| # taz.de -- Nach dem Brand im Flüchtlingscamp: Schutzlos in Moria | |
| > Nach dem Brand mangelt es den Geflüchteten auf Lesbos an allem. Es gibt | |
| > erste Pläne für ihre Unterbringung – doch wenig Hoffnung. | |
| Bild: 11. September 2020: ein Flüchtling aus Syrien und seine Tochter auf eine… | |
| Auch am dritten Tag nach dem Brand im Lager Moria sind die meisten | |
| Geflüchteten auf der Insel Lesbos weitgehend sich selbst überlassen. Sie | |
| sind schwer dehydriert, manche haben Brandverletzungen, die nicht versorgt | |
| werden, andere fallen einfach um. Es fehlt an allem. | |
| Rund die Hälfte der knapp 13.000 einstigen BewohnerInnen des Lagers harren | |
| seit Mittwoch an einem Straßenabschnitt zwischen dem ehemaligen Camp und | |
| der Inselhauptstadt aus. Die Polizei hat ihn noch während des Brands in der | |
| Nacht auf Mittwoch abgeriegelt. Familien, viele von ihnen mit kleinen | |
| Kindern, schliefen in der Nacht zum Freitag wieder am Straßenrand, weil sie | |
| weder Zelte noch andere Schlafmöglichkeiten hatten. Weitere Flüchtlinge | |
| halten sich in der Umgebung des abgebrannten Lagers auf. | |
| Zwischen Donnerstagfrüh und Freitagmittag wurde im Bereich der | |
| Straßensperre nur ein einziges Mal etwas zu essen ausgegeben. Es waren kaum | |
| Helfer sichtbar, nur vereinzelt verteilte das Militär Wasser. Die | |
| Geflüchteten konnten sich nicht waschen, sie konnten sich nicht die Zähne | |
| putzen, sie konnten ihre Handys nicht laden. Um sich vor der Sonne zu | |
| schützen, spannten manche von ihnen alte Schlafsäcke zwischen | |
| Müllcontainern auf und warteten unter diesem provisorischen Dach. Sie | |
| warteten auf Hilfe. | |
| 35 Corona-Infizierte hatten die Behörden unter den Insassen des Lagers | |
| identifiziert. Als die Infizierten und deren Kontaktpersonen am | |
| Dienstagabend in eine Isolierstation gebracht werden sollten, gab es | |
| Kämpfe, bei denen mehrere Feuer ausbrachen. Im anschließenden Chaos gelang | |
| es den Behörden bis Donnerstag nicht, die Infizierten zu finden. „Wir haben | |
| sie verloren“, sagte Migrationsminister Notis Mitarakis in einem | |
| TV-Interview. | |
| Da die Behörden zuvor nicht alle knapp 13.000, sondern nur 2.000 Insassen | |
| getestet hatten, kann man davon ausgehen, dass sich mittlerweile eine | |
| größere Zahl infiziert hat. | |
| ## ÄrztInnen aus Belgien werden erwartet | |
| Am Freitag begann die griechische Regierung damit, auf einem | |
| Militärübungsplatz ein Zeltlager für die Geflüchteten zu errichten. | |
| Hubschrauber brachten das nötige Material. Am Morgen waren auch elf | |
| Polizeibusse und Wasserwerfer angekommen. | |
| Am Donnerstag hatten zwei Passagierfähren im Hafen von Sigri an der | |
| Westküste der Insel festgemacht. Hier sollen Medienberichten zufolge etwa | |
| 1.000 Schutzsuchende untergebracht werden. Bis Freitag wurde aber noch | |
| niemand auf die Fähren gebracht. Am Samstag soll ein Flugzeug mit Ärzten | |
| und Pflegepersonal aus Belgien eintreffen. | |
| In Deutschland ging derweil der Streit um die Aufnahme von Geflüchteten aus | |
| Lesbos weiter. Am Donnerstag schrieben die BürgermeisterInnen zehn | |
| deutscher Großstädte einen offenen Brief an Bundesinnenminister Horst | |
| Seehofer (CSU), darunter Belit Onay (Grüne) aus Hannover und Thomas Geisel | |
| (SPD) aus Düsseldorf. Europaweit seien Kommunen bereit, die Menschen aus | |
| den Lagern an den europäischen Außengrenzen aufzunehmen. Dies müsse | |
| ermöglicht werden. „Wir bitten Sie als Bundesregierung, hier voranzugehen | |
| und nicht weiter auf eine gesamteuropäische Lösung zu warten“, heißt es in | |
| dem Brief. | |
| ## „Wir könnten Menschen aufnehmen“ | |
| Gehör fanden die BürgermeisterInnen kaum: Am Freitag sagte Seehofer, dass | |
| neun EU-Staaten und die Schweiz insgesamt 400 unbegleitete minderjährige | |
| Flüchtlinge aus Moria aufnehmen werden. Nach Deutschland sollen demnach | |
| „100 bis 150“ kommen. | |
| Bereits am 7. Juli hatten elf EU-Staaten 2.000 Aufnahmeplätze in Aussicht | |
| gestellt, 928 davon in Deutschland. Bis Anfang September waren 465, also | |
| etwa die Hälfte, eingereist. Die jetzt beschlossenen 100 bis 150 kommen | |
| hinzu. | |
| Üblicherweise werden nach Deutschland umgesiedelte Flüchtlinge zunächst in | |
| zentrale Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht, zum Beispiel in das | |
| Grenzdurchgangslager Friedland nahe Göttingen. Dessen Sprecherin Hannah | |
| Hintze sagte am Freitag, es gebe derzeit rund 300 freie Plätze. „Wir | |
| könnten Menschen aufnehmen.“ | |
| Zwölf große deutsche Hilfsorganisationen schrieben am Freitag einen offenen | |
