# taz.de -- Mythos Autobahn: Versprechen einer besseren Gesellschaft | |
> Schnellstraßen wie die A 100 galten einst als Zeichen des Fortschritts. | |
> Ihre Faszination zu verstehen, hilft, sie zu verhindern. | |
Bild: Brücke der Stadtautobahn Höhe Detmolder Straße | |
Berlin taz | In Berlin steht ein Stück Autobahn seit 2017 unter | |
Denkmalschutz. Gut, eigentlich ist es die [1][Wohnanlage Schlangenbader | |
Straße], die diese Autobahn überspannt. Aber ohne den durch die Anlage | |
Richtung Steglitz verlaufenden Strang A 104 der Westberliner | |
Innenstadtautobahn wäre „die Schlange“ eben niemals entstanden. Es ist der | |
bisher einzigartig gebliebene Versuch, aus 44.000 Quadratmetern Raum für | |
Nur-Autoverkehr ein lebendiges neues Stadtviertel zu gestalten, eine | |
Teillösung für die schon damals grassierende Wohnungsnot. | |
Allerdings, „die Schlange“, entworfen von Georg Heinrichs, Gerhard und | |
Klaus Krebs, wurde zu einem der größten der vielen Westberliner Bau- und | |
Korruptionsskandale, ein Architektur- und Stadtplanungstrauma. Alle | |
regierenden Parteien wurden erfasst, Senate stürzten, die Alternative Liste | |
erhielt enormen Auftrieb angesichts des lokalen Filzes aus Verwaltungen, | |
Investoren, Gewerkschaften, Genossenschaften, Medien und Politik; die | |
Bürgerinitiative Westtangente wuchs zu einer der mächtigsten ihrer Art und | |
Zeit. | |
Doch wie stark der positive Mythos Autobahn war und ist, zeigt nicht nur | |
die [2][aktuelle Debatte um den Weiterbau der A 100] in Berlin. In den | |
1990ern entschloss sich etwa die Bundesrepublik, die von der Europäischen | |
Union zugesagten Gelder nicht in eine ökonomisch und politisch viel | |
sinnvollere Eisenbahn zwischen Hamburg und Tallinn zu stecken, sondern eine | |
nationale Ostsee-Autobahn zu errichten, die direkt vor der Grenze nach | |
Polen Richtung Berlin abbiegt. | |
Aber auch Polen oder die baltischen Staaten setzten nach 1990 systematisch | |
auf den Ausbau der nationalen Autobahnen, nicht den der transkontinentalen | |
Eisenbahnstrecken. Was sich heute unter anderem aus militärstrategischen | |
Gründen als katastrophale Fehlkalkulationen für den Schutz Europas vor dem | |
russischen Imperialismus herausstellt. | |
## Autobahnen mit Heilsversprechen | |
Aber der Bau von Autobahnen ist eben mehr als nur der einer | |
Verkehrsinfrastruktur. Er steht aus der Sicht von Generationen von | |
PlanerInnen, PolitikerInnen, InvestorInnen, aber vor allem WählerInnen auch | |
für eine Gesellschaft, die durch den individuellen Autoverkehr verbessert | |
werden kann. | |
Solche Straßen seien ein Instrument der Demokratisierung, verbänden große | |
mit kleinen Städten, gäben dem Land die Möglichkeit, am Fortschritt der | |
Zentren teilzuhaben. Dass sie, wie in Mecklenburg-Vorpommern, im | |
Speckgürtel von Berlin oder in Mitteldeutschland nach 1990 aufs | |
schmerzhafteste erlebt werden musste, zugleich dazu dienen, das Land nur | |
noch zum Vorland der Metropolen zu machen, wird ignoriert. | |
Autobahnen und Highways dienen nach dieser Sichtweise auch dazu, die Umwelt | |
zu schonen, weil der Benzinverbrauch angeblich sinke, Wohnviertel von Lärm | |
und Dreck des Durchgangsverkehrs befreit würden. | |
## Volksfest Autobahneröffnung | |
Die Eröffnung von Streckenabschnitten und gar Tunneln war oft ein | |
gesellschaftliches Ereignis, gefeiert mit Reden, Rummel und Musik. Dass in | |
Berlin die Mächtigen sich in das Hotel mit dem bald höchsten Turm der Stadt | |
