# taz.de -- Patriarchale Rechtslage bei Abtreibungen: Die Entmündigung der Frau | |
> Die „Schutzpflicht des Staates“ ist ein zweifelhaftes Relikt. Noch heute | |
> dient die Kriminalisierung von Abtreibungen dem Erhalt patriarchaler | |
> Macht. | |
Bild: Am Ende geht es – wie so oft – um Macht | |
Vor einigen Wochen wurde bei „Anne Will“ über das Recht auf | |
Schwangerschaftsabbruch diskutiert. Immer wieder kam der CDU-Politiker | |
Philip Amthor bei vielfältigen Gegenargumenten seiner Mitdiskutantinnen auf | |
dieselbe sinngemäße Aussage zurück: Ja, aber, das ungeborene Leben müsse | |
doch geschützt werden! In der Tat sieht das auch unsere Bundesregierung so. | |
Deutlich machte sie dies zuletzt im Mai 2019, als sie auf eine kleine | |
Anfrage der AfD zum „Rechtsverständnis der Bundesregierung zum | |
Schwangerschaftsabbruch“ antwortete. In dieser Antwort begründete die | |
Bundesregierung das „grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruches“ | |
mit einer „staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben“. | |
Problematisch ist schon der Begriff, der für das schützenswerte Rechtsgut | |
verwendet wird: das „ungeborene Leben“. „Leben“ ist ein weiter Begriff,… | |
hier für etwas sehr Spezifisches instrumentalisiert wird: den menschlichen | |
Embryo. Nicht einmal Biolog*innen können klar definieren, ab wann Leben | |
beginnt. Ist ein Spermium auch schon Leben? Es ist absurd, allgemeingültig | |
für die gesamte Gesellschaft diese Grenze festzulegen und damit den Zugriff | |
des Staates auf den weiblichen Körper zu rechtfertigen. | |
Ein Blick in die Geschichte – über die man sich zum Beispiel im Museum zu | |
Verhütung und Schwangerschaftsabbruch des Wiener Gynäkologen Christian | |
Fiala informieren kann – offenbart, welche Motivation ursprünglich hinter | |
der „staatlichen Schutzpflicht für das Ungeborene“ lag. In fast allen | |
Monarchien, Diktaturen und kriegsführenden Staaten wurden | |
Abtreibungsverbote aus bevölkerungspolitischen Überlegungen eingeführt. So | |
auch 1871, als Kaiser Wilhelm I. den Strafrechtsparagraphen 218 nach | |
verlustreichen Kriegen in das Strafrecht des neu gegründeten Deutschen | |
Reiches einführte, um über genügend Soldat*innen und Arbeitskräfte zu | |
verfügen. Auf die Spitze getrieben und rassistisch befeuert wurde diese | |
bevölkerungspolitische Logik im Dritten Reich, als auf Abtreibungen sogar | |
die Todesstrafe stand und selbst Verhütung verboten wurde – solange es sich | |
um Personen handelte, deren Nachwuchs die Nationalsozialist*innen in ihrer | |
zutiefst menschenverachtenden Logik als erwünscht klassifizierten. | |
Aus dieser Zeit stammt auch Paragraph 219a, der sogar sachliche | |
Informationen zum Schwangerschaftsabbruch durch Ärzt*innen kriminalisiert. | |
1974 wurde er bekräftigt und auch bei der erneut entflammten Debatte Anfang | |
2019 trotz überzeugender Gegenargumente im Wesentlichen beibehalten. [1][Am | |
Freitag wurden in Berlin erneut zwei Ärztinnen zu einer Geldstrafe | |
verurteilt], weil sie auf der Homepage ihrer Praxis über die von ihnen | |
durchgeführten Methoden des Schwangerschaftabbruchs informieren. | |
## Unsichere Abtreibungen kosten Leben | |
Zu Zeiten der Monarchie unter Wilhelm I. und der Diktatur unter Hitler | |
wurde die bevölkerungspolitische Motivation hinter dem Verbot von | |
Schwangerschaftsabbrüchen offen thematisiert. In den folgenden Jahrzehnten | |
der Demokratisierung, im Zuge tiefgreifender politischer Debatten, die um | |
die Verfassungsgerichtsentscheidungen von 1975 und 1993 geführt wurden, | |
änderte sich die Argumentationsstruktur. Die Gesetzgeber bezogen sich nun | |
auf Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 2 (Recht auf Leben) des | |
Grundgesetzes und schlussfolgerten hieraus ein grundsätzliches Verbot des | |
Schwangerschaftsabbruchs. | |
Im aktuellen Parteiprogramm der AfD wird deutlich, dass der | |
bevölkerungspolitische Geist hinter Abtreibungsverboten weiter lebt und | |
wirkt: Die „konfliktträchtige Masseneinwanderung“ sei „kein geeignetes | |
Mittel“, um den „demografischen Fehlentwicklungen in Deutschland“ | |
