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# taz.de -- Nachlese zu den Stuttgarter Krawallen: Shopping on the wild side
> Auch bei der Protestkultur gibt es eine Umverteilung von unten nach oben.
> Und die grünen Spitzenpolitiker haben ihre eigene Geschichte vergessen.
Bild: Schlimm. Schlimm-schlimm: einhellige Verurteilung der Stuttgarter Krawall…
Als ich Mitte der 90er Jahre das erste Mal längere Zeit in Stuttgart war,
ist mir beim Joggen in den akkurat gepflegten Waldgebieten der Umgebung ein
Phänomen aufgefallen, dessen Eigenart unterdessen kein Erstaunen mehr
hervorruft. Ein Mann zwischen dreißig und vierzig, eine Frau ähnlichen
Alters oder, nicht selten, ein Paar schiebt beim Feierabendlauf einen
leichtgängigen Wagen, in dem ein Kind schläft, auf dem asphaltierten
Waldweg vor sich her. Praktisch.
Mir kam es damals indes vor, als sollte mit der Maßnahme – Nachwuchs beim
Joggen prächtig aufgehoben, zudem schlafend, weil bewegt – noch der
allerletzte Timeslot effektiv ausgequetscht werden. Auch heute ist das
Verfahren, das längst bis in den letzten Winkel der Republik exportiert
worden ist, für mich ein Sinnbild für eine Art zu leben, die ich als
„Stuttgarter Modell“ bezeichnen möchte: Aktivität bis zur Nachtruhe,
multifunktional und äußerst effizient organisiert.
Ich will das nicht schlecht reden: Wenn die Arbeit okay ist und die Familie
sich heimelig anfühlt – bingo. Nicht wenige sind dort angekommen und fühlen
sich wohl. Sie bilden das Rückgrat der Gesellschaft – na ja, einen Teil
davon, darauf werde ich noch kommen.
Die Partyszene am Schloss und in dessen näherer Umgebung – ob gebürtig in
Backnang oder Aleppo oder vielleicht in Split, in Dschalalabad – hat das
„Stuttgarter Modell“ weder verinnerlicht noch bisher überhaupt begriffen.
Die Anmutung des Bildes: Arbeit im Büro, Häuschen, Familie & gemeinsames
Joggen am Bärensee, empfinden viele derer, die am warmen Wochenende die
Zeit auf dem Schlossplatz totschlagen, entweder als unerreichbar oder –
noch – als Zumutung.
Für die Abkürzung zum neuesten Handy, zur coolen Turnschuh-Kollektion sind
sie hingegen häufig durchaus offen.
Womit wir bei der [1][Nacht der Scherben] wären.
## Schlimm! Schlimm-schlimm!
Die Würdigung des Krawalls in – ausgerechnet! – der schwäbische Metropole
war einhellig: Schlimm. Schlimm-schlimm. Und noch viel schlimmer. Zum
Verwechseln ähnlich dem medialen Reflex auf die eine oder andere Randale,
das eine oder andere vergleichbare Ereignis während der mittlerweile
offenbar recht fernen 60er, 70er und 80er Jahre.
Auch die hohen Herren der Regierungen von Land und Stadt machten da keine
Ausnahme, obwohl doch gerade die Grüne Partei, die demnächst mit [2][Horst
Seehofers CSU] koalieren möchte, wie sonst wohl keine in der Republik aus
der Krawallkultur quasi geboren wurde.
Sowohl [3][Herr Kretschmann] (ehemals: Kommunistischer Bund
Westdeutschland, KBW) als auch Fritz Kuhn haben ein Alter, das es ihnen
ermöglichen sollte, sich an derlei Geschehen zu erinnern.
## Herr Kuhn und Herr Kretschmann
Gut, Fritz Kuhn, schon neoliberal angehaucht, als das Wort noch nicht
erfunden war. Gut, der Herr Kretschmann: pastoraler Gestus, der jeden
Pastor vor Neid erblassen lässt. Gut, Grüne Partei: heute der Hort von
international agierenden Unternehmensberatern (die eine „exklusive
Partnerschaft mit der Albright Stonebridge Group in Washington, D. C.“
unterhalten) oder nicht sonderlich erfolgreichen Kinderbuchautoren (die
lieber Kanzler werden wollen) – dennoch: „Nulltarif / Nulltarif / sonst
biegen wir die Schienen schief“, so der hübsche Slogan unter anderem des
KBW in Heidelberg, entsprechend wurde verfahren.
