| # taz.de -- Nach Explosion in Beirut: Aufklärung mit Hindernissen | |
| > Eine unabhängige Aufarbeitung der Explosion in Beiruts Hafen scheint | |
| > unwahrscheinlich. Politisches Gerangel überschattet die Ermittlungen. | |
| Bild: Stillstand nach Explosion: Die Ermittlungen zur Detonation haben bisher k… | |
| Beirut taz | Zwei Wochen nach der [1][Explosion von 2.750 Tonnen | |
| Ammoniumnitrat] im Hafen von Beirut stocken die Ermittlungen der Justiz. | |
| Zwar hatte die Regierung eine schnelle Aufklärung der Ereignisse | |
| versprochen und ein Richter nach einem ersten Haftbefehl gegen den Zollchef | |
| des Hafens am Dienstag einen zweiten gegen die Hafenleitung erlassen. | |
| Dennoch konnten die Ermittler bisher kaum mit Informationen und Erklärungen | |
| aufwarten. | |
| Vielmehr ist die Aufarbeitung [2][von politischen Reibereien] um die | |
| Ernennung des Chefermittlers geprägt, außerdem von Drohungen der | |
| Streitkräfte gegenüber möglichen Informanten und von einem Komitee, dessen | |
| konfessionelle Zusammensetzung von Anfang an parteiisch ist. | |
| Aktivist*innen, Verwandte der Opfer und Überlebende hatten eine unabhängige | |
| Ermittlung gefordert. Sie bezweifeln, dass die konfessionell-politischen | |
| Fraktionen Ergebnisse veröffentlichen werden, wenn diese ihnen selbst | |
| schaden könnten. „Ist es heute akzeptabel, dass die Häuser von Menschen | |
| zerstört, ihre Familien getötet, ihre Hoffnungen und Träume ebenso getötet | |
| werden, ohne Gerechtigkeit, bei voller Straflosigkeit?“, fragte der | |
| Überlebende Paul Najjar und bat den UN-Sicherheitsrat um internationale | |
| Unterstützung. | |
| Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte eine | |
| unabhängige, internationale Beteiligung an der Aufarbeitung aufgrund der | |
| „wiederholten Versäumnisse der libanesischen Behörden, schwerwiegende | |
| Regierungsversagen zu untersuchen“. | |
| ## Militärgericht übernimmt | |
| Politisch herrscht im Libanon dieser Tage weitgehend Stillstand. Die | |
| [3][Regierung trat sechs Tage nach der Explosion zurück] und übernimmt | |
| daher nur die nötigsten Regierungsgeschäfte. Als letzte Amtshandlung hatte | |
| sie den höchsten Justizrat des Landes mit der Untersuchung der Geschehnisse | |
| beauftragt. Dabei handelt es sich um das höchste Gericht des Landes, das | |
| Fälle der nationalen Sicherheit bearbeitet. Der Rat besteht aus zehn | |
| Personen, von denen acht gemäß des politischen Systems im Libanon nach | |
| konfessioneller Zugehörigkeit ausgewählt werden. | |
| Die vorübergehende Justizministerin Marie-Claude Najm ist derweil nach | |
| Paris geflogen – aus „privaten Gründen“, wie der lokale Fernsehsender MTV | |
| berichtet. Zuvor habe sie versäumt, einen Gerichtsschreiber zu ernennen – | |
| Grund genug für die Justiz, den Fall an das libanesische Militärgericht zu | |
| übergeben. | |
| In den Tagen zuvor gab es tagelang politisches Gerangel um den | |
| Chefermittler. Obwohl Najm einen Kandidaten vorschlug, wurde dieser ohne | |
| Begründung vom Justizrat abgelehnt. Zunächst wurde Fadi Akiki eingesetzt – | |
| der Ehemann der Nichte des Parlamentssprechers. Nach öffentlicher Kritik | |
| daran übernahm jedoch der ehemalige Militärrichter Fadi Sawan das Amt des | |
| Hauptermittlers. | |
| Sawan ist der Öffentlichkeit bekannt, weil er die Aktivistin Kinda el | |
| Khatib beschuldigte, [4][mit Israel zu kollaborieren.] Die Aktivistin ist | |
| eine starke Kritikerin der Hisbollah und des Präsidenten Michel Aoun. Sie | |
| wies die Vorwürfe von sich, wurde aber dennoch verhaftet. | |
| In den Ermittlungen um die Explosion erließ Sawan einen Haftbefehl gegen | |
| den Zollchef des Hafens. Außerdem wurden 19 Verdächtige im Zuge der | |
| Ermittlungen festgenommen, darunter auch der Vorgänger des Zollchefs sowie | |
| der Hafendirektor. | |
| ## Internationale Ermittler reisen nach Beirut | |
| Während handfeste Ergebnisse auf libanesischer Seite ausbleiben, gibt es | |
| großes internationales Interesse an den Ermittlungen. Polizist*innen und | |
| Forensiker*innen aus Frankreich haben den Unterwasserkrater an der | |
| Detonationsstelle im Hafen inspiziert und Proben von den explosiven Stoffen | |
| genommen. | |
| Ihre Ergebnisse wollen sie auch den libanesischen Richtern zur Verfügung | |
| stellen. Die Expert*innen können nur auf Einladung des Gastlandes arbeiten, | |
| die französischen Behörden erklärten aber, dass der Libanon ihnen den | |
| Zugang ermögliche. Ob sie auch Zeugen befragen oder Dokumente anfordern, | |
| ist nicht bekannt. Als Grund für ihr Interesse nannten die französischen | |
| Behörden den Tod des französisch-libanesischen Architekten Jean-Marc | |
| Bonfils. | |
| Bei der Explosion kam auch eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft ums | |
| Leben. Deutschland kündigte jedoch bisher nicht an, Ermittlungsteams zu | |
| senden. Das US-amerikanische Außenministerium erklärte hingegen, die | |
| US-Polizeibehörde FBI werde zur Unterstützung in den Libanon kommen. Die | |
| antiamerikanisch eingestellte schiitische Hisbollah lehnte das jedoch | |
| entschieden ab. | |
| Der libanesische Präsident Michel Aoun bezeichnete internationale | |
| Ermittlungen als „Zeitverschwendung“. „Die Forderungen nach einer | |
| internationalen Untersuchung der Hafenexplosion zielen darauf ab, die | |
| Wahrheit zu vertuschen“, erklärte er Medien. | |
| Die Explosion gilt als Unfall, doch nach wie vor [5][ist unklar, was die | |
| Detonation auslöste]. Derweil sind Dokumente aufgetaucht, die beweisen, | |
| dass die Führer des Landes von der potenziellen Gefahr wussten. | |
| 19 Aug 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Neumann | |
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