# taz.de -- Menschen und Isolation: Von Fledermäusen | |
> Wir alle sind hochgezüchtete Säugetiere, deren Überleben vom Fortschritt | |
> der Naturwissenschaften abhängt. | |
Bild: Berlin: Tote Hose im Prenzlauer Berg | |
Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und aus dem Fenster schaue, sehe ich | |
eine Kita und eine Schule. Das ist auch dieser Tage so. Der Unterschied | |
besteht darin, dass dort, wo das Leben mit Händen zu greifen war, eine | |
Stille den Raum in Besitz nimmt. Die Kastanien beginnen zu knospen. In | |
wenigen Tagen werden die Gebäude vom Blattwerk verdeckt sein. Ohne Geräusch | |
wird der Eindruck entstehen, als wäre die Schule verschwunden. | |
Vielleicht bedrückt mich die Leere. Aber gewiss in geringerem Maß als die | |
Sorge um diejenigen, die mir nah sind. Die Stille, keine sonntägliche Ruhe, | |
kein angenehm gedämpftes Leben während der Ferienzeit, markiert einen | |
Übergang, von dem noch nicht klar ist, wohin er führt. Der Blick aufs | |
Werden der Natur – ein Wachstum ähnlich dem im Vorjahr. Wir hingegen, | |
komplexe Organismen, verharren wegen des Auftritts einer Mikrobe. | |
Meine Mutter hat mir von ihrer Quarantäne wegen des Verdachts auf | |
Diphtherie erzählt. Lange wurde Scharlach auf diese Weise behandelt. In | |
meiner Jugend erlebte ich, wie eine Mitschülerin während der | |
Gelbsuchterkrankung über Wochen im Krankenhaus isoliert wurde. All das | |
waren Einzelfälle. | |
Mit Anfang zwanzig habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, wie es | |
wäre, in Haft zu sein. Nicht für eine Nacht im Polizeigewahrsam, sondern | |
wegen schwerem Landfriedensbruch für ein oder zwei Jahre in einer | |
sogenannten Justizvollzugsanstalt. Ich habe mich gefragt, ob ich damit | |
klarkäme und was ich in solch einer Situation des Einschlusses täte. Ich | |
habe mich an die knapp zwei Monate erinnert, auf einem Tiroler | |
Bergbauernhof, ohne einen Austausch jenseits von Floskeln. | |
Ich habe mich daran erinnert, wie intensiv ich nicht nur die Lektüre (Max | |
Frisch) erlebt habe, sondern auch jeden beliebigen Märchenfilm im | |
Vormittagsprogramm des ORF. Ich habe es mir nicht eingestehen wollen, aber | |
in einem entlegenen Winkel meines Denkens wird mir bewusst gewesen sein, | |
dass ich das Durchleben einer längeren Haftzeit nicht im Voraus ermessen | |
kann. | |
Während dieser Tage der störenden Stille bin ich mit der Fahnenkorrektur | |
meines neuen Romans beschäftigt. Eine Tätigkeit, die ich als angenehm und | |
tröstlich empfinde. Der Roman ist geschrieben, die Korrektur ist | |
kleinteilig und bannt dennoch mein Denken. | |
„Die Erfindung der Null“, der Titel, verweist auf verschiedene Aspekte, | |
darunter den Zustand eines inneren Exils. Die Hauptperson, der ehemalige | |
Mathematiker Dr. Gödeler, lebt mehr als zwei Jahrzehnte in der | |
selbstgewählten Isolation einer Souterrainwohnung in Stuttgart. Er arbeitet | |
als Nachhilfelehrer. Seine sozialen Kontakte tendieren gegen null. Obwohl | |
er um die Gefahr weiß, bereitet es ihm Mühe, nicht zu verwahrlosen. | |
## Sich aus der Lethargie mit Gewalt lösen | |
Am Tiefpunkt angekommen, kann er sich wie von fern beobachten, als | |
untersuchte er eine fremde Spezies unterm Mikroskop, mit der nach Belieben | |
zu verfahren er in der Lage sei. Es bedarf eines Gewaltakts, um die | |
Lethargie zu lösen und ihn aus seinem muffigen Loch wieder in die Welt zu | |
werfen, ihn aus der Quarantäne, in die er sich bugsiert hat, zu befreien. | |
Momentan erleben wir die Rückkehr einer Realität, die zu ignorieren | |
verbreitetes Bemühen war. | |
Das Virus stammt mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem Wildtiermarkt in | |
China, kein Einzelfall. Es hat uns infizieren können, weil Menschen | |
Säugetiere sind. Dieser Umstand ist weder ein soziales noch sonst wie | |
geartetes Konstrukt, sondern die uns bedingende Wirklichkeit. Sie ist | |
vor-diskursiv. Sie war da, als es uns noch nicht gab. Sie wird da sein, | |
wenn wir verschwinden. | |
Um sich in ihr und gegen sie zu behaupten, haben wir Verfahren entwickelt, | |
die auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis fußen. Ein solches Verfahren zu | |
finden, ist das Gebot der Stunde. | |
Mit einem Mal treten Menschen in die Arena, die sich wohltuend von den | |
mediokren Moderatoren und den oft genug peinlichen Politikern der | |
allgegenwärtigen „Talk-Show“ unterscheiden. Weil sie kompetent sind. Weil | |
sie wissen, dass moderne, und das heißt wirkmächtige, Medizin nichts mit | |
den Schuppen des Schuppentiers oder sonst einem Aberglauben zu tun hat. | |
Weil sie die Kehrseite der viel gefeierten „globalen Vernetzung“ kennen und | |
deren Folgen, auch jenseits aller ökologischen Fragen, zu Recht fürchten. | |
## Zurück zur Demut | |
Vielleicht wären wir klug beraten, zu einer Demut zurückzukehren, die darin | |
besteht, das Phänomen zu akzeptieren und nicht dessen Interpretation den | |
Vorrang einzuräumen. Die „chinesische Lösung“ maximaler Abschottung nicht | |
zunächst als totalitär zu brandmarken, sondern als dem Problem adäquat. | |
Auf das italienische Gesundheitssystem, insbesondere das der Lombardei, | |
nicht mit dem Finger zu zeigen, sondern zu begreifen, dass Oberitalien | |
zufällig so hart getroffen worden ist und nun die Last für uns trägt. | |
Vielleicht sollten wir – wieder – begreifen, dass wir fragil sind, seltsam | |
hochgezüchtete Säugetiere, deren Überleben zuallererst vom | |
Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften abhängt. | |
Denn die Quarantäne, in der wir uns befinden, ist möglicherweise nicht der | |
momentane Zustand der maximalen Abschottung, sondern besteht in den | |
Verhältnissen, die gerade ausgesetzt und die oft genug mit einer Isolation | |
vorbehaltlosen Denkens verschränkt sind. | |
Wenn wir jedoch unsere herausragendste Eigenschaft als Menschheit | |
suspendieren und stattdessen nach „der Krise“ weiterhin auf all die „Like… | |
und „Talks“ und „Shows“ und was da noch so kreucht und fleucht stieren … | |
die blödesten Mikroben in irgendeiner Fledermaus, werden wir wohl noch | |
häufiger durch den einen oder anderen Gewaltakt aus unserer Lethargie | |
zurück in die Welt geprügelt werden. | |
13 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Michael Wildenhain | |
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