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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Die Erde zu meinen Füßen
> Während er auf seinen Evakuierungseinsatz wartet, beobachtet Georgy
> Zeykov ein brennendes Feld. Er fragt sich: Was wurde aus dem Mann, dem es
> gehörte?
Bild: Georgy Zeykov bei seinem Evakuierungseinsatz am Rande der Stadt Soledar
Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger
bei der humanitären Organisation [1][Rescue Now UA] und hilft bei
Evakuierungen in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy war vor dem
Krieg Unternehmer, designte Kleider und Accessoires. Er beschreibt sich
selbst als „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch
sehr wichtig war.
Ein Feld steht in Flammen, zweihundert Meter von mir entfernt, die Granate
hat es gerade erst getroffen. Kleine Schnipsel schwarzer Asche fallen auf
das Dach eines Autos. Ein paar Erdbrocken sind bis zu mir geflogen, sie
liegen nun an den Spitzen meiner Turnschuhe.
Ich halte mich während meines Evakuierungseinsatzes am Rande der Stadt
Soledar auf, nahe dem Fluss Styx. Dort sitze ich auf dem Boden eines
Busses, die Türen sind offen, meine Füße stehen auf dem Asphalt der Straße.
Ich warte.
Der Bus ist noch leer, der Fluss in Sichtweite. Wir warten auf die Rückkehr
der Pkw-Fahrer. Um zu uns zu gelangen, müssen sie mit unseren Booten den
Fluss überqueren. Genau wie die Menschen, die sie aus dem Kriegsgebiet auf
direktem Weg zu uns bringen. Aus der Welt der Gefahr hinein in die Welt der
Lebenden sozusagen. Sobald die Fahrer ankommen, werden die Menschen in
unsere Busse umsteigen.
## Die russischen Stellungen nur fünf Kilometer entfernt
Anschließend rotiert die Besatzung und wir Wartenden sind mit der nächsten
Evakuierung an der Reihe. Meine Aufmerksamkeit ist auf das brennende Feld
gerichtet. Das Getreide ist bereits geerntet, aber die abgemähten Halme
stecken noch in der Erde. Sie sind eingehüllt in dichten Rauch. Wir sind in
einem Grenzgebiet, hier gibt es keine Feuerwehrleute.
Ich stelle mir das brennende Feld als einen Ort vor, wo [2][keine Granate
eingeschlagen ist] – als ein Feld in Friedenszeiten. Am Rande der
brennenden Fläche befindet sich etwas, das aus der Ferne wie ein Heuberg
aussieht. Vielleicht ist es Weizen. Jemand muss das Getreide ausgesät
haben, als die Kämpfe bereits im Gang waren. Wie mutig, ein Feld in
Kriegszeiten zu bestellen, besonders so nah an der Front.
Die russischen Stellungen sind etwa fünf Kilometer von der Stadt entfernt.
Gestern versuchten sie, die Grenzen zu durchzubrechen, wurden aber
zurückgedrängt. Ich frage mich, ob der Besitzer des Feldes zur selben Zeit
seinen Weizen mähte. War dem Mann klar, wie gefährlich die Situation nur
fünf Kilometer von ihm entfernt war? Ich wüsste gerne, wo er sich nun
aufhält. Ist er gegangen, nachdem er das Feld abgeerntet hat? Oder ist er
irgendwo in einem Keller und wartet darauf, evakuiert zu werden?
## Das Dach bricht ein
Die Halme des Feldes brennen noch immer. Noch immer sitze ich auf dem Boden
des Busses, meine Füße auf dem Asphalt. Meine Gedanken wandern zurück in
die Vergangenheit. Über allen Erinnerungen schwebt der Mann, der das
Weizenfeld mähte.
Da gab es den Tag, an dem der Motor unseres Autos während des
Artilleriebeschusses in Soledar ausfiel: Der Fahrer Sergej und ich mussten
den Wagen anschieben, mit dem wir eigentlich die Menschen im Ort evakuieren
wollten. Zuvor war eine Granate auf die Veranda eines Hauses gefallen, aus
dessen Keller wir nur fünf Minuten früher drei Personen gerettet hatten,
einer von ihnen verletzt. In einem der Stadtviertel wurde geschossen.
