# taz.de -- Nachbarschaft an der Grenze: Ein Geburtstagsberg für Finnland | |
> Nur zu oft hat der Zufall den Stift geführt, als Menschen sich | |
> Trennlinien auf der Erde ausdachten. Zeit, das zu ändern, findet ein | |
> Norweger. | |
Bild: Nicht besonders hoch, nicht besonders markant – nur mit der Geschenksch… | |
OSLO UND BABYLON taz | In einem Vorort von Oslo sitzt ein Mann in einem | |
Keller und überlegt, wie er Norwegen dazu bringen kann, Finnland einen Berg | |
zu schenken. Der Berg ist nicht besonders hoch, nicht besonders markant. Im | |
Winter erhebt er sich aus einem Meer weißer Hügelwellen, im Sommer gibt er | |
das Geröll preis, auf dem nur Flechten wachsen. Selten will ihn jemand | |
erklimmen. Das Geschenk für Finnland steht in der norwegischen Tundra. Der | |
Mann kann sich kein besseres vorstellen | |
Halti nennen sie den Berg in Norwegen. Haltitunturi in Finnland. Sein | |
Rücken erstreckt sich über die Grenze hinweg. Auf der finnischen Seite | |
markiert er den höchsten Punkt des Landes, 1.324 Meter über dem | |
Meeresspiegel. Der Gipfel aber liegt auf der norwegischen Seite. Dort ist | |
Halti 1.365 Meter hoch. | |
Der Mann in dem Keller nahe Oslo heißt Bjørn Geirr Harsson, selbst hoch und | |
auf dem Kopf so weiß wie ein schneebedeckter Gipfel. Sein ganzes | |
Berufsleben hat er für die staatliche Kartografiebehörde gearbeitet und | |
dann, als die Pensionierung kam, einfach nicht aufgehört. Grenzen sind | |
Harssons Leben. Deshalb kann er solche Feststellungen machen: „Ich habe | |
kein anderes Land gefunden, in dem man absteigen muss, um an seinen | |
höchsten Punkt zu kommen.“ Er hat tatsächlich danach gesucht. | |
## Stein 303B ist verrutscht | |
Grenzen waren in der jüngeren Geschichte Skandinaviens oft Abwägungssache: | |
Die Kalmarer Union, in der sich Schweden, Norwegen, Dänemark, Teile | |
Islands, Finnlands und der Färöer vereinigten; Dänemark, das Norwegen den | |
Status einer autonomen Region gewährte, es nach den Napoleonischen Kriegen | |
aber Schweden überlassen musste. Und dann mischte auch das Russische Reich | |
mit. | |
All das mussten Kartografen zu Papier bringen. In der zweiten Hälfte des | |
17. Jahrhunderts zogen sie zu Fuß los, um die Länder zu vermessen, über | |
Berggipfel und durch Täler, an Flussläufen entlang. Trafen sie unterwegs | |
auf Menschen, fragten sie: An wen zahlt ihr eure Steuern, welche Kirche | |
besucht ihr? Dazwischen zogen sie die Grenze, einmal um das Land herum, wie | |
ein imaginäres Band, das alles darin zusammenhalten soll. | |
Dass etwas mit der Grenze zwischen Norwegen und Finnland nicht stimmt, weiß | |
Bjørn Geirr Harsson schon seit 1972. Anders als die erste Generation der | |
Kartografen war er damals nicht zu Fuß unterwegs, sondern im Helikopter. | |
Aus der Luft konnte er die Steinmarkierungen sehen. Nummer 303B stand an | |
einer ungewöhnlichen Position – nicht auf dem Gipfel, nicht am Fuße des | |
Berges, sondern dazwischen. Skandinavien war hier verrutscht. | |
„Aber ich wusste nicht, was ich mit dieser Feststellung anfangen sollte“, | |
sagt Harsson. Also wartet er. Ein Jahr lang, zehn Jahre, Jahrzehnte, bis er | |
2015 in der Zeitung liest: Finnland wird bald einhundert Jahre alt. Erst | |
1917 wurde es unabhängig, vom Russischen Kaiserreich. „Was wäre ein | |
besseres Geschenk als Halti?“ So sagt Harsson zu seinem Sohn, so schreibt | |
er es auch in einem Brief an das Außenministerium, er bleibt unbeantwortet. | |
An diesem Punkt in der Geschichte macht sich die Idee selbstständig. | |