zurückziehen, weil sie Proteste fürchten, ist eher die lokal bedingte | |
Ausnahme. | |
Als in Hamburg der [3][Deckel über der erheblich ausgebauten A 7] | |
eingeweiht wurde, gab es ein Volksfest zur Wiedervereinigung der Ortsteile | |
von Stellingen. Und auch bei dieser Anlage wurde immer wieder das Argument | |
gebracht: Autobahnen sind doch eigentlich schön, eine Leistung der Kultur, | |
der Architektur, der Ingenieurskunst, der Landschaftsplanung. Das war seit | |
Beginn der 1920er Jahre eines der wichtigsten Versprechen der | |
AutobahnplanerInnen. | |
Aus der Sicht der Zeit war mindestens angesichts der | |
Automobilisierungsquote in Europa die Forderung nach Straßen, die nur einem | |
einzigen Verkehrsträger dienten, volkswirtschaftlich völlig unsinnig: Die | |
Eisenbahn war weit dichter vernetzt, keine Kleinstadt, kaum ein größeres | |
Dorf ohne eigenen Gleisanschluss. Und sie konnte weit mehr Personen und | |
Güter als die Straße transportieren. | |
Aber solche Straßen, so war das große, auf Ausstellungen und in | |
prachtvollen Bildbänden verbreitete Versprechen, könnten die Landschaft, | |
die Heimat, die Nation zusammenbinden in einem gemeinsamen Erlebnis ihrer | |
natürlichen und von der Zivilisation geschaffenen Schönheiten. Das | |
Versprechen gab es auch in den USA. | |
Aber dort wurden die für diesen Zweck gedachten Autostraßen eher als | |
Langsamfahrstrecken durch Nationalparks oder touristisch vermarktete | |
Landschaften geführt. Der klassische Highway dagegen ist die möglichst | |
effizient und ablenkungsfrei geführte Linie zwischen Stadt A und Stadt Z. | |
Im Nordosten der USA oder in Kanada kann man ganze Städte passieren, von | |
denen nur die Zufahrten zu und Abfahrten von den Autobahnen zu sehen sind, | |
ansonsten aber nur scheinbar dichter Wald. Die aus Filmen bekannten, | |
großartig die Weite der Landschaft inszenierenden, schnurgeraden Highways | |
des bevölkerungsarmen Westens sind eher die Ausnahme. | |
## Landschaften für vier Räder | |
Ganz anders im dicht bevölkerten Europa. Hier werden Autobahnen lieber in | |
weiten Schwüngen an sanften Berghängen etwa entlang der Meeresküsten, der | |
Rhone oder durch die Porta Westfalica geführt. Die Weite der Mark | |
Brandenburg betonen die PlanerInnen mit Kiefernhainen, Ausblicken auf | |
niedrige Dörfer mit spitzen Kirchtürmen und langen Linien ganz vorsichtig | |
gebogen geführter Strecken – schnurgerade Linien dagegen findet man nur | |
selten. | |
Die Strecke zwischen München und Salzburg ist zugleich ein Panorama erster | |
Klasse, mit herrlichen Blicken auf Wiesen, Zwiebelturmkirchen und dichten | |
Dorfkernen vor der hoch ragenden Alpenkulisse. Der Übergang über den | |
Brenner war, bis der Tunnel ihn effizient, aber auch langweilig machte, das | |
pathetische Auf- und Absteigen auf vier Rädern – bei den schwachen Motoren | |
der Nachkriegszeit auch noch begleitet von der Angst, ob „er“ oder „sie“ | |
das denn schaffen würde. | |
Wenn Täler gequert werden mussten, um Auf- und Abfahrten der Pkws und vor | |
allem der Lastwagen nicht zu sehr zu erschweren, war das der Anlass für | |
grandiose Brückenbauten, die möglichst auch für die Autofahrer zu erleben | |
sein sollten. | |
Auffällig oft ist die Anfahrt zu solchen Brücken nicht schnurgerade anlegt. | |
Etwa die im langen Bogen um den Schlosspark Charlottenburg herumgeführte | |
Berliner [4][Rudolf-Wissell-Brücke] der A 100. Wieder ist sie auch für die | |
im Auto Sitzenden gut als stadtästhetisches Ereignis zu betrachten – und | |