| Brief an die Bundeskanzlerin. Die „beschämende Lage“ in dem Lager und die | |
| Brandkatastrophe seien „direktes Ergebnis einer verfehlten europäischen | |
| Flüchtlingspolitik“, heißt es darin. Neben effektiver Akuthilfe forderten | |
| sie die Evakuierung der Menschen in andere EU-Staaten und eine Abkehr von | |
| den Plänen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, neue Asyllager an den | |
| europäischen Außengrenzen zu errichten, in denen es Vorprüfungen für | |
| Asylverfahren geben soll. | |
| ## Werden die Bilder vom Brand etwas ändern? | |
| Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Freitag, die Brände in Moria | |
| hätten viele Menschen, die in diesem Lager schon vorher in einer | |
| „schwierigen, oft verzweifelten Situation waren, in eine wirklich | |
| entsetzliche Lage“ gebracht. „Die Bilder auf der Straße kampierender | |
| Flüchtlinge und Migranten, oft ganzer Familien, die so die Nacht verbringen | |
| mussten, die gehen jedem nahe.“ | |
| Es gehe nun vorrangig darum, für eine Unterbringung der Migranten zu | |
| sorgen, „und zwar besser und würdiger als zuvor“, sagte Seibert. Er gehe | |
| davon aus, dass die geplante Reform der gemeinsamen europäischen | |
| Asylpolitik auch bei einem für den kommenden Freitag geplanten Treffen | |
| zwischen Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von | |
| der Leyen (beide CDU) Thema sein werde. Dies sei „vielleicht das | |
| schwierigste europäische Thema derzeit“, räumte Seibert ein. | |
| Moria war nicht das erste Lager, das die Behörden auf Lesbos errichtet | |
| hatten. Ab 2007 pferchte Griechenland ankommende Flüchtlinge in eine alte | |
| Fabrikhalle in einem Ort namens Pagani. Bis zu 1.000 Menschen wurden damals | |
| dort interniert, als Toilette diente ein Loch im Boden. | |
| [1][Die Bilder einer 2009 eingeschmuggelten Videokamera glichen einem | |
| mittelalterlichen Verlies.] Als sie öffentlich wurden, besuchte Spyros | |
| Vouyia, damals Vizeminister für öffentliche Sicherheit, das Lager, nannte | |
| es „schlimmer als Dantes Inferno“ und ließ es schließen. Die EU leitete e… | |
| Vertragsverletzungsverfahren ein und gab Millionen für den Bau eines neuen | |
| Lagers: Moria. „Es ist anders als Pagani“, sagt Nikolaos Ververis, Leiter | |
| der regionalen Grenzpolizei, kurz nach der Eröffnung der taz. „In Moria | |
| werden die Menschenrechte respektiert.“ | |
| Davon konnte bekanntlich keine Rede sein. Die Situation nach dem Brand in | |
| Moria in dieser Woche gleicht jener, als die Öffentlichkeit mit den Bilder | |
| aus Pagani konfrontiert war. Was wird diesmal geschehen? | |
| Schon seit März will Migrationsminister Notis Mitarakis auf Lesbos ein | |
| geschlossenes Internierungslager bauen – genau das war auch Moria, als es | |
| eröffnet wurde. Doch nach heftigen Protesten der Inselbevölkerung hatte | |
| Mitarakis den Plan vorläufig nicht weiterverfolgt. Am Donnerstag | |
| bekräftigte er, dass es notwendig sei, „eine geschlossene und sichere | |
| Struktur“ auf Lesbos zu haben, und dass Moria als „geschlossenes Zentrum“ | |
| wieder aufgebaut werden müsse. Das würde sich mit den deutschen Plänen für | |
| neue Asylverfahrenslager decken. | |
| ## „We Need Peace and Freedom“ | |
| Konstantinos Mutzuris, Gouverneur der Region Nördliche Ägäis, sagte, dass | |
| die örtliche Bevölkerung zwar bereit sei, ein Registrierungszentrum zu | |
| akzeptieren, in dem die Flüchtlinge ein oder zwei Nächte verbringen würden, | |
| nicht aber eine geschlossene Einrichtung mit Tausenden von Menschen. Ein | |
| neues Internierungslager auf Lesbos zu bauen sei „fast unmöglich“, weil die | |
| Bevölkerung schon so lange leide und Angst habe, sagte Mutzuris einem | |
| lokalen Radiosender. „Die einzige machbare und realistische Lösung ist, | |
| diese Menschen nach Europa zu bringen.“ | |
| Nach dem Brand hatten InselbewohnerInnen Straßensperren errichtet, um | |
| Flüchtlinge davon abzuhalten, in andere Teile der Insel zu gelangen. Die | |
| Regierung rechnet damit, dass es auch gegen den Bau des provisorischen | |
| Zeltlagers Proteste gibt. | |
| Am Freitag kursierten auf Lesbos Gerüchte, dass die Behörden abends eine | |
| Ausgangssperre verhängen würden, um das Lager schnell fertigstellen zu | |
| können. Nachmittags zogen Hunderte Flüchtlinge in Richtung Inselhauptstadt. | |
| Auf ihrem Transparent stand „We Need Peace and Freedom“. | |
| 11 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=lP2yT6EjBXo | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| Franziska Grillmeier | |
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