# taz.de -- Neuer Roman von Michael Wildenhain: Muss man wie Odysseus sein? | |
> Michael Wildenhain hat einen Roman über die Mathematik und das Scheitern | |
> geschrieben. „Die Erfindung der Null“ fragt nach einem erfüllten Leben. | |
Bild: Einer der Romanschauplätze: Die Schlucht Gorges du Verdon in Südfrankre… | |
Man kann dieses Buch spannend finden, ohne Mathematiker zu sein. Die Null, | |
die in Michael Wildenhains gleichnamigem Roman erfunden wird, ist auch eine | |
Stunde Null, ein Neuanfang, fast schon eine Neugeburt, denn sie führt durch | |
die Gorges du Verdon, eine Schlucht, an deren Ende das Meer und das Licht | |
warten. | |
So jedenfalls stellt es sich Susanne Melforsch vor. Mit berechnender | |
Genauigkeit inszeniert die 47-Jährige eine Begegnung mit dem um einige | |
Jahre älteren [1][Mathematiker Martin Gödeler], in den sie bereits als | |
Abiturientin verliebt gewesen war. Nach einer gescheiterten Ehe sucht sie | |
ihren Neuanfang ausgerechnet bei dem, der sie damals nach einer ersten | |
Affäre nicht mehr beachtet hat. „Ich bin“, denkt sie einmal, „ein Insekt, | |
das an zierlichen Fäden taumelt oder tanzt. Und meinen Herren und Meister | |
bekomme ich nie zu Gesicht.“ | |
Auch Gödeler ist gescheitert. Einst gefeiert als Jungstar der Mathematik, | |
vegetiert er nun im Stuttgarter Bohnenviertel vor sich hin und hält sich | |
mit Nachhilfeunterricht für Abiturienten über Wasser. Über zwei Jahrzehnte | |
sind seit der Affäre mit Susanne Melforsch vergangen. Auch Gödeler hat eine | |
gescheiterte Ehe hinter sich, seine Frau hat ihn verlassen, als er nach | |
einer Eskapade mit „Lu“, einer ungewöhnlichen Mathematikerin, wieder zu ihr | |
zurückkehren wollte. | |
Selbst seine Tochter hat sich von ihm losgesagt. Als Susanne Melforsch | |
Gödelers Wohnung sieht, wähnt sie sich in einem Gewölbe, „dessen Ornamente: | |
Tropfstein, Stalaktiten, Stalagmiten, ausgebildet in Jahren, ungut | |
riechen“. | |
Das ist der tragende Hauptstrang der Handlung, in der es freilich unzählige | |
Nebenstränge gibt. Ständig werden in diesem Roman falsche Spuren gelegt, | |
denn es geht um nichts weniger als eine Ermittlung gegen Martin Gödeler | |
wegen Mordes an Susanne Melforsch, auch wenn es keine Leiche gibt. Einziges | |
Indiz sind ihre Sachen, die in einem Hotel im französischen Département | |
Alpes-de-Haute-Provence aufgefunden werden, in dem sie mit Gödeler ein paar | |
Tage verbracht hatte. Nachdem Gödeler abgereist war und der Hotelbesitzer | |
die Sachen gefunden hatte, schaltete er die Polizei ein. | |
## Eine linksradikale Mathematikerin | |
Selten hat der 1958 in Berlin geborene Michael Wildenhain seine Leser in | |
ein derartiges Verwirrspiel hineingezogen. „Gehorcht das Leben eines | |
Menschen den Gesetzen eines mathematischen Beweises?“, heißt es im | |
Klappentext. Aber was hat bei einer solchen Gleichung [2][die Null zu | |
bedeuten?] Ist sie etwa das Symbol für einen Loser? Schreibt Wildenhain das | |
Porträt eines Gescheiterten, der es, wie Susanne Melforsch, am Ende noch | |
einmal wissen will? | |
Dem ermittelnden Staatsanwalt geht es in diesem kriminalistischen | |
Verwirrspiel wie Susanne Melforsch. Er taumelt und tanzt an den | |
Ermittlungsfäden und versucht, sie gleichzeitig in der Hand zu behalten. | |
Das Material, das er gesammelt hat und am Ende nach seinem überraschenden | |
Verschwinden hinterlässt, besteht hauptsächlich aus den | |
Vernehmungsprotokollen mit Gödeler, die er so ordnet, dass sie zu einer | |
Geschichte werden, deren einzelne Teile sich erst nach und nach zu einer | |
schlüssigen Handlung zusammenpuzzeln. | |
Zu diesem Puzzle gehört auch Lu, die punkige, linksradikale Mathematikerin, | |
wegen der Gödeler seine Familie verlassen hat. Doch Lu hat nicht nur Martin | |
und die Mathematik im Kopf. Als sie und ihre Genossen daran scheitern, die | |
Siegessäule in Berlin zu sprengen, verhilft er ihr zur Flucht nach | |
Frankreich. Auch sie muss, im Untergrund, ein neues Leben beginnen. Doch | |
Lus Funktion im Roman ist keine politische, sondern eine mathematische: Sie | |
ist der Schlusspunkt einer Gleichung, in die, wie sich herausstellt, auch | |
der Staatsanwalt verwickelt ist. | |
## Ein Neuanfang für alle | |
Mit „Die Erfindung der Null“ treibt Wildenhain, dessen Roman „Die kalte | |
Haut der Stadt“ eine literarische Hommage an die Westberliner | |
Besetzerbewegung war, seine Metamorphose vom vordergründig politischen | |
Schriftsteller zu einem Autor voran, der die Frage nach einem „erfüllten | |
Leben“ diesmal mit mathematischer Akribie stellt. | |
Denn die „Stunde Null“ bedeutet nicht nur einen Neuanfang für die, die es | |
wie Gödeler aus der Umlaufbahn geworfen hat, sie steht auch für den Beginn | |
menschlichen Lebens, für Zeugung und Geburt. Susanne Melforsch möchte von | |
Gödeler zum Beweis des Neuanfangs ein Kind. Gödeler aber erinnert sich, wie | |
er nach der Affäre mit Lu nicht nur seine Frau, sondern auch seine Tochter | |
verlor. „Papa, ich möchte lieber zu Mama zurück“, sagte sie ihm nach einem | |
zu zweit verbrachten Urlaub. | |
So ist das „wirkliche Leben“ das eigentliche Thema von Wildenhains | |
Versteck- und Kriminalgeschichte. In einer Ehe zu leben und Kinder zu | |
zeugen ist für Gödeler zu wenig. Gödeler will wie Odysseus sein, ein | |
zunächst Unscheinbarer, der durch sein Reden aber seinen Mitmenschen den | |
Weg weisen kann. | |
Vielleicht ist das am Ende etwas zu viel. | |
19 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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