# taz.de -- NSU-Prozess im Rückblick: „Abgrund an Menschenfeindlichkeit“ | |
> Nach mehr als fünf Jahren soll im NSU-Prozess Anfang Juli das Urteil | |
> fallen. Am Dienstag will sich Beate Zschäpe zum letzten Mal äußern. | |
Bild: Neben Mehmet Kubaşık und Michèle Kiesewetter war Halit Yozgat (Mitte) … | |
MÜNCHEN taz | Am 6. Mai 2013, Tag 1 des Prozesses, erscheint Beate Zschäpe | |
in Saal A101 des Oberlandesgerichts München im dunkelblauen Blazer, | |
selbstbewusst, und kehrt den Kameras den Rücken zu. Ihre Verteidiger | |
Wolfgang Stahl, Wolfgang Heer und Anja Sturm stellen einen | |
Befangenheitsantrag gegen die Richter, sie klagen über eine „nicht mehr zu | |
heilende Vorverurteilung“ ihrer Mandantin. | |
Erst am nächsten Prozesstag kann der Anklagesatz verlesen werden. | |
Bundesanwalt Herbert Diemer, seit 29 Jahren im Dienst, erklärt Zschäpe für | |
voll mitschuldig an den zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 Raubüberfällen | |
des NSU. Zwar sei die Angeklagte an keinem Tatort gesehen worden, als | |
Mitglied des NSU habe sie aber zu jeder Tat einen „gleichwertigen Beitrag | |
geleistet“. Zschäpe lässt die Worte regungslos an sich vorbeiziehen. | |
Angaben werde sie im Prozess nicht machen, sagt ihr Verteidiger Heer zu | |
Richter Manfred Götzl. | |
## Tag 5, 4. Juni 2013 | |
Der Mitangeklagte Carsten S. sagt aus. Der 33-Jährige, vor Jahren aus der | |
Szene ausgestiegen, legt ein Geständnis ab. Ja, er habe dem abgetauchten | |
Trio die Waffe überbracht, mit der später neun NSU-Opfer erschossen | |
wurden: die Ceska 83. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben habe ihn beauftragt. | |
Carsten S. redet frei, stockt, versucht, sich genau zu erinnern. Am Ende | |
weint er. Und berichtet von einem Anschlag, der bisher nicht dem NSU | |
zugeordnet wurde: 1999 zündete in einer Nürnberger Kneipe [1][ein | |
Sprengsatz in einer Taschenlampe]. Der türkische Betreiber erlitt damals | |
Schnittwunden am ganzen Körper. Als die Uwes davon berichteten, sei | |
plötzlich Zschäpe erschienen, erinnert sich Carsten S. „Pssst, Beate | |
kommt“, hätten die Männer gesagt. | |
## Tag 7, 6. Juni 2013 | |
Nun spricht Holger G. Der Mitangeklagte, 44 Jahre, Lagerist aus Hannover, | |
hielt bis zum Ende mit den Untergetauchten Kontakt. Er soll dem Trio eine | |
Waffe überbracht und ihnen Pass und Führerschein überlassen haben. Holger | |
G. gesteht. Er verliest seine Erklärung so hastig, dass er noch mal | |
beginnen muss. Alles seien Freundschaftsdienste gewesen, er habe von den | |
Terrortaten nichts geahnt. | |
Holger G. belastet Zschäpe schwer. Eine „Autorität“ habe sie damals in der | |
rechten Szene dargestellt. Noch 2011 sei Zschäpe zweimal zu ihm gefahren, | |
um einen neuen Pass für Böhnhardt zu beschaffen. Wann immer er Geld | |
bekommen habe, sei es von Zschäpe gekommen, einmal 10.000 DM, zur | |
Verwahrung. Und er berichtet, wie Ralf Wohlleben ihn beauftragte, dem Trio | |
einen Beutel zu bringen. Als er merkte, dass darin eine Waffe lag, habe | |
Zschäpe ihn beruhigt. | |
Später habe sie zugesehen, als einer der Uwes die Pistole durchlud. Nach | |
seiner Erklärung atmet Holger G. erleichtert auf. Für die | |
