# taz.de -- Parlamentspräsident hört auf: „Schon ein paar schlaflose Nächt… | |
> Ralf Wieland (SPD) war zehn Jahre lang Präsident des Berliner | |
> Abgeordnetenhauses. Nun hört er auf. Ein Rückblick im Interview. | |
Bild: Ist bald nur noch als Büste im Parlament vertreten: Ralf Wieland (SPD) | |
taz: Herr Wieland, das Ende Ihrer Zeit als Parlamentspräsident fällt | |
ausgerechnet mit dem bislang weitreichendsten Volksentscheid Berlins | |
zusammen. Hat da die direkte gegen die parlamentarische Demokratie | |
gewonnen? | |
Ralf Wieland: Ich glaube nicht, dass man in dem Zusammenhang von Gewinnern | |
und Verlierern reden kann. Wir haben jetzt einerseits ein Ergebnis, dass | |
der Senat ein Enteignungsgesetz vorlegen soll. Auf der anderen Seite haben | |
wir ein frisch gewähltes Parlament, wo vier von sechs Parteien vorher | |
erklärt haben, dass sie gegen diese Enteignung sind. Bei einer Partei, den | |
Grünen, haben wir ein fast sozialdemokratisches Sowohl-als-auch und bei der | |
Linkspartei klare Unterstützung für den Volksentscheid. Wie man das | |
umsetzen will, weiß ich nicht. | |
Ist das eine Schwäche des Verfahrens der Volksgesetzgebung, dass nicht | |
zwingend ein Gesetzentwurf zur Abstimmung vorzulegen ist? | |
Ja, das ist eben der große Nachteil. Beim Volksentscheid 2014, das | |
Tempelhofer Feld nicht zu bebauen, gab es dafür keine parlamentarische | |
Mehrheit – aber weil das Volk dem Gesetzentwurf direkt zugestimmt hat, | |
brauchte sich das Parlament damit gar nicht zu beschäftigen. Ich als | |
Präsident musste das Gesetz nur formal ausfertigen, der Regierende | |
Bürgermeister musste es veröffentlichen, dann galt es. Jetzt aber ist es | |
wie beim Volksentscheid zur Offenhaltung von Tegel 2016: Es ist bloß eine | |
Aufforderung beschlossen worden. | |
Und, wird etwas passieren? | |
Ich sehe das Hauptproblem in der Frage, ob das Land Berlin einen | |
Grundgesetzartikel, den es ja so in unserer Landesverfassung gar nicht | |
gibt, auf Landesebene herunterziehen kann. | |
Sie meinen, wie beim Mietendeckel: Ist Berlin überhaupt zuständig? | |
So ist es. Und dann auch noch mit diesen Eckdaten, vor allem der Grenze von | |
3.000 Wohnungen. Da muss man genau schauen: Haben diese Unternehmen ihren | |
Sitz in Berlin? Hätten wir darauf überhaupt Zugriff? Womit ist die | |
Grenzziehung begründet – warum enteignen ab 3.000 Wohnungen und nicht ab | |
1.500 oder 4.168? Das muss ich doch vor Gericht begründen können. Mit einem | |
fertigen Gesetzentwurf wäre das ziemlich schnell gegangen: Da hätten die | |
Betroffenen sofort geklagt, und das wäre gleich bei Gericht gewesen. | |
Und nun? | |
Jetzt wird das ja viel, viel länger dauern, weil es erst mal einen | |
verfassungskonformen Entwurf geben muss. | |
Für wann erwarten Sie den? | |
Da werden bestimmt anderthalb bis zwei Jahre ins Land gehen. Und nochmal: | |
Das Ergebnis des Volksentscheid kann zwar den Senat zwingen, einen | |
Gesetzentwurf vorzulegen. Aber es kann frei gewählte Abgeordnete nicht | |
zwingen, diesem Entwurf zuzustimmen. Auch wenn manche so argumentieren: | |
Rechtlich ist ein Volksentscheid nicht gewichtiger als ein vom Parlament | |
beschlossenes Gesetz. Das Berliner Verfassungsgericht hat eindeutig | |
erklärt, dass beide auf Augenhöhe nebeneinander stehen. | |
In Ihnen steckt ja trotz 10 Jahren als Präsident auch der langjährige Chef | |
des Hauptausschusses, wichtigster Finanzpolitiker im Abgeordnetenhaus. Was | |
sagt der zu der Sache? | |
Der sagt, dass bei diesen Riesensummen, die da im Gespräch sind, 30 | |
Milliarden und mehr, oft die Schuldenbremse vergessen wird. | |
Laut Initiative soll es ja ganz ohne Geld aus dem Haushalt gehen. | |
Das wird sich zeigen. Aber der Haushalt ist das eine, das andere ist das | |
Grundsätzliche, ob eine Enteignung überhaupt rechtmäßig wäre und wann denn | |