Oder, zum Beispiel, die Schlacht um den Bauplatz von Grohnde, 1977, oder
die illegalen 100.000, die sich Ende Februar 1981 auf den Weg nach Brokdorf
machten und erst durch den massiven Einsatz von Tränengas, das aus
Hubschraubern verschossen wurde, vom Zaun des AKW abgedrängt werden konnten
– die eine oder andere maoistische Vorfeldorganisation der Grünen Partei
hatte ihre Finger mit Gewissheit in nicht geringem Umfang immer mit im
Spiel.
Alte Zeiten, zugegeben.
Trotzdem kann ein bisschen Geschichtsbewusstsein oder Erinnerungsvermögen
hilfreich zur Beurteilung bestimmter Phänomene sein.
## „Hier ging es sehr stark ab“
Ein Krawall wie der Stuttgarter wird nicht nur durch diejenigen ermöglicht,
die zur Aktion schreiten, sondern vor allem auch durch die, die mitlaufen,
die dabei bleiben, die die Angelegenheit, und sei es durch bloße
Anwesenheit, befeuern.
Aufschlussreich in dem Zusammenhang [4][der kaum volljährige Jüngling] mit
blond-modischer Frisur, der sich in der 20-Uhr-„Tagesschau“ vom 21. Juni
äußern darf, später aber aus dem Video entfernt worden ist, und mit einer
Stimme, der man noch die Verblüffung anhört und das Wissen, vorsichtig in
der Wortwahl sein zu müssen, die jedoch von keinerlei Distanzierung gefärbt
ist, die wenigen Worte äußert: „Hier in Stuttgart … ging es sehr stark ab…
Im Hintergrund lächelt ein Mädchen.
Bei der Einordnung der Ereignisse wurde zunächst auf drei Aspekte
abgestellt: kein politisches Motiv; Hälfte der Verhafteten ohne deutschen
Pass; Testosteron.
## Hinweis auf Testosteron
Dass die Hälfte der Festgenommen nicht den fraglichen Pass besitzt, lässt
keinen Rückschluss auf die Gemengelage zu. Ob es stimmt, dass [5][kein
Motiv mit Gehalt] vorliegt, möchte ich untersuchen. Der Hinweis aufs
Testosteron – oft bemüht, stets debil – hat etwa die Qualität der
Feststellung, dass beim Rumor nahezu alle Beteiligten über zwei Beine
verfügen.
Mit Gewissheit werden bei jedem Aufruhr, selbst bei den auch in Württemberg
gern gefeierten Erhebungen der Bauernhaufen um 1525, junge Männer eine
Rolle gespielt haben – Frauen oft eher indirekt. Testosteron und Alkohol,
ach so.
Plötzlich jedenfalls wird etwas sichtbar (aufgepasst, PR-Strategen:
Sichtbarkeit, ein Begriff der aktuell unheimlich Konjunktur hat!), dessen
Existenz vorher gar nicht in Erwägung gezogen wurde. Kritik, nein, sogar
Empörung, das zielte doch auf: richtiges Reden, richtiges Schreiben,
richtiges Essen und richtigen Tonfall, Haut (und deren Pigmentierung),
[6][die eine oder andere Großbaustelle].
## Protestkultur der Bessergestellten
Wenn man ganz vorn dabei sein wollte, wedelte man auf der Demo (jetzt im
Stream – wow!) mit einer goldenen Rettungsdecke (um im Jargon zu bleiben:
Wie ungemein peinlich ist das denn?) oder folgte einem medial
Eins-a-inszenierten Hobbit aus Schweden.