entgegenzuwirken. Vielmehr sei eine „aktivierende Familienpolitik (…) die | |
einzig tragfähige Lösung“, um eine „höhere Geburtenrate der einheimischen | |
Bevölkerung“ zu bewirken. Unter dem Punkt „Willkommenskultur für | |
Ungeborene“ heißt es weiter: „Die AfD (…) ist im Einklang mit der deutsc… | |
Rechtsprechung der Meinung, dass der Lebensschutz bereits beim Embryo | |
beginnt.“ | |
Leider bildet die „staatliche Schutzpflicht“, auf die sich unsere Regierung | |
beruft, einen idealen Nährboden für Angriffe demokratiefeindlicher und | |
antifeministischer Gruppierungen. Angesichts des aktuellen Rechtsrucks | |
sowie unseres Wissens um die historische Motivation hinter | |
Abtreibungsverboten sollten wir vorsichtig sein, wenn mit der Menschenwürde | |
argumentiert wird, um eine „staatliche Schutzpflicht“ zu rechtfertigen – | |
Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass oft ganz andere Interessen | |
dahinter verborgen liegen. | |
Die selbsternannte „Schutzpflicht des Staates“, ganz gleich, mit welchen | |
Argumenten sie gerechtfertigt wird, ist eine Entmündigung von Frauen. Vor | |
allem aber ist sie eines: nicht umsetzbar. Die Abbruchsrate ist in Ländern | |
mit sehr strengen Abtreibungsgesetzen nicht niedriger als in Ländern mit | |
liberaler Gesetzgebung. Eine andere Größe hingegen verändert sich | |
tatsächlich durch Abtreibungsverbote: die Müttersterblichkeit. Vermeidbare | |
Komplikationen von unsicher durchgeführten Abbrüchen kosten täglich | |
unzählige Frauen ihr Leben. Und zwar vor allem in den Ländern, die „das | |
ungeborene Leben“ mit besonders restriktiven Gesetzen zu „schützen“ | |
versuchen. | |
## Liberalere Gesetze, höhere Geburtenrate | |
Aber auch in Deutschland geht das Abtreibungsverbot auf Kosten der | |
Frauengesundheit. Die strafrechtliche Regelung verhindert die | |
Kostenübernahme durch die Krankenkassen und beschränkt den Zugang zu | |
sachlichen Informationen. Sie fördert die gesellschaftliche | |
Stigmatisierung, wodurch ungewollt Schwangere nachweislich psychisch | |
belastet werden. Besonders problematische [2][Früchte der Kriminalisierung] | |
sind die mangelhafte medizinische Ausbildung und enorme Versorgungslücken | |
deutschlandweit. | |
Der von der AfD erwünschte bevölkerungspolitische Effekt bleibt durch das | |
staatlich verordnete Abtreibungsverbot ebenfalls aus. Ein anschauliches | |
Beispiel hierfür ist unser Nachbarland Polen: Dort sind | |
Schwangerschaftsabbrüche seit 1993 nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt. | |
Trotz dieser massiven gesetzlichen Beschränkung sank die Geburtenrate seit | |
1993 kontinuierlich. 2017 wies Polen die zweitniedrigste Geburtenrate | |
Europas auf. | |
Wer hohe Geburtenraten wünscht, braucht hingegen keine Angst vor der | |
Legalisierung von Abtreibungen zu haben. Die beiden europäischen Länder mit | |
den höchsten Geburtenraten, Schweden und Frankreich, unterstützen ungewollt | |
Schwangere auf vielfältige Weise. Sie schützen diese sogar gesetzlich vor | |
Abtreibungsgegner*innen (Frankreich) und untersagen es Ärzt*innen, aus | |
Gewissensgründen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu | |
verweigern (Schweden). | |
Wie man in Fialas Museum erfährt, gibt es aber tatsächlich einen | |
historischen Fall, in dem ein Abtreibungsverbot zu einer Zunahme der | |
Geburten führte: Das soziale Experiment “Dekret 770“ unter dem rumänischen | |
Diktator Ceaușescu, welcher gebärfähige Menschen mit Zwangsuntersuchungen | |
systematisch überwachen ließ, um Schwangerschaften möglichst früh zu | |
detektieren. Damit machte er illegale Abtreibungen unmöglich. Die Folge war | |
eine enorme Zunahme an Heim- und Straßenkindern, was den Staat vor große | |
soziale und ökonomische Probleme stellte. Dies illustriert einmal mehr: Die | |
betroffenen Frauen sind die einzigen, die eine verantwortungsvolle | |
Entscheidung treffen können. | |
## Frauen werden Kompetenzen abgesprochen | |
Unsere Bundesregierung scheint dies anders zu sehen. In ihrer Antwort an | |
die AfD heißt es, dass „Grundrechte der Frau gegenüber dem grundsätzlichen | |