ein Eigentümerwechsel vollzogen würde. 2028? 2030? Oder vielleicht doch | |
erst 2035? | |
Sie könnten jetzt mit der Forderung, aus dem Amt gehen, dass ein | |
Gesetzentwurf zwingend Teil eines Volksbegehrens sein muss. | |
Es wäre besser. Aber andererseits gibt es ja auch Fragen, die nicht ein | |
Gesetz voraussetzen. | |
Wie bei der Abstimmung über die Offenlegung der Teilverkaufsverträge bei | |
den Wasserbetrieben im Jahr 2010. | |
Was dabei ja auch einige vergessen: Das Abgeordnetenhaus kann jeden | |
Volksentscheid mit einfacher Mehrheit wieder kippen… | |
…ungeschriebenes Gesetz aber war, dass das nicht in der derselben | |
Wahlperiode passieren darf. | |
Das ist ja auch sinnvoll. Jetzt ging das ja im Wahlkampf noch einen Schritt | |
weiter: Da haben viele gesagt, dass eine Bebauung am Tempelhofer Feld nur | |
nach einem neuen Volksentscheid möglich sein soll. | |
Die CDU hat in ihrem Wahlprogramm etwas von einer Volksbefragung | |
geschrieben.. | |
… die es in unserer Berliner Verfassung gar nicht gibt. | |
Wären Sie für so etwas? Der frühere Regierungschef Klaus Wowereit hatte das | |
mal gefordert, um Dinge – etwa eine Olympia-Bewerbung – vorab klären zu | |
können, bevor sich Fronten verhärten. Grüne und Linkspartei lehnen das als | |
Demokratie von oben ab. | |
Da gibt es auch bei mir Bedenken. Denn das ist auch nicht ganz | |
ungefährlich: So etwas könnte von einem Senat genutzt werden, um sozusagen | |
am Parlament vorbei zu regieren. Aber da schlagen zwei Herzen meiner Brust, | |
denn es gibt ja gute Argumente dafür, etwas vorab klären zu können. Etwa | |
eine Bewerbung für die Olympischen Spiele können Sie nicht angehen, ohne | |
dass Sie sich vorher bei der Bevölkerung dafür grünes Licht geholt haben. | |
Sonst fangen die Gegner sofort an, Unterschriften dagegen zu sammeln für | |
einen Volksentscheid – der aber möglicherweise erst zwei Jahre später | |
kommt, wenn die Sache weit fortgeschritten ist. Wenn eine Volksbefragung | |
durchgeführt werden soll, dann nur mit 2/3-Mehrheit im Parlament. | |
Nach zehn Jahren zurückschauend: Was war das prägendste Erlebnis Ihrer | |
Präsidentschaft? | |
Das waren ganz klar die vergangenen anderthalb Jahre der Coronapandemie. | |
Die große Aufgabe war, die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses mit dem | |
Gesundheitsschutz zusammenzubringen. Anfangs waren die Parlamente nicht so | |
im Fokus. Aber aus der viel zitierten Stunde der Exekutive wurden ja Wochen | |
und Monate – und irgendwann war nicht nur in Berlin, sondern auch im | |
Bundestag und in anderen Ländern klar: Wenn man eine Akzeptanz in der | |
Bevölkerung für die ganzen Coronamaßnahmen sicherstellen will, dann muss | |
man jetzt auch das Parlament wieder mit ins Spiel bringen. | |
Von einem verkleinerten Notparlament war mal die Rede, es gab hybride | |
Ausschusssitzungen mit Abgeordneten im Saal und zu Hause am Computer und | |
immer neue Einschätzungen zur Ansteckungsgefahr. | |
Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mich mit über 60 | |
Jahren noch mal mit dem Thema beschäftigen muss, was eigentlich Aerosole | |
sind. | |
Wie sind Sie da durchgekommen? | |
Wir hatten sowohl bei den Abgeordneten als auch in der Verwaltung und bei | |
den Mitarbeitern der Fraktion Infektionen, auch schwere Erkrankungen. Wir | |
haben aber niemanden verloren. Das hätte mich auch sehr belastet, denn ich | |
hatte ja eine Verantwortung für diese Menschen, die mir anvertraut waren. | |
Und ich gebe zu, ich hatte schon ein paar schlaflose Nächte. | |
Ihre zweite Amtszeit ab 2016 war auch vom Einzug der AfD geprägt, die einen | |
raueren Ton ins Parlament brachte. Aber manche aus anderen Fraktionen | |
scheinen sich da anzugleichen: In Ihrer letzten Plenarsitzung belegte ein | |
