es im Roman,
wenn Enderlin nachts von Eifersucht geplagt die Schublade seiner Frau
aufbricht und lange braucht, bis er in den dortigen Liebesbriefen seine
eigenen erkennt.
## Identität als Frischs Lebensthema
Brandt kostet den Moment der Überführung voll aus, rauft sich die Haare,
torkelt betrunken über die Bühne, als er erst den langweiligen Lebenskitsch
der Briefe bemängelt, darin keinerlei Charakter findet, mit dem er sich
messen könnte – um dann in der Sekunde des Gewahrwerdens erschrocken in
sich zusammenzusinken. Die Frage der Identität, Frischs Lebensthema, steht
über allem. Zentral aber ist der Satz: „Ein Mann hat eine Erfahrung
gemacht, jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung.“
Wie erzählen über einen Menschen, wie seine Erfahrungen zu einer Geschichte
zusammensetzen? Es sind große, wichtige Fragen, die in der heute so
segmentierten Wirklichkeit womöglich sogar drängender sind als im
Erscheinungsjahr des „Gantenbein“ 1964.
Im postdramatischen Theater ist die gespaltene Identität nichts Neues:
Überall spielen Schauspielerinnen fünf Rollen am selben Abend oder stehen
sieben Hamlets auf der Bühne, für jede Charaktereigenschaft einer. Doch
Frisch interessiert sich weniger für die Spaltung der Identität als für
deren Zusammenführung. Er lässt seinen Erzähler immer neue Variationen
derselben Geschichte erfinden. Die traumatische Erfahrung darunter ist das
Zerbrechen einer Liebe.
[3][Oliver Reese] hat den Roman auf 24 Seiten verkürzt und arbeitet sich
oberflächlich an den Grundthemen ab: die Verwandlung des Erzählers zu
Gantenbein, der vorgibt, blind zu sein; das Zusammentreffen mit der
Prostituierten Camilla Huber, die Gantenbein vorspielen kann, sie mache
Maniküre; der verliebte Enderlin kommt vor; der verlassene Ehemann Svoboda.
Eine ästhetische Idee für die Inszenierung des Textes scheint der Regisseur
allerdings nicht zu haben.
## Die Krux der Romanadaption
Brandt zieht verschiedene Accessoires aus den Wänden des Bühnenrahmens, mit
denen er das Geschehen illustriert. Kleidungsstücke, die selbstverständlich
gewechselt werden wie die Geschichten. Eine Blindenbrille, einen Stock, ein
Whisky-Glas. Dazu spielt halbjazzige Fahrstuhlmusik.
Plump und einfallslos wirkt das, der tastenden, poetischen Vorlage nicht
angemessen. Die überdeutliche Aktualität von Frischs Text kann die
Inszenierung nicht tilgen, so schnell bringt man gute Literatur nicht um.
Es offenbart sich aber einmal mehr die Krux von Romanadaptionen: Frischs
Buch ist ein für sich stehendes literarisches Werk – will man das Spiel mit
Identitätsausformungen fürs Theater fruchtbar machen, muss ein Regisseur
eine Form finden, in die sich diese poetologische Suche nach der Erzählung
theatral übersetzen lässt. Wäre Reese auf der Suche nach einer Form
gescheitert – das wäre ein Ergebnis.
Doch die Inszenierung gefällt sich viel zu sehr in ihrem gediegenen Glanz,
als mal versuchsweise nach rechts oder links abzuzweigen.Matthias Brandt
zeigt, dass er ein virtuoser Sprecher ist, der jedes Wort verdeutlichen
kann – manchmal sogar zur Überdeutlichkeit neigt. Eine Regieleistung ist es
dagegen nicht, den zusammengestrichenen Romantext im Neonrahmen von einem
Fernsehstar sprechen zu lassen.
17 Jan 2022
## LINKS
[1] /Letzter-Polizeiruf-110-mit-Von-Meuffels/!5556250
[2] /Raumpatrouille-von-Matthias-Brandt/!5350230
[3] /Berliner-Ensemble-nach-Claus-Peymann/!5518835
## AUTOREN
Barbara Behrendt
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Matthias Brandt
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