Bundesanwaltschaft ist er ein Hauptbelastungszeuge: Seine Aussagen zeigten, | |
wie aktiv und eigenständig Zschäpe an der Tarnung und Bewaffnung der | |
Terroristen mitgewirkt habe. | |
## Tag 14, 24. Juni 2013 | |
Richter Manfred Götzl lässt das NSU-Bekennervideo im Saal zeigen. Die | |
Comicfigur Paulchen Panther führt mit zynischen Kommentaren durch die | |
Mordserie. Fotos der Erschossenen werden eingeblendet, Mundlos und | |
Böhnhardt haben sie gemacht. | |
Ganz still ist es im Saal, Zschäpe schaut versteinert zu. Später wird sie | |
gestehen, den Unterschlupf des Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße mit | |
zehn Litern Benzin angezündet zu haben: Am 4. November 2011, als sie vom | |
Tod der Uwes nach einem gescheiterten Bankraub in Eisenach erfuhr. Auf der | |
Flucht habe sie ein gutes Dutzend der Bekennervideos verschickt, an das | |
Türkische Generalkonsulat in München oder eine Moschee in Hamburg – | |
angeblich als letzten Freundschaftsdienst, ohne den Inhalt zu kennen. | |
Die Bundesanwaltschaft glaubt beides nicht: Zschäpe wollte mit dem Versand | |
des Videos das Terrorwerk des NSU zu Ende bringen und habe den | |
Hinterbliebenen noch einmal einen „Stich ins Herz“ versetzt. Das offenbare | |
„einen Abgrund an Menschen- und Staatsfeindlichkeit“. | |
## Tag 15, 25. Juni 2013 | |
Frank L. sagt aus, ein Brandermittler der Polizei. Er berichtet über das | |
Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße nach Zschäpes Brandstiftung: Mehrere | |
Stunden brauchte die Feuerwehr, um den Brand zu löschen. Im Brandschutt | |
habe man dennoch elf Waffen gefunden, darunter die Ceska 83, außerdem die | |
Handschellen der 2007 erschossenen Polizistin Michèle Kiesewetter. Später | |
wird Zschäpe zugeben, dass Waffen offen in der Wohnung lagen – sie habe | |
diese hin und wieder weggeräumt. | |
Für die Bundesanwaltschaft war die Wohnung die „Kommandozentrale“ der | |
Gruppe, abgesichert mit Überwachungskameras, Schießübungen im Keller. Hier | |
stand auch der Computer des Trios – unter Zschäpes Hochbett. Darauf, | |
unverschlüsselt: das Bekennervideo und Notizen von ausgespähten Tatorten. | |
Zschäpe könne bei all dem schwerlich behaupten, vom Terrorleben nichts | |
mitbekommen zu haben, so die Ankläger. Auch dass Zschäpe die Wohnung | |
angezündet habe, sei Teil eines festen Plans für den Fall der Entdeckung | |
gewesen, „ein höllisches Finale“. Die Bundesanwaltschaft wertet dies als | |
versuchten Mord, weil dabei eine 89-jährige Nachbarin in Lebensgefahr | |
geriet. | |
## Tag 17, 2. Juli 2013 | |
André P., Kriminalhauptmeister aus Zwickau, berichtet über Zschäpe, als sie | |
sich am 8. November 2011 der Polizei stellte, nach vier Tagen auf der | |
Flucht. Zschäpe verweigerte damals die Aussage, dennoch entwickelte sich | |
ein Gespräch. Wie es ihren Katzen gehe, habe Zschäpe gefragt. Und sie habe | |
betont, dass die Uwes ihre Familie gewesen seien: Sie sei „zu nichts | |
gezwungen worden“. Zschäpes Verteidiger kritisieren das Gespräch als | |
„rechtswidrige Ausforschung“. | |
## Tag 27, 24. Juli 2013 | |
Olaf B., ein breitschultriger Bauarbeiter mit donnernder Stimme, sagt aus, | |
ein früherer Nachbar Zschäpes. Als „Susann Dienelt“ habe Zschäpe sich ihm | |