Wahrscheinlich war es so: Harssons Sohn postet diese Idee seines Vaters in | |
einem Internetforum. Dort liest ein Norweger davon und legt eine | |
Facebookseite an. „Halti als Jubiläumsgeschenk“ heißt sie und hat heute | |
17.000 Fans. | |
So werden Journalisten auf die Idee aufmerksam, erst norwegische und | |
finnische, dann türkische Medien, amerikanische, alle wollen von Bjørn | |
Geirr Harsson wissen, wie er auf die Idee kam, die sie so lustig finden. | |
Der nimmt sein Telefon und ruft einen Mann weit oben im Norden des Landes | |
an, um ein ernstes Wort zu reden. | |
## „Warum nicht ein Stück abgeben?“, findet der Bürgermeister | |
Die Macht des Bürgermeisters erstreckt sich vom Ende eines Fjordes tief in | |
ein Tal, das einst ein Gletscher in die Berglandschaft fraß. Häuser, weiß | |
und gelb und rot, stehen auf altem Schnee, und der Bürgermeister Svein | |
Oddvar Leiros sitzt am Frühstückstisch seines Bruders. Die ganze Familie | |
ist gekommen, Großeltern, Nichten, die Schwägerin aus Deutschland. | |
Das nächste Kino: 2 Stunden und 20 Minuten mit dem Auto. Die günstigen | |
finnischen Supermärkte: eine Stunde. Halti: erhebt sich gleich am Ende des | |
Tals. Der Berg gehört zu Leiros’ Verwaltungsgebiet. | |
Svein Oddvar Leiros ist ein Mann, der es gemütlich mag. Wenn er erzählt, | |
was ihm wichtig ist, sind das: Seine Familie, die Kommune und dass jeder, | |
der seine Nachbarn unangekündigt besucht, einen Kaffee bekommt. Als | |
Bürgermeister kümmert er sich darum, dass die einzige Straße, die in die | |
nächste Stadt Tromsø führt, besser wird, und darum, dass die Schule im Ort | |
bleibt, obwohl sie so klein ist. | |
Landflucht ist auch in Norwegen ein Problem, erst recht nördlich des | |
Polarkreises. Die Städte wachsen, Wohnraum wird knapp und teurer, die | |
kleinen Gemeinden am Leben zu erhalten auch. Es ist Svein Oddvar Leiros’ | |
Aufgabe, 2.200 Menschen zusammenzuhalten. Und seit Neuestem auch einen Weg | |
zu finden, ein Stück von Norwegen abzuspalten. Denn der Anruf aus Oslo ging | |
an ihn. | |
Wie er denn die Idee mit dem Geburtstagsberg fände, fragt ihn Bjørn Geirr | |
Harsson aus Oslo am Telefon. „Es sind friedliche Zeiten“, antwortet ihm | |
Svein Oddvar Leiros, „warum sollte Norwegen nicht ein Stück abgeben?“ Und | |
er sagt auch: „Dort sind ja eh nur Steine, Steine, Steine.“ | |
## „Immer eine Lösung für Grenzkonflikte“, sagt der Geograph | |
Also schreiben sie einen zweiten Brief, dieses Mal direkt an die | |
Premierministerin. | |
In seinem Berufsleben hat Bjørn Geirr Harsson erst Norwegen vermessen, | |
später die Grenzen anderer Länder zurechtgeschoben. In Westafrika | |
beispielsweise, wo er Guinea, Gambia, Mauretanien, Liberia und Kap Verde | |
beraten hat. Dort überlappten die unterschiedlichen nationalen Grenzen mit | |
den internationalen Zonen, und so wurden Linien zu handfesten politischen | |
Krisen. | |
Wo darf welches Land fischen und nach wessen Recht? Und: Wie messen wir das | |
nach? Am Ende führten Harssons Bemühungen nicht nur dazu, dass die Länder | |
sich auf Grenzen einigen konnten – sondern auch dazu, dass sie ihre Daten | |
und Messungen zum ersten Mal nicht mehr voreinander geheim hielten. Sie | |
begannen zu kooperieren. | |
„Es gibt immer eine Lösung für Grenzkonflikte“, sagt er. Nur in Israel und | |
Palästina konnte er keine finden. „Wenn etwas als gottgegeben gesehen wird, | |
sind alle Verhandlungen unmöglich.“ | |
## Im Reich der Rentiere | |
Monate später bekommen die beiden Männer tatsächlich eine Antwort auf ihren | |
