| # taz.de -- Musikerin Barbara Morgenstern: Der Mond ist ein Ohrwurm | |
| > Weltuntergangsstimmung als Kammerpop: Musikerin Barbara Morgenstern | |
| > sinniert auf ihrem neuen Album über Natur und Menschen. | |
| Bild: Während der Pandemie wurde ihr fundamental klar, dass der Mensch keinesw… | |
| Dass es unserer Spezies schwerfällt, sich als Teil der Natur zu verstehen, | |
| hat nicht zuletzt durch die Klimakrise neue Brisanz bekommen. Und das, | |
| obwohl die Rede vom Anthropozän sehr stichhaltig ist, also der | |
| wissenschaftlichen Theorie, die besagt, dass um 1950 eine neue Epoche | |
| begonnen hat, in der die Menschheit zu einem biologischen Einflussfaktor | |
| auf der Erde geworden ist. | |
| In Puncto Metaphernbildung bedienen wir uns trotzdem gern bei der Tierwelt. | |
| In den Songzeilen „Ich krebs herum/ Tapps hinterher/ Mein dickes Fell/ Wird | |
| nass und schwer“ steckt nur eine Auswahl der Redensarten, die Barbara | |
| Morgenstern für ihren assoziationsreichen, rhythmisch federnden Song | |
| „Creatures (One Health)“ zusammengetragen hat. | |
| Während der Pandemie, so erzählt die Berliner Musikerin anlässlich der | |
| Veröffentlichung ihres neuen Albums „In anderem Licht“, sei ihr auf eine | |
| ganz grundsätzliche Weise klargeworden, „dass der Mensch eben nicht | |
| außerhalb der Natur steht, sondern Teil davon ist“ – was sie in dem Song | |
| „Creatures (One Health)“ auf spielerische Art verarbeitet. | |
| ## Polykrisen und Tumultöses | |
| Der eskalierende Wahnsinn in der Welt, die Polykrisen, durch die wir seit | |
| einiger Zeit pausenlos schlittern, all das Tumultöse taucht in fast allen | |
| von Morgensterns elf Songs auf – in einer sloganfreien, angenehm | |
| zurückgenommenen Weise. | |
| Dieses Understatement spiegelt sich auch in der klassischen, eher zarten | |
| Instrumentierung: Neben einem Flügel, den Morgenstern selbst spielt, sind | |
| auf dem Album Berit Jung (Kontrabass), Alice Dixon (Cello) und Josa Gerhard | |
| (Violine) zu hören; dazu spielt Sebastian Vogel leichtfüßig Schlagzeug und | |
| Christian Biegai wunderbar grummelig Saxofon. | |
| Lag auf dem elektroakustischen Vorgängeralbum „Unschuld und Verwüstung“ | |
| (2018) Morgensterns Fokus noch auf persönlicher Selbstverortung, etwa der | |
| Frage, wie damit umzugehen ist, dass man sich plötzlich in der Lebensmitte | |
| wiederfindet – für Menschen mit Subkultursozialisation ja oft besonders | |
| überraschend – und „Live fast, die young!“ (so hieß auch ein Titel auf … | |
| Album) nicht mehr so richtig passt, tritt Morgenstern auf „In anderem | |
| Licht“ ein paar Schritte zurück. | |
| Und dadurch entsteht Raum, um das große Ganze in den Blick zu nehmen. Im | |
| Titelsong lässt die 52-Jährige den Mond auf eine Erde blicken, auf der | |
| alles wie immer sein wird, „nur in einem anderen Licht“ – was eben auch m… | |
| sich bringt, dass „die alte Welt“ nicht mehr existiert. Denn fast so | |
| bedeutend wie die Dinge selbst ist die Frage, wie sie denn zu deuten sind, | |
| von welcher Seite man daraufleuchtet. | |
| ## Morphen und Mäandern | |
| Worauf Morgenstern glücklicherweise keine allzu schlauen Antworten | |
| präsentiert, sondern statt dessen Resonanzräume schafft. Die teils sehr | |
| verrätselten, inhaltlich durchlässigen Songtexte morphen beim wiederholten | |
| Hören immer weiter. Getragen werden sie von mäandernden Melodien, die sich | |
| ebenfalls eher tastend voranbewegen und die große Pose vermeiden. | |
| Ohrwurm-Qualität entwickeln etliche der Stücke trotzdem. | |
| Auch in „Knallgelber Mond“ übernimmt der so oft romantisierte Himmelskörp… | |
| eine Beobachterrolle: Der Song entstand nach einer brütendheißen Nacht | |
| vorletzten Sommer, die Morgenstern mit Freunden am Kreuzberger | |
| Landwehrkanal verbrachte. Der Abend hatte, weil es Wochen nicht geregnet | |