vorgestellt. Sie sei eine „liebe, gute Nachbarin“ gewesen. B. nannte sie | |
Diddl-Maus: „Erstens heißt sie Dienelt. Und zweitens ist sie ’ne Maus, ist | |
ja hübsch anzusehen.“ | |
Über Zschäpes Gesicht, sie sitzt nur wenige Meter entfernt, huscht ein | |
spöttisches Lächeln. Beide meiden Augenkontakt. Die beiden Uwes, fährt Olaf | |
B. fort, habe er nie gesprochen. Einer sei ihr Freund gewesen, der andere | |
ihr Bruder, das habe „Susann“ erzählt. Und dass die Männer Fahrzeuge | |
überführten und sie von zu Hause arbeite. | |
Olaf B. erzählt, man habe manchmal mit Nachbarn in seinem Keller getrunken, | |
auch mit Zschäpe. „Ist in Ihrem Besitz ein Bild von Adolf Hitler?“, fragt | |
Richter Götzl. Ja, antwortet Olaf B. „Im Keller auf dem Fernseher.“ Das sei | |
nur ein Andenken aus dem Fundus eines verstorbenen Bekannten. | |
„Hat Frau Zschäpe mal was zu dem Bild gesagt?“, fragt Götzl. „Nein, gar | |
nichts.“ Eine Gesinnung habe man ihr nie angemerkt. Später im Prozess | |
werden Nachbarn und Bekannte Ähnliches berichten. Für die | |
Bundesanwaltschaft ist Zschäpe die „Tarnkappe“ des NSU-Trios gewesen, eine | |
„Meisterin im Verschleiern“. Sie allein pflegte elf Aliasnamen. Mit ihren | |
Alibis habe Zschäpe das Überleben der Gruppe im Untergrund gesichert. | |
## Tag 41, 1. Oktober 2013 | |
„Ich bin Ismail Yozgat, der Vater des Märtyrers, der am 6. April 2006 durch | |
zwei Schüsse in den Kopf erschossen und in meinen Armen gestorben ist“, | |
sagt ein Mann in dunkelgrauem Anzug mit müden Augen. Ismail Yozgat, Vater | |
des NSU-Opfers Halit Yozgat aus Kassel, berichtet, wie er das Internetcafé | |
seines Sohnes betrat und ihn blutend hinter der Theke entdeckte. | |
Yozgat steht auf, wirft sich auf den Boden, um zu zeigen, wie er seinen | |
sterbenden Sohn fand. „Er hat nicht geantwortet!“, ruft er in den Saal. | |
Yozgat weint. „Warum haben Sie mein Lämmchen getötet?“ | |
Er habe später einen Herzinfarkt erlitten, sagt Ismail Yozgat. Nie mehr | |
werde er seinen Geburtstag feiern. Zschäpe schaut starr auf ihren Laptop. | |
Für Bundesanwalt Herbert Diemer zeigt das: Zschäpe sei ein „eiskalt | |
kalkulierender Mensch, für den ein Menschenleben keine Rolle spielte, wenn | |
es um die Durchsetzung ihres mörderischen Willens ging“. | |
## Tag 44, 9. Oktober 2013 | |
Christina L., BKA-Beamtin, berichtet von ihren Ermittlungen zu einer Art | |
Archiv, das Polizisten im Brandschutt des NSU-Unterschlupfs in Zwickau | |
fanden: 68 abgeheftete Zeitungsartikel über die Mord- und Anschlagstaten | |
des NSU. Fingerabdrücke der Uwes habe sie darauf nicht gefunden, sagt | |
Christina L. – an zwei Artikeln aber die von Beate Zschäpe. Für die | |
Bundesanwaltschaft ist es ein wichtiges Indiz: Die Angeklagte habe über die | |
Verbrechen also Bescheid gewusst – und darüber sogar noch eine Chronik | |
geführt. | |
## Tag 60, 26. November 2013 | |
Christian und Karin M. erzählen von ihren Urlauben auf der Ostseeinsel | |
Fehmarn. Dort trafen sie ab 2007 wiederholt das Zwickauer Trio auf einem | |
Campingplatz. Als drei Freunde hätten sich diese ausgegeben. Man habe | |
zusammen gegrillt, Badminton gespielt, gesurft. Zschäpe habe die Männer | |
„bemuttert“. Und sie habe die „Urlaubskasse“ verwaltet, jedes Essen und | |