Brief. Sie ist von der Premierministerin unterschrieben. Und fällt knapp | |
aus. Die Idee ist wirklich schön, schreibt sie – aber leider nicht mit der | |
Verfassung vereinbar. Die verbietet es der Regierung, Teile des Landes | |
abzuspalten. | |
Doch Bjørn Geirr Harsson liest nur: Die Idee ist wirklich schön. | |
Sie schreiben erneut. „In einer Welt, in der Nationen sich bekriegen, würde | |
Norwegen als friedliebende Nation hervorstehen, wenn es einem Nachbarland | |
Territorium anbietet, ohne dass dieses sich bemüht hat, es zu bekommen“, | |
schreibt Harsson. Und weiter: „Wenn die Juristen der Regierung daran | |
festhalten, dass ein Areal von etwa 0,01 Quadratkilometern nicht als | |
Geschenk zum 100-jährigen Bestehen an Finnland gegeben werden kann, so | |
könnte Finnland doch ein gleich großes Areal zurücktauschen.“ | |
Das ist Harssons Lösung: ein Tausch. Weil es solche Deals in der | |
Vergangenheit gab, hält er sie für verfassungskonform. | |
Tore Fossli dreht Babylon den Rücken zu, nimmt einen Schluck | |
Selbstgebrannten aus der Plastikflasche und fällt seinem besten Freund und | |
dann seiner Freundin in die Arme. So machen sie das ab jetzt alle paar | |
Minuten, immer wenn ein paar Kilometer auf den brummenden Schneemobilen | |
überwunden sind. Schluck. In die Arme fallen. Weiterfahren. | |
Manchmal steht Fossli auch einfach nur da. Schüttelt den Kopf. Seine | |
eisblauen Augen haften auf dem, was vor ihm liegt. Eine Gruppe aus Gipfeln, | |
einige kantig, andere weich, sie glitzern in der Abendsonne, die auf den | |
Schnee scheint und dieses milde Licht verbreitet. Der höchste: Halti. | |
## Norwegen gehört der Berg gar nicht, sagt der Same Fossli | |
Babylon, das ist dort unten, am Fuße des Berges, das Dorf des | |
Bürgermeisters mit den Sorgen um Straßen und Schulen. Es ist auch Norwegen, | |
dieses Land der reichen Menschen und der Arbeit, die Leuten wie ihm den | |
Rücken krümmt, bis er schmerzt. Fossli gehört dort nicht richtig dazu. Er | |
ist ein Same, Nachfahre eines alten Volkes, das von Rentierzucht lebte. | |
Wie er die Idee mit dem Berg findet? Er zuckt mit den Schultern. | |
Eigentlich, sagt er, kann Norwegen ja gar nicht über einen Berg | |
entscheiden, der dem Land nicht gehört. Halti gehört für ihn den Samen. | |
Deren Reich, Sápmi, lag nun mal in Finnland, Schweden, Norwegen und | |
Russland, lange bevor es diese Länder gab. | |
Und so liegt die Welt hier oben hinter eigenen Grenzen. Für Fossli, weil | |
hier für ihn das Paradies ist: das kleine weiße Zelt, das er mit | |
Rentierfellen auslegt, der zugefrorene See, in den er Löcher bohrt, um zu | |
angeln. Für die Samen sowieso, weil sich manchmal Rentiere norwegischer | |
Samen mit Rentieren finnischer zusammenschließen und weiterziehen. Nur die | |
Staatsgrenze, die sich Menschen vor Jahrhunderten ausgedacht hatten, ist | |
nicht zu sehen. Schweift der Blick nach Westen, erheben sich weiße Hügel, | |
schweift er nach Osten, Norden, Süden auch, und ein Reisepass ändert daran | |
nichts. | |
Es ist mitten in der Nacht und die Sonne nur kurz hinter den Horizont | |
getaucht. Sollen wir nicht nach Finnland fahren, fragt Fosslis Freundin. In | |
die Bar, gleich hinter der Grenze? Ja, beschließen sie. Das Bier ist dort | |
so billig. | |
Norwegens Außenministerium beschließt bald darauf: Finnland soll eine | |
Skulptur bekommen. | |
6 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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