Längst okkupiert von einer Schicht der tatsächlich (manchmal nur:
vermeintlich) Bessergestellten, hat auch die Protestkultur eine rapide
Umverteilung von unten nach oben erfahren: Quoten bis in die
Vorstandsetagen, herrschaftsfreie Diskursgesänge, Gender und Sternchen in
möglichst jeder Akademie, und nicht zu vergessen: satt
Suppenküchensolidarität auf sämtlichen Ebenen, für das reine Gewissen oder
das gute Gefühl.
Und plötzlich tauchen da Leute auf, die machen Fensterscheiben kaputt,
beulen sich mit der Polizei – in Schwaben, in Stuttgart: Fuck you, was soll
das?
## Risse durch die Gesellschaft
Wenn man an den Wochenenden vor der Scherbennacht durch die Partyecke
Stuttgarts schlenderte, war eine zunehmende Anspannung mit den Händen zu
greifen. Es war warm geworden. Die Abschottung wegen Corona hatte die Jungs
und Mädels, die rings um den Schlossplatz abhingen, langsam kribbelig
werden lassen. Blöd bloß, das die sinnentleerten Surrogatfunktionen
„Stadion“ und „Club“ weiterhin geschlossen waren. Die Überdruckventile…
Freitag-Samstag-Sonntag blieben leider zu.
Einer der, vielleicht wesentlichen, Risse durch die Gesellschaft besteht
zwischen denen, die nicht nur im „Modell Stuttgart“ angekommen sind,
sondern in ihrer Tätigkeit zudem einen Sinn sehen (firmiert dann in der
Regel unter dem, etwas albernen, Begriff der Selbstverwirklichung), und
denen, die, wenn überhaupt, arbeiten, um ihren Lebensbedarf zu decken und:
um zu konsumieren.
Für die Plebejer aller Schattierungen, denen der herrschende Zustand vor
allem Zumutung ist, heißt der Job: knechten & shoppen – knechten, um zu
shoppen.
## Die Maschine muss laufen
Allein die Bezeichnung „Shoppen“, das dekadente Defilieren durch zumeist
zweckfreie Warenbestände sowie deren Erwerb, ist derart aberwitzig, um
nicht zu sagen: voll pervers, dass jedem, der es in den Mund nimmt, die
Spucke zu Trockeneis gefrieren müsste.
Weit gefehlt. Von der FDP bis zu den Gewerkschaften und, klar, auch Gerhard
Schröder, aufrechter Sozialdemokrat, ganz in der Tradition seiner Partei
(H. Schmidt: Leningrader Hungerblockade; W. Brandt: Berufsverbote; G.
Noske: „Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden“), haben sie alle den
Konsum zur nationalen Aufgabe geadelt. Hier mal ein bigottes Bekenntnis zum
Verzicht, dort mal ein kleines Krächzen zum Klima, aber: Die Maschine muss
laufen. Das heißt: Malochen, um zu kaufen.
Die Mädels und Jungs vom Schlossplatz haben zumindest das längst begriffen:
Die Woche gehört denen, das Wochenende uns.
## Anhängen und tanzen
Da hängen wir ab, da gehen wir tanzen (so wir den Eintritt aufbringen
können), da nehmen wir Drogen, all das Zeug, das sich im Angebot befindet
und das die Veranstalter der Festivals (Beispiel: die „Fusion“ – als sie
noch stattfand) dazu gebracht hat, eigens Sanitätsstationen zur Nothilfe
für die an den Pillen fast Verreckten einzurichten – Tanzen bis zur
Dehydrierung; oder eventuell Ketamin, Narkosemittel für Pferde: Beim Rausch
muss darauf geachtet werden, dass die starr geöffneten Augen nicht
unversehens austrocknen.
Das sind die Alternativen zum „Stuttgarter Modell“.
Das markiert den Unterschied zu den 60er, 70er und 80er Jahren, als Protest
wie Aufruhr auf eine radikal veränderte Gesellschaft abzielten.
## Als die Grünen noch radikal waren
Kretschmann und Kuhn werden das wissen. Kuhn und Kretschmann kennen die
Anfänge der Grünen Partei, den durchaus originellen Umgang mit staatlichen
Institutionen, können die drei der (ersten) sieben Grünen-Kandidaten, die
1984 ins Europaparlament gewählt wurden und so Immunität errangen, gewiss
noch beim Namen nennen: Brigitte Heinrich, verurteilt unter anderem wegen
Waffenschmuggels für ein Anarchistennetzwerk, Benny Härlin und Micha
Klöckner, in Haft wegen presserechtlicher Verantwortung für das Erscheinen
der nicht genehmen linken Zeitschrift radikal (der Name war Programm).
