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# taz.de -- Neue Biografie über Astrid Lindgren: Eine innerlich starke Frau im…
> Vor 25 Jahren besuchte Jens Andersen Astrid Lindgren in der Stockholmer
> Dalagatan. Nun ist seine Biografie auf Deutsch erschienen.
Bild: Astrid Lindgren im Jahr 1997 in Stockholm.
In der deutschen Übersetzung heißt diese Biografie ganz klassisch „Astrid
Lindgren. Ihr Leben“. Der dänische Originaltitel aber lautet: „Denne dag,
et liv“ (Dieser Tag, ein Leben). Der Titel ist dem Autor Jens Andersen
keineswegs zufällig eingefallen. Ihm liegt ein Zitat des schwedischen
Aufklärungsdichter Thomas Thorild zugrunde. Als 17-Jährige hat Astrid
Lindgren, die damals Ericsson hieß und eine Journalistenlehre bei der
Zeitung Vimmerby Tidning absolvierte, mit fünf Freundinnen eine 300
Kilometer lange Wanderung und Reportagereise durch Südschweden unternommen.
1925 war das.
Als die jungen Damen sich plötzlich im Haus der Reformpädagogin und
Schriftstellerin Ellen Key wiederfanden, stand das Zitat auf die Wand
gemalt. Es sprang Astrid Lindgren in die Augen. 1900 war Keys
Erfolgsschrift „Das Jahrhundert des Kindes“ erschienen. Die blutjunge
Astrid Lindgren nahm sich Thorilds Worte zu Herzen und hat sie
verwirklicht: Das 20. Jahrhundert als Jahrhundert des Kindes? Niemand hat
das ernster genommen als sie.
Der dänische Autor Jens Andersen ist 60 Jahre alt, seine Augen sind blau
wie schwedische Waldseen, und wenn man behauptet, dass er ein Renommee als
einer der besten biografischen Schriftsteller Skandinaviens hat, ist es
nicht zu viel gesagt.
Seine zwei Bände über Hans Christian Andersen sind preisgekrönt, sogar die
gegenwärtige Königin Margrethe hat er unter die Lupe genommen. In seinem
dänischen Verlag Gyldendal im Zentrum von Kopenhagen erzählt er über seine
lange dauernde Liebe zu Astrid Lindgren.
Der Autor beweist in der Biografie durchaus den nötigen Abstand zu seinem
Gegenstand, hört sich aber wie ein Fan an, wenn er über Astrid Lindgren
spricht: „Seit vielen Jahren hatte ich Lust, eine Biografie über Astrid
Lindgren zu schreiben. Ich kenne sie aus meiner Kindheit, seitdem ich
,Karlsson vom Dach‘ gelesen habe. Wenn ich mich zu Hause allein fühlte,
dachte ich, dass es toll wäre, wenn so ein Mann mit einem Propeller auf dem
Rücken auftauchen würde. Statt meines Vaters, der wenig da war.
## Interview in der Dalagatan in Stockholm
Nachdem ich sie jahrelang mit Anfragen bombardiert hatte, konnte ich 1990
endlich ein Interview mit Astrid Lindgren führen. Wir saßen in ihrer
Wohnung in der Dalagatan in Stockholm, und es war genauso magisch für mich
wie für alle anderen, die vor mir da gesessen hatten. Sie war weltberühmt,
trotzdem hat sie mich mit Wärme und Toleranz umarmt. Nur die Götter wissen,
woher das alles kam, woher sie diese Kraft hatte.“
Mehrmals hat Jens Andersen sich bereits mit Vorarbeiten zur Biografie
beschäftigt, letztlich fehlte ihm aber lange der rote Faden. Hätte er auf
seine eigene Kindheit zurückgeschaut, auf das Gefühl, sich allein zu
fühlen, und wie er dann Trost bei Lindgren fand, wäre er vielleicht früher
auf ihn gekommen. Letztendlich ist tatsächlich die Einsamkeit zum
Hauptthema in der Biografie geworden.
Als „Deine Briefe lege ich unter die Matratze“, das die Zeugnisse aus
Lindgrens jahrelanger Brieffreundschaft mit dem jungen Mädchen Sara
Schwardt enthält, vor ein paar Jahren in Schweden erschien, berührte es
Jens Andersen zu lesen, wie Lindgren sich in einem Teenager spiegelt und
ganz offenherzig über die, wie er sie nennt, „schwierige (und vielleicht
notwendige) Einsamkeit“ schreibt.
## Die erste skandinavische Lindgren-Biografie seit 40 Jahren
Jens Andersen: „In ihren Werken beschäftigt sie sich intensiv mit der
Einsamkeit. Und ich habe verstanden, dass hier ein unbekannter Weg in ihr
Werk und ihr Leben führt. Sie kann uns über Einsamkeit erzählen, Sachen,
die wir vergessen haben. Heutzutage sind wir die ganze Zeit online, allein
schon der Gedanke an Einsamkeit ist unerträglich.“ Somit ist kein Schwede,
sondern ein Däne der Autor der ersten skandinavischen Lindgren-Biografie
seit 40 Jahren geworden.