jeden Einkauf bezahlt, in bar. | |
Die drei seien immer harmonisch aufgetreten. Auch andere Urlaubsbekannte | |
werden das Trio später als „Familie“ beschrieben, die sich „extrem gut | |
verstanden“ habe – und Zschäpe als „Managerin des Geldes“. Später wird | |
Zschäpe behaupten, dass sie nach jedem Mord, den die beiden Uwes ihr | |
gebeichtet hätten, geschockt gewesen sei und sich mit den Männer überworfen | |
habe. Die Harmonie in den Urlauben spreche dagegen, erwidert die | |
Bundesanwaltschaft. | |
Und: Zschäpe habe nicht nur auf den Reisen die Finanzen verwaltet, sondern | |
auch sonst – wie etwa die Übergabe der 10.000 DM an den Mitangeklagten | |
Holger G. beweise. Der NSU hatte bei seinen 15 Raubüberfällen mehr als | |
600.000 Euro erbeutet. Da Zschäpe dieses Geld verwaltete, komme ihr eine | |
„herausragende Stellung in der Gruppenhierarchie“ zu. | |
## Tag 61, 27. November 2013 | |
Zschäpes Mutter Annerose, eine große Frau Anfang 60, Pflegehelferin, | |
würdigt ihre Tochter keines Blickes. Ob sie Angaben machen wolle, fragt | |
Richter Götzl. „Nein.“ Schon vor langer Zeit hatten sich beide zerstritten, | |
Zschäpe nennt sich ein „Omakind“. | |
Bei der Polizei hatte die Mutter noch gesprochen: Ihre Tochter sei nicht | |
leicht zu beeinflussen. Wenn sie von etwas überzeugt war, habe sie dies | |
„konsequent“ durchgesetzt. Auch Zschäpes Cousin Stefan A., früher ein | |
rechter Skin, tritt an diesem Tag auf. Für das Trio sei er nicht politisch | |
genug gewesen, sagt Stefan A., nur ein Partytyp und „Assi“. Auch Stefan A. | |
sagt: Zschäpe habe die Männer „im Griff“ gehabt, sie habe „sich nicht �… | |
den Mund fahren lassen“. | |
## Tag 86, 19. Februar 2014 | |
Norbert V. vom Thüringer Landeskriminalamt erzählt, wie er am 26. Januar | |
1998 Zschäpes Jenaer Wohnung und eine von ihr gemietete Garage durchsuchte. | |
Nach den Razzien ging das Trio in den Untergrund. In der Garage fand | |
Norbert V. fünf Rohrbomben, 1,4 Kilo TNT, und rechtsextreme Flugblätter. | |
In Zschäpes Wohnung hingen über dem Sofa eine Gaspistole, ein Luftgewehr, | |
ein Wurfstern, fünf Messer und ein Morgenstern. An einer Wand ein Bild mit | |
Hakenkreuz. Der LKA-Mann berichtet auch von zwei „Pogromlyspielen“, eins in | |
der Garage, eins unter Zschäpes Sofa. In dieser selbst entworfenen | |
Monopoly-Abwandlung sollen Städte „judenfrei“ gemacht werden, Bahnhöfe si… | |
KZs, eine Ereigniskarte teilt mit, man habe „eine Infektion“ beim „Kacken | |
auf ein Judengrab“ erlitten. | |
## Tag 127, 15. Juli 2014 | |
Ein stämmiger Mann wird in Handschellen in den Saal geführt. Tino Brandt, | |
einst Anführer des rechtsextremen „Thüringer Heimatschutzes“ und V-Mann, | |
sitzt gerade wegen Kindesmissbrauchs in Haft. Im „Thüringer Heimatschutz“ | |
hatten sich Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos radikalisiert. | |
Brandt belastet Zschäpe: Er habe sie wiederholt auf Szeneschulungen, Demos | |
und Stammtischen getroffen. Zschäpe sei „keine dumme Hausfrau gewesen“. F�… | |
die Ankläger passt das ins Bild: Die Angeklagte sei damals keine | |
Mitläuferin gewesen, sondern stramm rechtsextrem – und deshalb mit in den | |
Untergrund gegangen. | |