Kretschmann und Kuhn werden vielleicht eine Ahnung vom enormen Anstieg
psychischer Krisen und Therapien bei jungen Menschen zwischen 16 und 30
Jahren haben. Kuhn und Kretschmann werden sich vage daran erinnern, dass
die zweite Generation der Roten Armee Fraktion ihre Wurzeln im
Sozialistischen Patientenkollektiv hatte, SPK (vornehmlich Heidelberg),
das die Parole kreiert hat: „Aus der Krankheit eine Waffe machen.“
Kuhn und Kretschmann werden zudem ahnen, dass einige Akteure der
Scherbennacht nach einer Karenzzeit von ein paar Jahren das Ereignis für
eine pfiffige Agentur mit dem Slogan „Shopping on the wild side“ für
Stuttgart touristisch vermarkten werden. Und vielleicht wird Kuhn und
Kretschmann dunkel die Erkenntnis dräuen, die einst als selbstverständlich
galt: des wirklich armen Schluckers Initiative war stets die Rebellion.
## Betreuung für Krawallanten
Das Wissen jedoch werden sie lieber für sich behalten und stattdessen einen
40-köpfigen Untersuchungsausschuss einrichten, bei circa 400 Krawallanten
ein durchaus guter Betreuungsschlüssel, besser als in Kitas und Schulen,
der einen gewiss gendergerechten Untersuchungsbericht in mühsamer Arbeit
erstellen wird (Randalierer*innen?; Randalierer:innen?) und zu
dem Ergebnis kommt, dass 17 oder 37 neue Streetworker, fein quotiert,
eingestellt werden müssen, um an warmen Wochenenden unauffällig am Eckensee
oder auf dem Schlossplatz zu kiffen.
Kein politischer Anspruch, keine kommunizierbaren Forderungen, keinerlei
diskursive Qualität können nun die Altvorderen zusammen mit dem gesamten
Spektrum der Neo-Konstruktivisten und Neo-Moralisten in einmütiger
Eintracht deklamieren und sich, wohl situiert und saturiert, gegenseitig
auf die Schultern klopfen, wenn das „social distancing“ wieder aufgehoben
ist.
Und wie immer werden die, die ihre Arbeit für sinnvoll halten und als
großartig empfinden, das Leben derer erklären, denen der Zugang zu jener
eloquenten Klasse, so oder so, verwehrt bleibt.
Dabei ist die implizite Forderung dieser einen Scherbennacht im Quartier
der so verführerisch funkelnden Scheiben einer Möchtegern-Metropole
naheliegend und deutlich vernehmbar, man muss nur halbwegs hinhören können
– sie lautet: Gebt unserem Leben endlich einen Sinn.
## Konsum als Staatsziel
Zugegeben: Schwer zu erfüllen in einer Gesellschaft, die den
bedingungslosen Konsum zum höchsten Staatsziel erklärt hat.
Aber keine Angst: Die Clubs und Stadien öffnen bald wieder, der Nachschub
an Drogen bleibt gesichert und der Sektor „Therapie und Soziale Arbeit“ ist
ein boomenden Zukunftsmarkt, dessen Überführung in die Sphäre der
Verwertung dem glorreichen Kapitalismus wann immer nötig einen Schub
verschaffen kann.
Also: Alles in Butter.
6 Jul 2020
## LINKS
[1] /Randale-in-Stuttgart/!5690923
[2] /Pressefreiheit-in-Deutschland/!5696649
[3] /Kretschmann-ueber-Gruene-im-Wahljahr/!5404747
[4] /Jugendgewalt-in-Stuttgart/!5691509
[5] /Randalierende-Jugendliche-in-Stuttgart/!5691051
[6] /Zehn-Jahre-Stuttgart-21/!5657742
## AUTOREN
Michael Wildenhain
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