| # taz.de -- „Raumpatrouille“ von Matthias Brandt: Ein spilleriger Elfjähri… | |
| > Entdeckungsreise in eine andere Zeit. Kanzlersohn Matthias Brandt | |
| > erinnert sich in angenehm neugierigem Ton an seine Kindheit. | |
| Bild: Matthias Brandt kann Autor und Tatortreiniger (Foto) | |
| Wer den Namen eines SPD-Vorsitzenden, Bundeskanzlers und | |
| Friedensnobelpreisträgers hat, der muss sich einen Vornamen vermutlich erst | |
| machen. Matthias Brandt hat das getan, er spielt Theater und im Fernsehen, | |
| sonntags ist er manchmal im Münchner „Polizeiruf“ der Kommissar. Vielleicht | |
| war das eine Voraussetzung dafür, dass er nun ein Buch mit Erzählungen über | |
| seine Kindheit geschrieben hat. | |
| Bücher von Politikerkindern haben meist eine Unwucht. Es werden | |
| Verteidigungsschriften oder Anklagen, aber in den meisten Fällen ist am | |
| Ende der Vater übermächtig. Als Walter Kohl der Republik 2011 seine | |
| schweren Erfahrungen als Kanzlersohn zeigen wollte, war ein großer Teil des | |
| Publikums doch viel mehr daran interessiert, neue Einblicke in die Welt des | |
| Alten zu bekommen. Kinder von Politikern und von Berühmtheiten überhaupt | |
| scheitern leicht, wenn sie zeigen wollen, dass sie selbst ein Leben haben | |
| und dann doch wieder der Vater das Buch dominiert. | |
| Aber Matthias Brandt ist nicht gescheitert. Mehr als das. Der Weg, den er | |
| geht, ist ein guter. Er hat kein bedrohliches Manifest geschrieben, sondern | |
| kleine große Geschichten in einem Band von 172 Seiten. Er hat einen | |
| angenehm neugierigen Ton gefunden, in dem er eine Entdeckungsreise in eine | |
| andere Zeit geschrieben hat. Deshalb heißt das Buch „Raumpatrouille“. | |
| Die andere Zeit ist seine Kindheit im Bonn Anfang der siebziger Jahre. Ein | |
| Junge von zehn oder elf, der in Anorak und Gummistiefeln durch die Welt | |
| stapft, oder er nimmt das Bonanzarad. Als Torwart lässt er, weil ihm die | |
| neu gekaufte Schirmmütze die Sicht nimmt, den Ball über die Linie kullern. | |
| Er weint um Michael Collins, den dritten Astronauten von Apollo 11, der im | |
| Gegensatz zu Armstrong und Aldrin nie einen Fuß auf den Mond setzen durfte. | |
| Er verdrückt genussvoll die Kekse seines Hundes Gabor. Er zielt mit der | |
| Jaguarmatic-Spielzeugpistole auf Amseln. Oder er nimmt die echte Pistole | |
| des unachtsamen Personenschützers Bernd Stöckel. | |
| Die besonderen Lebensumstände einer Kanzlerfamilie, zu denen auch | |
| Personenschützer zählen, gehören zur Welt des Ich-Erzählers. Doch der Vater | |
| selbst taucht sehr lange im Buch nicht auf. Das lässt den Geschichten des | |
| „spillerigen Elfjährigen“ Raum, sorgsam sind sie aufgeschrieben und in | |
| einer eigenen Sprache. Man taucht in die Welt des Jungen ein, Brandt | |
| gelingt fast die Intensität des Ich-Erzählers von Salingers „Fänger im | |
| Roggen“. | |
| Kinder beurteilen ihre Umwelt sehr klar. Der Junge auf Raumpatrouille | |
| urteilt autonom. Sein geheimer Freund ist Heinrich Lübke, der vertrottelte | |
| Altbundespräsident, zu dem er durchs Gartentor schlüpft auf eine Tasse | |
| Kakao. Öffentlich wird er verhöhnt, auch bei Brandts am Esstisch wird über | |
| ihn gekichert. Aber der Junge verrät nicht mal seiner Mutter, wie es drüben | |
| beim alten Lübke und dessen Frau war. | |
| ## Er klingt ehrlich | |
| Einmal führt die Raumpatrouille ihn in eine andere Familie, nach Hause zu | |
| seinem Freund Holger. Er beschreibt eine Neubauwohnung mit Schrankwand und | |
| Sitzgarnitur, die Wände mittel- und die Decke hellbraun gestrichen. Aber | |
| der Autor erhebt sich nicht über diese andere Welt, sondern beschreibt, wie | |
| er sich gesehnt hat nach einem Alltag wie dem von Holgers Familie: „So wie | |
| hier sähe es aus, mein zukünftiges Leben!“ | |
| Zu sein wie die anderen, diesen brennenden Wunsch beschreibt Matthias | |
| Brandt an wenigen Stellen. Aber er tut nicht wichtig. Er klingt nicht | |
| schwer dabei oder gar selbstpsychologisierend, sondern ehrlich. | |
| Es gibt ein glückliches Kapitel mit der Mutter. Rut Brandt in den | |
| Sommerferien in Norwegen. Erst später tritt der Vater auf. In einer | |
| lustigen Geschichte, in der der Kanzler den SPD-Fraktionschef Herbert | |
| Wehner zu einer Radtour trifft; die Mitarbeiter der zwei Politiker haben | |
| sie zu Versöhnungszwecken arrangiert. Matthias soll als Anstandskind | |
| fungieren. Der Kanzler allerdings hat das Fahrradfahren verlernt. „Mein | |
| Vater stürzte nicht, er kenterte. Es schien, als sei sein Fahrrad leck | |
| geschlagen und als führe die dadurch bedingte Schwerpunktveränderung | |
| unausweichlich zu einer Havarie.“ | |
| Aber die Radtour ist noch nicht das eigentliche Kapitel über den Vater. Das | |
| kommt erst ganz hinten. Dann führt die Raumpatrouille den Jungen in die | |
| holzgetäfelten Räume des Kanzlers. Es entsteht eine Szene, in der es nach | |
| Tabakrauch riecht, in der ein Glas Rotwein und eines mit Milch auf den | |
| Tisch kommen und in der die warme, raue Stimme von Willy Brandt eine große | |
| Rolle spielt. | |
| Das muss man selbst lesen, nur so viel: Es sind schon viele Bücher von | |
| Kindern berühmter Leute geschrieben worden, aber so eine wunderbare | |
| Liebeserklärung an den Vater wahrscheinlich noch nie. | |
| 21 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Löwisch | |
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