Tatsächlich stand Zschäpe schon seit 1995 im Fokus des Verfassungsschutzes. | |
Sie beteiligte sich an rechten Aufmärschen, meldete selbst einen an, soll | |
sich in Diskussionen für eine Bewaffnung ausgesprochen haben. | |
Mit Böhnhardt und Mundlos verschickte sie Briefbombenattrappen an die | |
Jenaer Stadtverwaltung, Polizei und Lokalzeitung. In der Stadt deponierte | |
das Trio zwei Koffer mit Bombenattrappen und Hakenkreuzen, an eine | |
Autobahnbrücke hängten sie eine Puppe mit Davidstern. | |
## Tag 128, 16. Juli 2014 | |
Aufregung nach der Mittagspause. Richter Manfred Götzl berichtet, dass | |
Zschäpe gerade einem Wachbeamten erklärt habe, sie habe kein Vertrauen mehr | |
in ihre Verteidiger Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl. „Ist das | |
richtig, Frau Zschäpe?“ Zschäpe nickt. Götzl verlangt eine schriftliche | |
Erklärung. Die liefert Zschäpe später: Sie wolle schon länger aussagen, | |
ihre Anwälte aber hinderten sie daran. Zudem seien sie schlecht | |
vorbereitet, stellten die falschen Fragen und setzten sie unter Druck. | |
Der Bruch kommt überraschend, Zschäpe hatte bis dahin mit ihren Anwälten | |
gescherzt und sich Bonbons geteilt. Tatsächlich aber hat die Angeklagte da | |
bereits Kontakt zu einem Münchner Strafverteidiger aufgenommen: Hermann | |
Borchert. | |
Richter Götzl lehnt eine Ablösung der Verteidiger ab – es hätte den Prozess | |
zum Platzen gebracht. Zschäpe habe nicht nachgewiesen, dass das | |
Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört sei. Zschäpe aber bleibt hart – sie | |
redet irgendwann kein Wort mehr mit den Anwälten, verlangt, dass sie sich | |
von ihr wegsetzen und erstattet Anzeige gegen sie. | |
Für die Bundesanwaltschaft zeigt auch das, wie sich Zschäpe nicht | |
unterordnen lässt: Im gesamten Prozess sei Zschäpe „bestimmend, | |
selbstbewusst und durchsetzungsstark“ aufgetreten. Im Sommer 2015 wird ihr | |
das Gericht einen neuen Pflichtverteidiger gewähren, Mathias Grasel. Der | |
Junganwalt, Anfang 30, ist Bürokollege von Hermann Borchert. | |
## Tag 132, 30. Juli 2014 | |
Maria H., eine frühere Punkerin, berichtet, wie sie 1996 im Jenaer | |
Plattenbauviertel Winzerla von einer jungen Frau derart geschubst wurde, | |
dass sie sich einen Fuß brach. Dann habe sich die Frau auf sie raufgesetzt | |
und sie gezwungen, zu sagen „Ich bin eine Potte“. Später, so Maria H., habe | |
sie die Angreiferin auf Fotos erkannt: Es sei Beate Zschäpe gewesen. | |
Die damalige Begleiterin von Maria H. berichtet, Zschäpe habe einen | |
„krassen“ Ruf gehabt: Diese habe keine Skrupel, auf Leute loszugehen. Auch | |
der Mitangeklagte Holger G. berichtete der Polizei, wie Zschäpe einer | |
Punkerin in einem Bus einmal „eine reingehauen habe, weil diese blöd | |
geschaut habe“. Auch dieser Tag wird zum Nachweis, wie gewalttätig Beate | |
Zschäpe auftreten kann. | |
## Tag 210, 16. Juni 2015 | |
Falko H., ein BKA-Mann, berichtet von einer Wette des Trios. Auf einer CD | |
aus dem letzten NSU-Unterschlupf fanden die Ermittler ein Bild von Zschäpe | |
und Böhnhardt und eine Wette, wer bis 1. Mai sein Wunschgewicht erreiche. | |
Der Einsatz: „200 Mal Videoclips schneiden“. | |
Falko H. berichtet, wie er in den Fundstücken nach Videos gesucht habe, auf | |