Karin Nyman, die Tochter von Astrid Lindgren, hat Andersens Durchdringung
von Astrid Lindgrens Leben ermöglicht. Unmittelbar hat die jetzt 81-jährige
Frau zwar nicht verstanden, wohin Jens Andersen mit dem Einsamkeitsthema
wollte, sie hat ihm aber Vertrauen gezeigt. Außerdem fand Nyman es lustig,
dass er nicht Schwede war.
Zudem gab es eine Verbundenheit zu Dänemark durch ihren Bruder Lasse. Der
uneheliche Sohn, den die 19-jährige Astrid 1926 in Kopenhagen bekommen hat,
verbrachte die ersten drei Jahre seines Lebens bei einer Pflegemutter in
der dänischen Hauptstadt, bis Astrid ihn endlich nach Schweden holen
konnte. Das Gefühl der Verlassenheit von Kindern hat Astrid Lindgren in
erster Linie durch die Einsamkeit ihres Sohns und seinen schwierigen Anfang
ins Leben kennengelernt.
## Vollzeitautorin, Teilzeitredakteurin und Hausfrau
Die Geschichte von Astrid Lindgren selbst ist die Geschichte einer Frau des
20. Jahrhunderts. Jens Andersen erzählt: „Von Anfang an ist sie ein
Wildfang und lässt sich schwer einordnen. Man erkennt sie als modernen
Menschen: Sie möchte gleichzeitig Kinder haben und sich mit den Männern
messen können. Sie hat sich einem verrückten Leistungsdruck ausgesetzt als
Vollzeitautorin, Teilzeitredakteurin und Hausfrau. Dazu hatte sie die
Fähigkeit, sich hinter einer Maske zu verstecken. Aber die Melancholie lag
direkt drunter.“
Er fährt fort: „Zeitweilig war sie ganz eindeutig, wenn man es modern
ausdrücken will, eine Frau im Stress. Aber sie hatte einen einzigartigen
Selbsterhaltungstrieb. Wohl eine Mischung aus ihrer småländischen
Anspruchslosigkeit und ihrer inneren Stärke.“
Dann kommt Jens Andersen auf die deutsche Freundin von Astrid Lindgren zu
sprechen. Sie hieß Louise Hartung. Die zwei Frauen lernten sich 1953 in
Berlin kennen, wurden augenblicklich voneinander eingenommen, bis zu
Louises Tod 1965 pflegten sie eine enge Freundschaft und tauschten über 600
Briefe aus. Es dauerte nicht lange, bevor klar wurde, dass Louise Hartung
in Astrid Lindgren verliebt war. Astrid Lindgren dagegen stand nicht auf
Frauen, vermochte die Geschichte aber so zu steuern, dass sie Freundinnen
verblieben.
In den Briefen an Louise wird deutlich, wie groß der Druck auf Lindgren
gewesen sein muss. „Sie erzählt oft, dass sie völlig am Boden zerstört sei,
zuweilen hat sie das Leben satt. In den 1950er Jahren fühlt sie sich wie
getrieben, sie wird immer größer in Deutschland und im Rest der Welt“, sagt
Jens Andersen.
## Fenster zur Welt
Er unterstreicht, dass Louise Hartung, die im Hauptjugendamt arbeitete und
für die Entnazifizierung deutscher Kinder und ihrer Eltern zuständig war,
eine ganz wichtige Person im Leben der schwedischen Schriftstellerin wurde.
„Für Astrid war Louise ein Fenster zur Welt. Louise hatte die Größe und den
Fall Berlins in der Stadt selbst erlebt, Astrid hatte keine anderen
internationalen engen Freunde. Louise war klassisch kultiviert, und sie
wurde eine großartige Leserin aus erster Hand.
Sie konnte Schwedisch und wurde Astrids Ratgeberin und ein Filter zwischen
Astrid und den nicht immer geschmeidigen deutschen Übersetzungen, die den
Text durchaus teilweise zensierten, um die Kinder zu verschonen“, sagt Jens
Andersen. Sein nächstes Buch, das im kommenden Jahr in Schweden erscheinen
wird, ist eine kommentierte Ausgabe der Briefe zwischen Astrid Lindgren und
Louise Hartung.
Und seine Lieblingsfigur bei Astrid Lindgren? Jens Andersen sagt: „Ich bin
ein eingeschworener Fan von Michel aus Lönneberga. Aus zwei Gründen.
Erstens lese ich die Geschichten wie eine Saga. Die 15 Geschichten sind wie
ein Schelmenroman wie etwa ,Don Quijote‘. Astrid Lindgren spielt mit dem
Leser. Die Hefte von Michels Mutter Alma werden gefunden, aber wer ist
eigentlich der Erzähler? Sie sind souverän geschrieben, meiner Meinung nach
ist das Weltliteratur. Lindgren nimmt uns mit in einen Raum, in dem es von
Bildern wimmelt.“
Und zweitens? „Zweitens“, sagt Jens Andersen, „kann man Michel eigentlich
gar nicht vorlesen, weil man sich dabei totlacht. Er hat die gleiche
Zivilcourage wie auch Pippi, Ronja oder die Brüder Löwenherz. Und die
Geschichte ist fast biblisch. Das macht ihn zu meiner absoluten
Lieblingsfigur.“
1 Dec 2015
## AUTOREN
Henriette Harris
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