SPDler einen Rechtsaußen-Abgeordneten mit dem Begriff „Arsch“. | |
Die AfD hat tatsächlich dazu beigetragen, dass der Ton rauer wurde, und | |
nicht immer hat die andere Seite adäquat darauf reagiert. | |
Die zentrale Frage ist ja: Ab wann schreitet man ein? | |
Ich vergleiche das immer mit Fußball-Schiedsrichtern. Die müssen irgendwann | |
spüren, dass sie eingreifen müssen, weil ihnen sonst das Spiel entgleitet. | |
Im Hinterkopf hat man bei Ermahnungen und Ordnungsrufen auch, dass | |
Betroffene dagegen klagen können und sagen: Das ist Meinungsfreiheit. Noch | |
heikler wäre es, Abgeordnete wegen einer Äußerung auszuschließen. Das muss | |
gerichtsfest sein. | |
Wird sich dieses Niveau noch mal zurückdrehen lassen? In der fast | |
halbierten AfD-Fraktion sind einige der schlimmsten Zwischenrufer nicht | |
mehr drin. | |
Das bleibt abzuwarten. | |
Dass Sie 1973 schon mit 16 in die SPD eingetreten sind, dürfte viel mit | |
einer bestimmten Person zu tun haben – wir sitzen hier in Ihrem Büro ja vor | |
einer Willy-Brandt-Statue. | |
Eindrucksvoll, oder? Das war ja die Zeit mit der Debatte um die | |
Ostverträge, mit dem „Willy wählen“-Wahlkampf von 1972. Da gab es ein zum | |
Teil vergiftetes Klima und eine wahnsinnige Polarisierung der Gesellschaft. | |
Das hat man sogar auf dem Dorf in der Nähe von Trier mitgekriegt, in dem | |
ich damals lebte. Außerdem, und das wird heute oft vergessen, war die | |
sozialliberale Koalition eine Koalition der Modernisierung: von der | |
Absenkung der Volljährigkeit über den Abtreibungsparagrafen 218 bis zur | |
betrieblichen Mitbestimmung. Das alles waren Gründe für mich, mich | |
politisch zu engagieren und in die SPD einzutreten. | |
Mit 16 wegen Willy Brandt in die SPD – was würde Sie heute mit 64 in Ihre | |
Partei ziehen? | |
Das sind nach wie vor unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, | |
Solidarität und das Ziel, einen Ausgleich in der Gesellschaft zu finden und | |
Chancengleichheit herzustellen. Das sehe ich auch heute so in keiner | |
anderen Partei. | |
Zu Ihrer Bilanz gehört ja auch, dass aus dem Teilzeit- ein | |
Vollzeitparlament geworden ist, was Ihr Vorgänger, Walter Momper, abgelehnt | |
hatte. | |
Ja, er gehörte zu denen, die befürchteten, dass die Verbindung zur | |
Wirtschaft und zum Arbeitsleben abbrechen würde. Diese Verbindung ist nicht | |
unwichtig. Aber sie war schon immer eine Fiktion: Wer sein Mandat richtig | |
wahrnahm, der konnte meist nur dann nebenher noch berufstätig sein, wenn er | |
selbstständig war und seine Zeit frei einteilen konnte, beispielsweise als | |
Anwalt. Eine Verkäuferin im Einzelhandel konnte das nicht. Im Ergebnis | |
waren viele Vollzeit-Parlamentarier, wurden aber nach Teilzeit bezahlt. Und | |
was noch gravierender war: Es gab auch nur eine Teilzeit-Ausstattung, was | |
Mitarbeiter und Büros angeht. | |
In einem Punkt haben Sie sich nicht durchsetzen können: Sie wollten damit | |
einhergehend auch eine Verkleinerung des Parlaments. | |
Ich wäre dafür gewesen, in die Verfassung als Grundgröße 100 oder 110 | |
Mandate statt 130 aufzunehmen. Dafür habe ich immer geworben, bin aber auch | |
bei sehr fortschrittlichen Leuten auf Widerstand gestoßen. | |
Was ist das eigentlich für ein Gefühl, dieses Gebäude zu verlassen und zu | |
wissen: Da steht jetzt bald eine Büste und erinnert noch zu meinen | |
Lebzeiten an mich als Präsident? | |
Ich gebe zu, dass mich dieser Gedanke schon mehrmals beschäftigt hat und | |
ich immer zugesehen habe, ihn schnell wieder zu verdrängen. So richtig kann | |
ich mir das noch nicht vorstellen, weil so eine Büste ja normalerweise | |
etwas ist, was historisch ganz weit nach hinten weist. Also, es fühlt sich | |
ein bisschen komisch an. | |
12 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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