# taz.de -- Neues Album von Sänger Nick Cave: Mutterseelenallein auf der Bühne | |
> Auf seine alten Tage wirkt der australische Sänger Nick Cave entspannter | |
> und der Menschheit zugewandter – auch auf seinem neuen Album. | |
Bild: Nick Cave am Flügel im Londoner Alexandra Palace | |
Vom misanthropischen Zürner, der Inspiration bei alttestamentlichen | |
Schauermärchen sucht, zum zugewandten Menschenversteher: Die Wandlungen des | |
australischen Rockstars Nick Cave über die Jahrzehnte sind dann doch | |
erstaunlich. Der 63-Jährige mit einem Faible für düstere Abgründe macht | |
dieser Tage jedenfalls eine deutlich [1][sympathischere Figur] als noch vor | |
15 und vor 25 Jahren: Damals blieb Cave bisweilen arg abonniert auf seine | |
Rolle als böser Mann – nicht zuletzt aufgrund der vielen toten Frauen, die | |
seine Songs aus jenen Karriereabschnitten bevölkerten. | |
Auch wenn die Musik zu Caves Gothic-Texten oftmals toll war. Inzwischen | |
scheint der Herrenanzugträger nicht zuletzt über sich selbst lachen zu | |
können. Unlängst erzählte er der Financial Times, dass die von ihm selbst | |
designte erotische Tapete, die er in seinem kuriosen Onlineshop [2][Cave | |
Things] feilbietet, bisher keinen einzigen Käufer gefunden hat: „Ich bin | |
wirklich stolz, dass ich etwas geschaffen habe, was absolut niemanden | |
interessiert.“ | |
Wo Cave in der Vergangenheit bisweilen prätentiös, manchmal auch reaktionär | |
wirkte, scheint in seinem zurückgelehnten Entertainerdasein dieser Tage | |
lebenssatte Reflektiertheit durch – ersichtlich etwa am Handling seiner | |
Website [3][The Red Hand Files], auf der er seit gut zwei Jahren den | |
empathisch-philosophischen Briefkastenonkel gibt und das auf | |
zugewandt-freundliche, bisweilen ziemlich lustige und gelegentlich | |
kontroverse Weise. | |
## Wortklauberei der BBC | |
Der neueste Eintrag beschäftigt sich etwa mit der Zensur des | |
Weihnachtssongs „Fairytale of New York“ durch die britische BBC. Der | |
ehrwürdige Radiosender hat seit diesem Jahr im Stück der Folk-Punk-Band The | |
Pogues, dem meistgespielten in Großbritannien – und es gehört nicht nur in | |
Caves Augen zum Besten seines Genres –, das Wort „faggot“ durch ein in | |
diesem Kontext sinnfreies „haggard“ ersetzt. Wenn der Begriff für manche | |
Hörer:innen so anstößig sei, hätte der Sender den Song lieber ganz | |
weglassen sollen und ihm damit zumindest seine Würde und den „outlaw | |
spirit“ gelassen, moserte Cave laut und deutlich. | |
Darüber hinaus ist das Spektrum der Fragen, die er in seinem Onlineforum | |
bereitwillig beantwortet, breit. So beleuchtet er die Fallstricke und | |
Vorteile von Schüchternheit: Dass der Zustand sein kann wie ein Orchester, | |
das sich aufeinander einschwingt, dass Schüchternheit lähmen, aber auch den | |
Weg zu Neuem ebnen kann. In dem Zusammenhang plaudert er auch über die | |
„mutual shyness“, die sein erstes Date mit seiner späteren Frau Susie Bick | |
begleitete. | |
Immer wieder Diskussionsgegenstand ist auch, dass Cave nichts von einem | |
kulturellen Boykott Israels hält, den die besonders in Großbritannien | |
aktive Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unverfroren | |
propagiert; unter anderem indem sie Popkünstler wie Nick Cave unter Druck | |
setzt, nicht in Israel aufzutreten. Und natürlich ist Verlust immer wieder | |
ein Thema – Cave hat sehr offen den tragischen Unfalltod seines 15-jährigen | |
Sohns im Jahr 2015 betrauert, unter anderem in Songs auf den Alben | |
„Skeleton Tree“ (2016) und [4][„Ghosteen“ (2019)] und im [5][Dokumentar… | |
„One More Time With Feeling“ (2016)]. | |
## Intensive Performance | |
Offenbar bekam Cave in seiner öffentlichen Trauer gerade im Austausch mit | |
seinem Publikum Trost gespendet. Ein intensiver Performer war er von jeher, | |
in den letzten Jahren entwickelte er auf der Bühne jedoch zunehmend | |
charismatische Präsenz: Selbst in den stadionartigen Auftrittsorten, die er | |
mit seiner Band The Bad Seeds mittlerweile ausverkauft, gelingt es Cave, | |
eine intime Verbindung zum Publikum herzustellen. | |
Die eigentlich für das vergangene Frühjahr geplante Europatour sollte das | |
bisher Dagewesene toppen, mit Gospelchor und allem Drum und Dran. Doch | |
daraus wurde aus den bekannten Gründen erst mal nichts. Das Konzert, das er | |
stattdessen im Juli aus einer prachtvollen, viktorianischen Konzerthalle | |
auf einer grünen Anhöhe im Norden Londons auf die Bildschirme seiner Fans | |