In meinen Erinnerungen kann ich das Gefecht noch deutlich hören. Ich
stolpere und schiebe das Auto ein letztes Mal an. Sergej stemmt sein ganzes
Körpergewicht gegen den Wagen. Ich beobachte, wie sich das Fahrzeug von
mir wegbewegt, bis die Kraft auch Sergej verlässt, das Auto langsamer wird
und dann stehen bleibt. Die nächste Granate landet auf dem Dach eines
dreistöckigen Hauses irgendwo hinter mir.
Kurz reißt mich der Mann, der das Feld mähte, aus meiner Erinnerung: Ob er
beim Ernten daran dachte, dass jede Drehung des Lenkrads seine letzte
Bewegung hätte sein können? Meine Gedanken springen wieder zum Dach des
dreistöckigen Hauses zurück. Ein Teil des Dachs beginnt zu brennen, ein
anderer bricht ins oberste Stockwerk ein. Nur der Dachvorsprung bleibt wie
durch ein Wunder stabil.
Am selben Tag mussten wir noch eine ältere Frau und einen Mann evakuieren,
bis wir schließlich selbst von einer verbündeten Fremdenlegion in
Sicherheit gebracht wurden. Der Beschuss und die Rauchentwicklung waren zu
intensiv.
## Die Zeit zerfließt
In meinem Kopf starren mich die Frau und der Mann immer noch an, beide
saßen mir an diesem Tag gegenüber – auf einer improvisierten Bank aus
Brettern und Geröll. Die Kriegsfotografin Tania Synia, der Fahrer Sergej
und ich tranken schweigend Wasser. Zu viel Rauch trocknet die Kehle aus.
Wir alle befanden uns im Keller eines zerstörten mehrstöckigen Gebäudes,
ich habe das Gewusel um uns herum noch deutlich vor Augen. Dutzende
Soldaten der Fremdenlegion gingen an uns vorbei.
Sie trugen rechteckige Abzeichen, eine Hälfte mit der ukrainischen, die
andere mit der georgischen Flagge bestickt. Sie wuschen sich das Gesicht,
sprachen über ihren verwundeten Kameraden und waren dabei immer in
Bewegung. Ein Warten in Aktion. Draußen fielen ununterbrochen Granaten. Ich
weiß noch, dass ich im Keller bei jeder Explosion eine Druckwelle an meinen
Beinen spürte.
Und wieder drängt sich der Mann, der das Feld mähte, zwischen meine
Erinnerungen und mich. Ich werde ihn und das Feld einfach nicht los. Sie
sind ständig in meinem Kopf. Vielleicht hat der Mann auch gewartet. Auf das
Ende dieses Albtraums. Aber konnte er warten, ohne zu handeln?
Die Soldaten im Keller konnten es nicht. Auch ich warte. Ich warte auf die
Stille, auf das Ende des Angriffs. Manchmal habe ich das Gefühl, [3][dass
es Stille gar nicht gibt] – dass es schon immer so laut war.
Die Zeit zerfließt für mich, Momente werden zu Szenen wie dieser: Der
schwarze Audi-Kombi unserer Evakuierungstruppe zieht das liegengebliebene
Auto an einem Abschleppseil durch die Vorstadt von Soledar – vor uns der
Sonnenuntergang, um uns herum die Zerstörung.
Der Anblick schockiert mich nicht mehr. Der Beschuss ist erst seit 20
Minuten vorbei und die Russen könnten jeden Moment wieder loslegen.
Tatsächlich tun sie das dann auch, in dem Moment, als wir die Stadt
verlassen. Die ersehnte Stille setzt erst drei Stunden später ein.
Meine Gedanken und ich kehren in den Moment zurück. Alles, was ich vom Feld
sehen kann, ist mittlerweile vollständig verbrannt. Ich sitze noch immer
auf dem Boden des Busses, warte auf die Fahrer und starre auf die
verbrannten Erdbrocken zu meinen Füßen. Unser Bus ist noch immer leer.
Wieder kreisen meine Gedanken um den Mann, der das Feld mähte. Er ist
wahrscheinlich weg, er ist definitiv weg. Er ist gegangen, um ein anderes
Feld abzuernten.
Aus dem Englischen von Frederike Grund
Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in
und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist
auf [4][Spendengelder] angewiesen.
16 Oct 2022
## LINKS
[1] https://rescuenow.com.ua/en/home/
[2] /Notizen-aus-dem-Krieg/!5863825
[3] /Notizen-aus-dem-Krieg-in-der-Ukraine/!5855536
[4] https://evacuatekharkiv.org/donate/
## AUTOREN
Georgy Zeykov
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