# taz.de -- Rimini Protokoll im Berliner HAU: Jenseits der Sicherheiten | |
> Uraufführung im HAU: „All Right. Good Night.“ behandelt unter anderem das | |
> Verschwinden der MH370 und ist ein Requiem über Verlust. | |
Bild: Szene aus „All right. Good night.“ von Rimini Protokoll | |
Verschwinden kann ein mühseliger Prozess sein. Etwa zweieinhalb Stunden | |
lang erzählen die [1][Regisseurin Helgard Haug aus dem Regiekollektiv | |
Rimini Protokoll] und die [2][Komponistin Barbara Morgenstern] mittels | |
Videoprojektionen und Einsatz von fünf Livemusikerinnen und -musikern des | |
Zafraan Ensembles von einem doppelten Verschwinden. | |
Zum einen geht es um ein vermisstes Flugzeug: Jene Boeing 777 von Malaysia | |
Airlines, die in den Morgenstunden des 8. März 2014 von den Radars der | |
Flugsicherung verschwand und von der Jahre später nur kleine Trümmerteile | |
an weit voneinander entfernten Orten angespült worden waren. Das andere | |
Verschwinden ist das von Haugs Vater. Bei ihm begann, ungefähr zum | |
Zeitpunkt der Flugzeugkatastrophe, das dementiell verursachte Absterben von | |
Gehirnzellen. | |
„All right. Good Night“ verschränkt das langsame Absinken des Vaters in die | |
dunklen Gefilde der zerlöcherten Identität mit der anfangs hektischen, | |
zunehmend verzweifelten und schließlich ergebnislos abgebrochenen Suche | |
nach dem verschwundenen Flugzeug. | |
Die Idee ist brillant. Das kleine, individuelle, aber doch weit verbreitete | |
Unglück – [3][von mehr als 55 Millionen Demenzkranken weltweit geht die WHO | |
aus] – wird mit der größten singulären Katastrophe der zivilen Luftfahrt | |
verknüpft. 239 Menschen, davon 12 Besatzungsmitglieder, fielen ihr zum | |
Opfer. Protagonisten sind aber weniger die Verschwundenen, oder, im Falle | |
des Vaters, der Verschwindende, sondern die, die zurückbleiben. Sie sind | |
die Suchenden, sind die, die die Fragen stellen. | |
## Die Sicherheit der Routinen | |
Mit Fragen beginnt auch der Abend im Berliner Hebbel-Theater. Fielen bei | |
Luftdruckabfall tatsächlich die Sauerstoffmasken von oben herunter, wie es | |
Stewardessen und Stewards so oft bei Flugbeginn ankündigen? Stülpten sich | |
die Erwachsenen zuerst die Masken über und sorgten sich dann um die Kinder? | |
Die Fragen zielen letztlich danach, ob im Verlaufe des Ungewöhnlichen die | |
Routinen, die für diesen Fall gefordert sind, auch ausgeführt werden. | |
Unsere auf Rationalität getrimmte Welt geht im Digitalen wie im Analogen | |
schließlich davon aus, dass das Unnormale, das Ungewöhnliche beherrschbar | |
bleibt, wenn es nur gut genug in kleine, selbst beherrschbar scheinende | |
Fragmente zerlegt wird. | |
Ob die Routineprozeduren im Falle von MH370 griffen, ist nicht | |
nachvollziehbar. Die Maschine wurde nicht gefunden. Aufzeichnungen aus dem | |
Inneren der Kabine sind nicht bekannt. | |
Beim Vater von Haug lässt sich über den Text, den die Tochter schrieb, und | |
der zur Musik des Liveensembles an zwei Projektionswände gebracht wird, das | |
Scheitern vieler Miniroutinen konstatieren. Der Vater, sein ganzes Leben | |
lang mit perfektem Orientierungssinn ausgestattet, verläuft sich jetzt im | |
Wald. Er erkennt die eigene Tochter nicht mehr. Es ist nicht einmal klar, | |
ob er das eigene Haus, das er vor Jahren klarsichtig zu einer Demenz-WG | |
umbauen ließ, noch erkennt, als er vom Altenheim dorthin gebracht wird, um | |
eine Art Probebesuch zu absolvieren. | |
## Realität als kollektive Vereinbarung | |
„All Right. Good Night“ ist allerdings nicht nur eine Chronik des | |
Niedergangs. Das sich zersetzende Gehirn des Vaters spielt ihm – und seiner | |
Umgebung – tolle Streiche. Er imaginiert sich als Leiter des Altenheims, | |
befördert Pflegekräfte, die er als gut empfindet. Solange sich die anderen | |
darauf einlassen, einlassen können – sei es aus Gnade, aus Verzweiflung, | |
aus Gleichgültigkeit – ist alles gut. | |
Realität ist vor allem eine kollektive Vereinbarung. Das wird in solchen | |
Momenten deutlich. Aus der kleinen Demenzblase, in der alle eine bestimmte | |
Rolle spielen, lässt sich erahnen, wie sich alternative Realitäten | |
verfestigen, wie Theorien über Verschwörungen lebensleitend werden können. | |
Vielfältige Verschwörungstheorien umranken auch den mysteriösen letzten | |
Flug von MH370. In den Verknüpfungen und Zwischenräumen dieser beiden | |
Ereignisse entsteht ein faszinierender Assoziations- und Emotionsraum. Eine | |
gute Entscheidung ist, diesen Raum nicht mit Performerinnen und Performern, | |
also Verkörperungen von Individuen, zu besetzen. Nur die Musik ist Träger | |
der Emotionen. | |
Leider ließ sich Komponistin Morgenstern von der für freie Gruppen | |
ungewöhnlich opulenten Besetzung zu orchestraler Breite hinreißen. Nur | |
selten spiegeln ihre Kompositionen die Fragilität des zerfallenden Gehirns | |
und die Vergeblichkeiten der Suchbewegungen wider. Zu oft blähen sie sich | |
zu cinemascopischer Dimension auf, versteigen sich gar zum Trost. | |
Die Lücken, die Unsicherheiten, denen sich dieser Abend anfangs stellt, | |
werden so zugekleistert. Ein Renner auf Festivals dürfte die Arbeit gerade | |
deshalb aber werden. Denn Differenzen tatsächlich auszuhalten, gehört nicht | |
zu den Stärken der aktuellen Bewohnerinnen und Bewohner des Abendlandes. | |
17 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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