streamte, nannte er „Idiot Prayer: Nick Cave Alone at Alexandra Palace“. | |
Dabei liegt die Betonung vermutlich auf „alone“, schließlich könnte man | |
auch solo sagen: Wenn Cave, so der Subtext, sein Publikum nicht in seine | |
Auftritte einbeziehen kann, wie er das dieser Tage gerne tut, fühlt er sich | |
eben allein. Zugleich ist der Zustand des Alleinseins ein natürlicher: Oft | |
notwendig und im besten Falle produktiv. Und allein sind wir alle | |
irgendwie, das hat die Pandemie verdeutlicht. Die Konsequenz, mit der Cave | |
sich hier auf sich selbst zurückwerfen lässt, ist jedenfalls bemerkenswert. | |
Und tut seinen Songs gut. | |
## Immer neue Lichtstimmungen | |
In einem großen, immer wieder in neue Lichtstimmungen getauchten Raum, | |
spielt sich Cave dabei durch sein Schaffen der letzten dreieinhalb | |
Jahrzehnte: Das auf dem Album „Your Funeral, My Trial“ (1986) noch etwas | |
unfokussiert schunkelig daherkommende „Sad Waters“ erhält nun eine nie | |
dagewesene Eindringlichkeit; „Palaces of Montezuma“, ein Song aus dem | |
Repertoire seines Nebenprojekts Grinderman, bliebt ein aus den Angeln | |
gehobenes und doch treffsicheres Liebeslied. In der skelettierten und | |
zugleich loungig swingenden Form kommen wilde Assoziationsketten wie „Well, | |
the hanging gardens of Babylon, Miles Davis, the black unicorn, I give to | |
you“ fast noch besser zur Geltung. | |
Und „Girl in Amber“, zu finden auf dem Album „Skeleton Tree“, transport… | |
ohne die elektronisch bearbeiteten, geisterhaften Stimmen fast noch mehr | |
Isolation und Trauer. In gewisser Weise knüpft der Komponist mit diesen | |
Neuinterpretationen an die Auftrittsreihe „Conversations With Nick Cave“ | |
an, mit der er 2019 auf Tour ging. Dabei erklärte und dekonstruierte er | |
seine Songs, indem er sie neu interpretierte. | |
Der „Idiot Prayer“-Songreigen wirkt intim, aber diese Intimität ist nicht | |
erdrückend. Eher haben die Stücke etwas Entrücktes, wie flackernde | |
Traumwelten. Trotz der minimalistischen Darbietung nur mit Gesang und | |
Klavier wirken sie keineswegs gleichförmig. Immer wieder ruft Cave ein | |
neues Register auf: mal aufbrausend, mal traurig, dann wieder flehend. Mal | |
klingt er ganz introspektiv, dann wieder expressiv. | |
## Was baumelt am Skelettbaum? | |
Lediglich ein bisher unveröffentlichtes Stück – „Euthanasia“, entstanden | |
während der Arbeit an „Skeleton Tree“ – ist auf dem Album zu finden. Ein | |
Drittel der 22 Stücke, der titelgebenden „Idiot Prayer“ inklusive, stammt | |
vom klavierlastigen Herzschmerz-Album „A Boatman’s Call“ (1997), auf dem | |
Cave die Trennung von seiner damaligen Freundin PJ Harvey verdaute. Dennoch | |
wirkt das Songmaterial frisch. Sogar der fiebrig-psychedelische | |
Postpunk-Reißer „Mercy Seat“ (1988), seit Jahrzehnten fester Bestandteil | |
des Live-Repertoires der Bad Seeds, entwickelt neue Tiefe. | |
Der Stream aus dem Juli, auf dem das jetzt erschienene Album basiert, hatte | |
etwas Soghaftes, wozu sicher der Umstand beitrug, dass das Pausedrücken, | |
Vor- und Zurückspulen und Nachgucken nicht möglich war. So wurde eine Form | |
der Konzentration erzwungen, die sich auf digitalem Weg sonst schwer | |
erzeugen lässt. Und doch lenkte die derart perfekt inszenierte Theatralik, | |
die Cave und sein Team in den verlassenen Alexandra Palace zauberten, auch | |
von der Essenz der Songs ab. | |
Und machte deutlich, was fehlt, wenn bei einem Konzert der Austausch, das | |
gemeinschaftliche Erleben mit den Zuschauer:innen fehlt. Beide | |
Präsentationsformen, Audio und Video, haben ihren jeweils eigenen | |
[6][Reiz]. Auf Tonträger hört man noch intensiver hin, wie diese | |
altbekannten Songs neue Resonanzräume entwickeln. | |
Sofern Kulturorte im kommenden Frühjahr wieder eröffnen, soll Nick Caves | |
Konzert, in leicht erweiterter Form, am 14. Januar 2021 auch weltweit auf | |
der großen Kinoleinwand zu sehen sein. Das wäre dann zwar noch kein | |
Konzert, aber immerhin ein etwas gemeinschaftlicheres Erlebnis als allein | |
am heimischen Computer. | |
3 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://ID%204190062, | |
[2] https://cavethings.com/ | |
[3] https://www.theredhandfiles.com/ | |
[4] /Neues-Album-von-Nick-Cave/!5634747 | |
[5] /Dokumentarfilm-ueber-Nick-Cave/!5336920 | |
[6] /Tribute-Album-zu-Marc-Bolan-und-T-Rex/!5708376 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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