die dieser Einsatz passen könnte. Dazu gepasst habe nur das | |
NSU-Bekennervideo – weil es tatsächlich viele Schnitte beinhalte und | |
außerdem kurz nach dem Wettende entstanden war. | |
## Tag 249, 9. Dezember 2015 | |
Zschäpe, so hat es ihr Verteidiger Mathias Grasel angekündigt, bricht an | |
diesem Tag ihr Schweigen. Schon im Morgengrauen warten Zuschauer und | |
Journalisten vor dem Gericht, auch Opferangehörige sind da. Neben Zschäpe | |
sitzt Grasel und verliest eine Erklärung für seine Mandantin: Diese habe | |
mit den vorgeworfenen Taten nichts zu tun – alles sei Werk der beiden Uwes | |
gewesen. Zschäpe habe stets erst im Nachhinein von den Morden und | |
Anschlägen erfahren und sei jedes Mal „geschockt“ gewesen. Aber sie hätte | |
die beiden nicht stoppen können. Und auch nicht verlassen. Denn die Uwes | |
hätten gedroht, sich zu töten, wenn Zschäpe ginge. | |
„Ich stand vor einem unlösbaren Problem“, liest Grasel in Zschäpes Namen. | |
Opferangehörige nennen die Einlassung „erbärmlich“. „Sie lügt, wir gla… | |
ihr nicht“, sagt Ismail Yozgat. „Nach dem ersten Mord hätte sie zur Polizei | |
gehen müssen. Dann hätte sie neun Morde verhindern können.“ | |
Auch die Bundesanwaltschaft spricht von einem Bild, „wie es nicht zutreffen | |
kann nach der Beweisaufnahme“. Richter Götzl scheint die Ausführungen | |
ebenfalls nicht recht zu glauben: Er stellt in den folgenden Prozesstagen | |
Dutzende Nachfragen. Zschäpe wird diese nur schriftlich und nach | |
wochenlanger Beratung mit Grasel und Borchert beantworten. Die mehr als 300 | |
Fragen der Opferanwälte lässt sie unbeantwortet. | |
## Tag 313, 29. September 2016 | |
Zschäpe spricht erstmals selbst im Prozess. Vor ihr liegt eine kurze | |
Erklärung, sie verliest sie mit klarer, etwas gehetzter Stimme. „Ich | |
verurteile, was Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos den Opfern und deren Familien | |
angetan haben, sowie mein eigenes Fehlverhalten.“ | |
Sie selbst habe sich früher „durchaus mit Teilen des nationalistischen | |
Gedankenguts“ identifiziert. Das aber sei vorbei. Heute bewerte sie | |
Menschen nur noch „nach ihrem Benehmen“, Gewalt lehne sie ab. | |
Die Bundesanwaltschaft hält ihre Worte für dahingesagt: Wann und warum | |
Zschäpe ihre rechtsextreme Ideologie abgelegt habe, habe sie bis heute | |
nicht dargelegt. | |
## Tag 336, 17. Januar 2017 | |
Gerichtspsychiater Henning Saß trägt sein Gutachten über Zschäpe vor. Saß, | |
seit 40 Jahren in der Forensik, ist eine Koryphäe. Ein Gespräch mit ihm | |
hatte Zschäpe verweigert. Monatelang aber hat Saß sie im Prozess | |
beobachtet und Zeugenaussagen studiert. | |
Er erklärt Zschäpe für voll schuldfähig. Sie zeige „antisoziale“ und | |
„manipulative“ Züge, wirke im Prozess, als habe das Verhandelte „kaum | |
etwas mit ihr zu tun“. Sie neige dazu, ihre Verantwortung auf andere zu | |
schieben. Es sei nicht auszuschließen, dass sie wieder schwerste Straftaten | |
verübt, sollte sie an die falschen Leute geraten. Saß’ Gutachten ebnet den | |
Weg zu einer lebenslangen Verurteilung samt Sicherungsverwahrung. | |
## Tag 361, 3. Mai 2017 | |
Zschäpes Anwälte kontern mit einem eigenen Gutachter: Joachim Bauer, | |