war 1961 bei der Einweihung nicht nur die längste und schnell auch | |
verkehrsreichste Autobahnbrücke Europas, ein bautechnisches Ereignis, | |
sondern auch ein Zeichen dafür, dass Westberlin im Wettkampf mit Ostberlin, | |
der Kapitalismus mit dem Sozialismus, wieder einmal die Nase vorne hatte. | |
## Systemüberlegenheit des Autos | |
Charlottenburg ist der Bezirk der dramatisch angelegten Autobahnbrücken und | |
-streckenführungen. Man kann über das verschlungene Autobahndreieck am ICC | |
sagen, was man will – aber aufregend ist es. Und es ist ein politisches | |
Denkmal. | |
Viel debattiert wurde die Rolle des Autobahnbaues in der Nazizeit: Vor | |
allem die groß inszenierte Lüge Hitlers, er habe den Bau der | |
Reichsautobahnen geplant und begonnen, damit die Arbeitslosigkeit gesenkt, | |
das Land wieder auf Optimismuskurs gebracht – und, Gegengeschichte, es für | |
den Krieg fit gemacht. Tatsächlich spielten die Autobahnen im Krieg kaum | |
eine Rolle. | |
Wenig beachtet ist hingegen die Rolle des Autobahnbaus im Kalten Krieg. In | |
der Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Westberlin hat sich, | |
beruhend auf Vorplanungen aus dem Büro Albert Speers, seit den 1950er | |
Jahren mit Verve auf den Bau innerstädtischer Autobahnen gestürzt. Das | |
hatte auch etwas damit zu tun, dass Autobahnen gleichzeitig in den USA zum | |
Kennzeichen moderner Stadtplanung geworden waren. Oder Paris sich mit der | |
entlang der alten Festungseisenbahn geführten Peripherique in wenigen | |
Jahren eine vollständig neue Infrastruktur schuf. | |
Eine Autobahn in der Stadt – auch wenn sie Zehntausende Wohnungen massiv im | |
Wert minderte, die Gesundheit der AnwohnerInnen durch den Lärm und die | |
Abgase gefährdete, die Wirtschafts- und Sozialstrukturen ganzer | |
Stadtviertel zerschnitt – war das Zeichen von Systemüberlegenheit | |
schlechthin. | |
Dass in den mittelosteuropäischen Staaten nach 1990 die Begeisterung für | |
den Autobahnbau so groß war, die für den als kollektivistisch angesehenen | |
Eisenbahnbau so gering, hing wesentlich mit dieser symbolischen Funktion | |
des Autobahnbaus im Kalten Krieg zusammen. | |
## Asterix und die Autobahn | |
Diese Rolle ging bis in die Populärkultur: Asterix-Hefte sind oft auch eine | |
große Feier der Nur-Verkehrsstraßen, inklusive quer über die Straße | |
gespanntem Restaurant „Esso-Guck“ und dem heiteren Kellner: „Wenn ihr Gl�… | |
habt, könnte ihr während des Essens ein Unglück auf der Wagenbahn | |
miterleben.“ Es war erst die Ölkrise 1973, die bei den autofreien Sonntagen | |
den gigantischen Verbrauch von Flächen deutlich machte, auf denen nun kein | |
Verkehr mehr stattfand. | |
Trotz der ständigen Ausbauten wuchsen die Stauzeiten immer weiter. Je | |
dichter das Netz wurde, desto sichtbarer waren auch seine Eingriffe in als | |
Tradition empfundene Landschaftsbilder, etwa im oberen Maintal, wo die | |
gesamte barocke Raumkomposition zwischen dem fränkischen Kloster Banz und | |
der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen mit dem Ausbau der Autobahn zwischen | |
Thüringen und Bayern immer weiter zerschlagen wurde. | |
Aber es bleibt weiter zu konstatieren: Solange wir diese Begeisterung für | |
das Bild der Autobahn nicht verstehen, für die Hoffnung, die mit solchen | |
Straßen verbunden ist, wird man sich ihnen nicht politisch wirksam in den | |
Weg stellen können. | |
27 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nikolaus Bernau | |
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