| hatte und unerträglich heiß war, „plötzlich einen Touch von Weltuntergang�… | |
| Auch die Pandemiesongs sind so abstrakt gehalten, dass sie sich noch mit | |
| Gewinn hören lassen, gerade weil die Coronazeit auch bereits wieder zur | |
| fernen Erinnerung verblasst. Das schwelgerische „Der Witz“ handelt von den | |
| Freuden des Alleinseins. Trotzdem: Einen Witz kann man sich schlecht selbst | |
| erzählen. Doch leider wurde auch der gemeinsame Humor ausgebremst von | |
| Verwerfungen, die bis heute nachhallen: „Ich sitz in meiner Kammer/ Das | |
| Freundschaftsband/ Scheint von Zeit zu Zeit/ Zum Riss bereit.“ | |
| In Morgensterns Wahrnehmung ging, zumindest hierzulande, das aggressive | |
| Hochkochen von Standpunkten mit Covid erst richtig los. Das schön | |
| pointierte „Die Liebe zur Sache“ etwa entstand, als sie gerade selbst | |
| Corona hatte und „das Querdenken leider auch in meinem Umfeld zum Thema | |
| wurde“. Mittlerweile hat sich die Eskalationsschraube noch weiter gedreht. | |
| „Vom Impfen waren immerhin noch alle betroffen. Inzwischen zerfleischen | |
| sich die Leute über externe Themen, etwa den Nahost-Konflikt.“ | |
| ## Elektronica, Folk und Pop-Kammermusik | |
| Ihr ästhetisches Konzept für die Songs beschreibt sie als „große Gefühle … | |
| spröden Gewand“ – wobei zumindest Morgensterns Klangweiten diesmal | |
| eigentlich kaum spröde klingen. Die Musikerin, in Hagen am Rande des | |
| Ruhrgebiets aufgewachsen, kam Mitte der 1990er Jahre nach Berlin und begann | |
| in der sogenannten Wohnzimmerszene Musik zu machen; [1][seither ist sie mit | |
| wechselnder Gewichtung zwischen Electronica, Folk und Songwriter-Pop | |
| unterwegs]. Ihr elftes Studioalbum führt sie nun in kammermusikalische | |
| Popgefilde. | |
| 2022 bezeichnete sie selbst in einem Interview ihr gegenwärtiges Schaffen | |
| als „orchestrale Phase“. Doch vor überwältigendem Pathos oder was man son… | |
| mit orchestraler Wucht assoziieren mag, muss man sich bei ihr nicht | |
| fürchten. Sie habe damit eher einen „anderen Klangkörper“ gemeint. Als | |
| Musiker:in saß man ja lange genug im stillen Kämmerlein, dementsprechend | |
| freue sie sich über „die Möglichkeit, mit diesen unfassbar tollen | |
| Musikerinnen und Musikern live spielen zu können“. | |
| Entstanden ist die aktuelle Begleitband aus ihrer Zusammenarbeit [2][mit | |
| der Theater-Künstlergruppe Rimini Protokoll.] Für das Stück [3][„All right. | |
| Good Night“] komponierte sie Auftragsmusik für ein 17-köpiges Orchester – | |
| was auch eine Inspiration für das neue Album wurde. Seit 2012 hat sie bei | |
| sieben Produktionen der deutsch-schweizerischen Gruppe mitgewirkt – [4][und | |
| zudem noch mit dem Performance-Kollektiv Showcase Beat Le Mot gearbeitet]. | |
| ## Rimini-Protokoll und Showcase Beat Le Mot | |
| Theatermusik ist zu einem festen Standbein für Barbara Morgenstern | |
| geworden. Ebenfalls Einfluss auf ihre Herangehensweise ans Komponieren | |
| hatte die Arbeit mit dem Chor der Kulturen der Welt, den sie über 15 Jahre | |
| zusammen mit Philipp Neumann leitete. Kurz vor dem Intendanzwechsel am Haus | |
| der Kulturen der Welt in Berlin gab sie Ende 2022 die Leitung aus | |
| Zeitgründen auf. | |
| In ihrer Musik wirkt die Kollektiverfahrung des Chorgesangs aber hörbar | |
| nach. Vielleicht ist es gerade jene gemeinschaftliche Anmutung, die dafür | |
| sorgt, dass „In anderem Licht“ etwas Tröstliches hat – trotz der Abgrün… | |
| und Ängste, die in den Songtexten des Albums verhandelt werden. | |
| „Wie unter Dauerbeschuss/ Bekommt die Außenhaut schon Risse/ Wer sie | |
| gekonnt durchbricht/ Erschafft die größte Drohkulisse“, singt Morgenstern | |
| in „Schwarmintelligenz“ – und zeigt dabei, wie auch gegenwartssatte Musik | |
| Balsam für diese Risse sein kann. | |
| 20 Jan 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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