Psychotherapeut und Bestsellerautor. Er darf mit Zschäpe sprechen und | |
trifft sie fünfmal in Haft. Bauer erklärt die 43-Jährige für vermindert | |
schuldfähig: Sie sei krankhaft abhängig gewesen von Uwe Böhnhardt – obwohl | |
dieser sie sogar geschlagen habe. | |
Bauer schildert Zschäpe als schwache Persönlichkeit, sie sei ihren | |
„rechtsradikalen Verführern“ erlegen gewesen. Später wird bekannt, dass | |
Bauer versuchte, Zschäpe Pralinen in die Haft mitzubringen, und dass er den | |
Prozess in einem Schreiben an eine Zeitung als „Hexenverbrennung“ | |
bezeichnete. Bauer wird für befangen erklärt, sein Gutachten ist damit | |
wertlos. | |
## Tag 375, 25. Juli 2017 | |
Richter Manfred Götzl schließt die Beweisaufnahme. Bundesanwalt Herbert | |
Diemer beginnt sein Plädoyer: Alle Vorwürfe hätten sich im Prozess | |
bestätigt. Zschäpe sei voll mitverantwortlich für den NSU-Terror, den | |
„infamsten Taten“ seit der RAF. | |
Das Trio sei ein „verschworenes Triumvirat“ gewesen – und Zschäpe die | |
Logistikerin: Sie habe für die Tarnung gesorgt, das Geld verwaltet, falsche | |
Papiere und Wohnungen beschafft – und am Ende das NSU-Bekennervideo | |
verschickt. „Weder die Anschläge noch die Überfälle hätten ohne ihr Zutun | |
in dieser Form stattfinden können.“ | |
Das Plädoyer der Bundesanwaltschaft wird acht Prozesstage dauern. Dann | |
fordert er lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. | |
## Tag 419, 24. April 2018 | |
Zschäpes Anwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert plädieren. Die Anklage | |
ist für sie haltlos, „Fake News“. Zschäpe habe mit den Terrortaten nichts | |
zu tun. Es gebe keinen Beweis, dass sie an einem Tatort war oder in | |
irgendeine Planung involviert. | |
Die Bundesanwaltschaft liefere „Spekulationen“ und ignoriere Entlastendes. | |
„Der Rechtsstaat wird es aushalten müssen, dass es Verbrechen gibt, für die | |
die eigentlichen Täter nicht mehr belangt werden können“, sagt Grasel und | |
meint Mundlos und Böhnhardt. | |
Zschäpe sei nur für die Raubüberfälle und das Anzünden des Unterschlupfs | |
verantwortlich. Dafür genügten maximal zehn Jahre Haft. Später halten | |
Zschäpes Alt-Verteidiger Sturm, Stahl und Heer ein zweites Plädoyer. Auch | |
für sie ist Zschäpe unschuldig – und sofort freizulassen. Opferanwälte | |
nennen die Plädoyers „eine Verhöhnung der Opfer“. | |
## Tag 436, 26. Juni 2018 | |
Auf Antrag der Alt-Verteidiger von Zschäpe erscheint Christian S., ein | |
Brandgutachter des LKA Bayern. Er soll bestätigen, dass die Brandstiftung | |
von Zschäpe in der Frühlingsstraße weniger gefährlich war als behauptet – | |
und tut das Gegenteil. Wäre die Feuerwehr nur fünf Minuten später gekommen, | |
sagt Christian S., das Haus hätte komplett in Flammen gestanden. | |
Danach schließt Richter Götzl die Beweisaufnahme, zum wohl letzten Mal, und | |
verkündet den vorletzten Termin des Prozesses: die Schlussworte der | |
Angeklagten, am kommenden Dienstag. Verteidiger Grasel kündigt an, dass | |
Zschäpe fünf Minuten sprechen werde. Danach wird nur noch ein | |
Verhandlungstag folgen: die Urteilsverkündung. | |
3 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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