Verbot des Schwangerschaftsabbruchs“ nicht greifen würden. Sie hätte es | |
deutlicher nicht formulieren können: Wir berauben Frauen ihrer Grundrechte, | |
sobald sie schwanger sind. Die wenigsten wissen, dass es im Rahmen des | |
staatlich gebotenen Schutzes für den Embryo noch immer eine | |
Austragungspflicht in Deutschland gibt. Nachzulesen in der Entscheidung des | |
Bundesverfassungsgerichts von 1993, auf der unser heutiges Strafgesetz zum | |
Schwangerschaftsabbruch beruht. Wir behandeln Frauen wie | |
Embryonen-Container und sprechen ihnen die Kompetenz ab, über ihren Körper, | |
ihre Fruchtbarkeit und ihre Sexualität verantwortungsvoll zu entscheiden. | |
Schlimmer noch: Die angeblich notwendige staatliche Schutzpflicht füttert | |
das gesellschaftlich tief verankerte Narrativ der egoistischen Frau, vor | |
der es den hilflosen Embryo zu schützen gelte. Gleichzeitig erwarten wir | |
von Frauen weiterhin, die Erziehungsarbeit geborener Kinder kostenlos und | |
mit ungenügender staatlicher Unterstützung zu übernehmen. Seit 1871 leben | |
wir mit dieser Doppelmoral: Der Staat bemüht sich mit großem Aufwand um das | |
„ungeborene Leben“, überlässt die Sorge um das geborene Leben aber | |
weitgehend den Frauen. | |
Die angebliche „Schutzpflicht“ des Staates für das „ungeborene Leben“ … | |
nicht realisierbar. Sie ist das Relikt einer zweifelhaften historischen | |
Tradition, in der der Machtanspruch des Staates schwerer wiegt als das | |
Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger*innen. Es stellt sich die Frage, warum | |
der Staat immer noch an dieser nicht umsetzbaren Illusion festhält. | |
Am Ende geht es, wie so oft, um Macht. Und darum, wie sie verteilt ist und | |
wer sie ausübt. Es gibt einige in diesem Land, die Angst haben. Sie haben | |
Angst davor, Privilegien, Kontrolle und Macht abzugeben, und sehen das | |
patriarchale System in Gefahr, von dem sie profitieren. In Alabama stimmten | |
gerade 25 weiße Männer für eine Gesetzesverschärfung, die | |
Schwangerschaftsabbrüche selbst nach Vergewaltigung und bei Inzest | |
bestraft. Die in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt gebliebene kleine | |
Anfrage der AfD an die Bundesregierung sollte uns ein Anlass sein, | |
aufzuhorchen und uns frühzeitig gegen solche Entwicklungen zu organisieren. | |
15 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-zum-Abtreibungsparagrafen-219a/!5603013 | |
[2] /Kommentar-Kompromiss-zu-219a/!5575324 | |
## AUTOREN | |
Alicia Baier | |
## TAGS | |
Lesestück Meinung und Analyse | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
Patriarchat | |
Männer | |
Kristina Hänel | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
Paragraf 218 | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vasektomie – angesagt wie nie!: Schnipp, schnapp, ab | |
Als Reaktion auf das rigide Antiabtreibungsgesetz in Alabama fordert eine | |
demokratische Abgeordnete: Alle Männer ab 50 sollen sterilisiert werden. | |
Kommentar Reform Paragraf 219a: Der Paragraf gehört gestrichen | |
Die Reform von 219a bringt nichts außer maximaler Rechtsunsicherheit. Das | |
Bundesverfassungsgericht muss Klarheit schaffen. | |
Schwangerschaftsabbruch in Kassel: Strafverfahren eingestellt | |
Das Amtsgericht Kassel hat das Strafverfahren gegen zwei Frauenärztinnen | |
wegen verbotener „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ eingestellt. | |
Urteil zum Abtreibungsparagrafen §219a: Geldstrafe für Gynäkologinnen | |
Zwei Frauenärztinnen sind verurteilt worden, weil sie im Netz über | |
Schwangeschaftsabbrüche informierten. Sie sollen jeweils 2000 Euro zahlen. | |
Juristin über die Neuregelung von § 219a: „Das ist völlig widersprüchlich… | |
Erstmals seit der Paragraf geändert wurde, steht wieder eine Ärztin vor | |
Gericht. Juristin Ulrike Lembke über die Chance, dass es noch zu einem | |
besseren Gesetz kommt. | |
Information über Abtreibungen: Erneut Ärztinnen vor Gericht | |
Erstmals seit der Reform des § 219a stehen Mitte Juni zwei Ärztinnen in | |
Berlin vor Gericht. Es sind Proteste angekündigt. |