| # taz.de -- Ostdeutschland und Geschichte: Warnung vor deutscher „Nabelschau�… | |
| > Forscher:innen fordern eine stärkere europäische Ausrichtung des | |
| > geplanten „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische | |
| > Transformation“. | |
| Bild: Blick von Frankfurt über die Oder auf das ponische Slubice 1990 | |
| Berlin taz | Eigentlich könnte sich der Ostbeauftragte der Bundesregierung, | |
| Carsten Schneider (SPD), freuen. Denn die Pläne für das „Zukunftszentrum | |
| für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, das die Leistungen | |
| der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung würdigen soll und von Schneider | |
| koordiniert wird, nehmen endlich Gestalt an. | |
| Das Riesenprojekt mit dem sperrigen Arbeitstitel stammt noch aus der Zeit | |
| der Regierung Merkels, die Ampelkoalition hat es übernommen. Das | |
| [1][Zentrum soll Forschungsinstitut,] Begegnungsstätte und Ausstellungsort | |
| in einem werden. Geplant ist ein Gebäude von herausragender Architektur, | |
| mit Platz für bis zu einer Million Besucher:innen pro Jahr. Errichtet | |
| werden soll es irgendwo in Ostdeutschland, im Sommer soll der | |
| [2][Standortwettbewerb] starten. Bewerben wollen sich unter anderem | |
| Leipzig, Halle, Eisenach und Frankfurt (Oder). | |
| „Das Zentrum soll die Erfahrungen und Leistungen der Menschen in | |
| Ostdeutschland in den Jahren nach der Einheit sichtbarer machen. | |
| Gleichzeitig soll es die Bedingungen für eine gelingende Transformation | |
| erforschen sowie Erfolge und Chancen, aber auch lange nachwirkende Folgen | |
| der Transformation untersuchen“, sagt Ostbeauftragter Schneider. Neben den | |
| gesellschaftlichen Umbrüchen in Ostdeutschland werde es auch um die | |
| Freiheitsrevolutionen in den mittel- und osteuropäischen Nachbarländern | |
| gehen. Insgesamt diene das Zukunftszentrum dazu, für die | |
| Transformationsprozesse der Zukunft zu lernen. | |
| Doch nun, kurz bevor der Standortwettbewerb startet, gibt es Streit um das | |
| Projekt. 95 Personen, darunter viele Wissenschaftler:innen, fordern die | |
| Regierung in einem offenen Brief dazu auf, das Konzept des Zentrums zu | |
| überarbeiten. Es brauche eine stärkere europäische Ausrichtung. „Späteste… | |
| der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sollte allen gezeigt haben, | |
| dass eine Beschränkung auf die Zeit nach 1989 ebenso zu kurz greift wie die | |
| Idee, Deutschland allein ins Zentrum zu rücken“, heißt es in dem Papier. | |
| „Es gibt Nationalstaaten, aber keine voneinander losgelösten nationalen | |
| Entwicklungswege. In Europa hängt alles engstens miteinander zusammen.“ | |
| ## Empfehlung der Regierungskommission | |
| Die Unterzeichner:innen fordern daher ein Europäisches Freiheits- und | |
| Zukunftszentrum. Hauptaufgabe sollte sein, „die politischen und kulturellen | |
| Bündnisse zwischen der deutschen Zivilgesellschaft und den europäischen | |
| Nachbarn“ zu stärken, um gemeinsam Freiheit und Demokratie gegen autoritäre | |
| Herrschaft zu verteidigen. | |
| Die Verfasser des Aufrufs sind Uwe Schwabe vom Archiv Bürgerbewegung | |
| Leipzig und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Kowalczuk war einst | |
| Mitglied der Regierungskommission [3][„30 Jahre Friedliche Revolution und | |
| Deutsche Einheit“,] die überhaupt erst die Idee für das „Zukunftszentrum | |
| Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ hatte. Die im Frühjahr | |
| 2019 von Angela Merkel gegründete Kommission hat Handlungsempfehlungen | |
| erarbeitet, um die noch immer vorhandenen strukturellen Ungleichheiten | |
| zwischen Ost und West abzubauen – das Zukunftszentrum war eine der | |
| Empfehlungen. | |
| Neben Kowalczuk haben noch fünf weitere der 22 Kommissionsmitglieder den | |
| offenen Brief unterzeichnet, darunter Maria Nooke, die Brandenburger | |
| Beauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, die | |
| Politologin Judith Christine Enders und Christine Lieberknecht, die bis | |
| 2014 Ministerpräsidentin von Thüringen war und nun Vorstandsmitglied der | |
| Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist. Die damaligen | |
| Vorsitzenden der Kommission, Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident | |
| Matthias Platzeck (SPD) und der damalige Ostbeauftragte Marco Wanderwitz | |
| (CDU), haben das Papier nicht unterschrieben. Wanderwitz teilte der taz | |
| aber mit, den Aufruf „ausdrücklich“ zu unterstützen. | |
| ## Postkommunistischen Raum beachten | |
| Spricht man Kowalczuk auf seine Zeit in der Kommission an, sagt er direkt, | |
| dass seine Forderungen nicht neu seien. Schon damals habe er „mehrfach | |
| heftig“ mit Platzeck über die inhaltliche Ausrichtung des Zentrums | |
| diskutiert und dafür geworben, „keine deutsche Nabelschau“ zu betreiben, | |
| sondern das Zentrum aus einer europäischen Perspektive zu denken. Dass es | |
| im Arbeitstitel des Projekts „europäische Transformation“ heißt, das gehe | |
| auf ihn zurück. | |
| „Die Transformation nach 1989 betraf nicht nur Ostdeutschland, sondern den | |
| ganzen postkommunistischen Raum“, sagt der Historiker. Das Zentrum müsse | |
| Ostdeutschlands Geschichte im Kontext Mittel- und Osteuropas darstellen und | |
| die unterschiedlichen Entwicklungswege in Europa einbeziehen. Außerdem | |
| dürfe man die Geschichte nicht erst ab 1989 betrachten. „Die Notwendigkeit | |
| der Transformationen und ihre verschiedenen Wege werden nur dann | |
| verständlich, wenn die historischen Entwicklungen seit der KSZE-Schlussakte | |
| von 1975 berücksichtigt werden.“ | |
| Dieser Meinung ist auch Uwe Neumärker. Er ist Direktor der Stiftung Denkmal | |
| für die ermordeten Juden Europas und hat den Aufruf unterschrieben. „Wenn | |
| wir so ein Großprojekt angehen, dann muss sich der Blick auf ganz Europa | |
| richten und nicht nur auf die ehemalige DDR“, sagt Neumärker. „Der Westen, | |
| also die alte Europäische Gemeinschaft, hat den früheren Ostblockstaaten in | |
| den vergangenen 30 Jahren zu wenig zugehört.“ Die Mehrheit der Deutschen, | |
| kritisiert der gebürtige Ostberliner, wisse viel zu wenig über die | |
| Freiheitsbewegungen und Transformationen in Mittelosteuropa nach 1990/91. | |
| „Wenn wir uns auch diesen Geschichten widmen, dann ist das ein Mehrwert für | |
| alle, denn dann können wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten | |
| und das Verhalten dieser Länder hoffentlich besser verstehen.“ | |
| ## Mehrere Städte bewerben sich | |
| Ob die Bundesregierung das Konzept für das Zukunftszentrum angesichts des | |
| Aufrufs überarbeiten wird, ist fraglich. „Die europäische und damit | |
| insbesondere die osteuropäische Transformationsperspektive ist bereits in | |
| der bisherigen Konzeption angelegt“, teilte der Ostbeauftragte Schneider | |
| mit. „Diese Perspektive stärker zur Geltung zu bringen, ist auch mir ein | |
| besonderes Anliegen.“ Die Anregungen und Vorschläge der Initiative würden | |
| in die weitere Ausgestaltung des Konzeptes einfließen „können“. Wichtig s… | |
| jetzt, so bald wie möglich mit dem Standortwettbewerb zu beginnen. | |
| Der Historiker Kowalczuk findet es unsinnig, den Wettbewerb einzuleiten, | |
| ohne dass gesellschaftspolitisch diskutiert worden sei, welche Ausrichtung | |
| das Zentrum haben soll. Er betont: „Das bisherige Konzept für das Zentrum | |
| und unser Vorschlag unterscheiden sich erheblich voneinander.“ | |
| Trotz der Debatte über das Zukunftszentrum bereiten die Städte eifrig ihre | |
| Bewerbungen vor. Aus Thüringen wollen sich Jena, Eisenach und Mühlhausen | |
| bewerben, aus Sachsen-Anhalt Magdeburg, Halle und Wittenberg, aus | |
| Brandenburg Frankfurt (Oder) und aus Sachsen Leipzig, Plauen und Chemnitz. | |
| Manche der Städte planen gemeinsame Bewerbungen. Für das Zentrum soll | |
| entweder ein neues Gebäude gebaut oder ein bestehendes umfunktioniert | |
| werden. In Magdeburg könnte es im Wissenschaftshafen entstehen, in Leipzig | |
| im Matthäikirchhof in der Innenstadt, in Frankfurt (Oder) neben der | |
| Stadtbrücke, die ins polnische Słubice führt und für viele als Symbol eines | |
| geeinten Europas gilt. | |
| Die Baukosten werden auf 200 bis 220 Millionen Euro geschätzt, die | |
| jährlichen Kosten auf 43 Millionen Euro. Die Frage, wer für die Kosten | |
| aufkommen werde, sei zum jetzigen Zeitpunkt „nicht seriös“ zu beantworten, | |
| teilte der Sprecher von Carsten Schneider auf Anfrage mit. Das hänge von | |
| den weiteren Planungen ab. | |
| In welcher Stadt das Zentrum am Ende errichtet wird, soll eine von der | |
| Regierung eingesetzte Jury in der zweiten Jahreshälfte entscheiden. Fertig | |
| werden soll das Zukunftszentrum bis zum Jahr 2028. | |
| 16 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/zukunft-deut… | |
| [2] https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-894414 | |
| [3] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-zus… | |
| ## AUTOREN | |
| Rieke Wiemann | |
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