| # taz.de -- Mirko Bonnés Roman „Seeland Schneeland“: Vermeintlich heroisch | |
| > Mirko Bonnés Roman „Seeland Schneeland“ erzählt von den Schrecken der | |
| > Liebe und der Ich-Suche. Von einem müden Helden nach einer Extremreise. | |
| Bild: Existenzielle Erfahrungen im Eis: Ernest Shackletons Polarexpedition und … | |
| Die Schrecken des Eises und der Finsternis, seit Christoph Ransmayrs | |
| gleichnamigem Roman sprichwörtlich, gehen für den, der sie überlebt hat, | |
| nie wirklich vorbei. Beispielsweise für einen, der die legendäre Expedition | |
| des Briten Ernest Shackleton überlebt hat, die in den Jahren 1914–16 den | |
| antarktischen Kontinent durchqueren wollte, im polaren Winter stecken | |
| blieb, das in unheimlicher Voraussicht Endurance, also Ausdauer, getaufte | |
| Schiff aufgeben musste, weil es von Eisschollen zerquetscht wurde, und sich | |
| per Rettungsboot und schließlich zu Fuß in Sicherheit zu bringen versuchte. | |
| Dass Shackleton sein Versprechen wahrmachte, trotz aussichtslos | |
| erscheinender Bedingungen alle Mitglieder seiner Mannschaft mehr oder | |
| weniger heil nach Hause zu bringen, gehört zu den exponierten Taten jener | |
| letzten, spektakulären und von einem wahnhaften Wettbewerbsdenken geprägten | |
| Phase des laut [1][Mirko Bonné] „vermeintlich heroischen Zeitalters“ der | |
| „Entdeckungen“. | |
| Wer mehr über die Shackleton-Unternehmung erfahren will, ist bestens | |
| bedient mit Bonnés grandiosem Roman „Der eiskalte Himmel“, dessen Held | |
| Merce Blackboro Bonné jetzt, nach fünfzehn Jahren, in dem aktuellen Roman | |
| wieder aufsucht, um zu berichten, was aus ihm geworden ist: eben einer, der | |
| immer noch von seinen Erlebnissen gezeichnet ist und ahnt, „dass von seiner | |
| in so jungen Jahren in Stücke gegangenen Person nicht alles aus der | |
| Antarktis zurückgekehrt war“. | |
| ## Vorgängerbuch ist „Der eiskalte Himmel“ | |
| Allerlei Motive und Figuren aus dem ersten tauchen auch im zweiten Buch um | |
| Blackboro auf, man kann es allerdings auch ohne entsprechende Vorkenntnisse | |
| genießen. Seinerzeit war Merce Blackboro ein 17 Jahre junger Bursche, der, | |
| einem gängigen Motiv der kanonischen Reiseliteratur von Defoe bis Joseph | |
| Conrad entsprechend, von der Sehnsucht nach der großen Welt und dem Leiden | |
| unter der heimatlichen Enge getrieben hinauszieht, um dort draußen | |
| erwachsen, ein „Mann“, zu werden. | |
| Nach allerlei ersten, noch halbwegs glimpflich verlaufenen Ereignissen geht | |
| Merce als blinder Passagier auf die Endurance, um daselbst vom nautischen | |
| Greenhorn zur rechten Hand des berühmten Shackleton aufzusteigen. | |
| Lange vorbei und wie nicht gewesen. Denn nun hockt der immer noch junge | |
| Mann, der unfassbare Dinge ausgestanden hat, wieder in seinem Heimatort, | |
| dem walisischen Hafenstädtchen Newport, und langweilt sich im Kontor seines | |
| Vaters, der eine Schiffszimmerei betreibt. | |
| Zu allem Überfluss regnet es in einem fort, und schließlich ist da noch | |
| Merces große Liebe, die so resolute wie heikle Ennid Muldoon, mit der Merce | |
| vor seinem Aufbruch auf See eine kurze sexuelle Initiation erfahren hat. | |
| Doch eigentlich wollte Ennid nie etwas von Merce wissen, und daran hat sich | |
| nichts geändert – sein hilfloses Werben weist sie hartnäckig ab: „Du | |
| brauchst dich um mich nicht länger zu bemühen.“ Und er bemüht sich doch. | |
| Bonné erzählt von einem müden, antriebslosen Helden, der nach seiner | |
| Extremreise noch nicht wieder im Alltag angekommen ist, und seiner konträr | |
| angelegten Angebeteten, die, vom Leben in der Provinz ähnlich angeödet wie | |
| seinerseits Merce ein paar Jahre zuvor, nun ihrerseits aufbricht. Sie hat | |
| auf dem Dampfer Orion eine Schiffspassage nach Amerika gebucht, um dort | |
| womöglich besser, Hauptsache, anders leben zu können. Doch wird sie ihr | |
| Reiseziel nie erreichen. | |
| ## Schicksal im Schneeorkan | |
| Ihre Geschichte zeigt, dass man nicht in die Ferne, an die Ränder der Welt | |
| und der Zivilisation reisen muss, um das Schicksal und damit auch sich | |
| selbst kennen zu lernen. Schon vor der schottischen Küste ist ihre Fahrt | |
| beendet, im unaufhörlichen Schneeorkan, der den Dauerregen abgelöst hat, | |
| ist das völlig überbuchte Schiff, „ein mittelgroßer älterer Dampfer, | |
| schwarz, verrostet“, havariert. | |
| Merce, der vom Unglück gehört hat, wacht aus seinem Phlegma auf, und auch | |
| Ennid hat angesichts der Katastrophe begonnen, an Merce zu denken. Ein | |
| Happy End kann nicht ausgeschlossen werden. | |
| „Seeland Schneeland“, man ahnt es, ist ein veritabler Abenteuer- und | |
| Liebesroman mit allerlei Kolportage- und Suspense-Elementen, ein | |
| regelrechter Schmöker, und als solcher natürlich durchaus kalkuliert | |
| angelegt: | |
| Das fängt damit an, dass Bonné ihn marketingtechnisch geschickt im Jahr | |
| 1921 ansiedelt, allerdings bedeuten die zwischen der Handlungs- und unserer | |
| Lektürezeit liegenden 100 Jahre keine inhaltlichen Analogien. Und apropos | |
| bedeuten: Womöglich ist es gerade das Fehlen von tiefergehenden Bezügen zu | |
| all den unüberschaubaren Problemen der Jetztzeit, dem der Roman seinen | |
| unzeitgemäßen Charme verdankt. | |
| ## Soziale Spannungen im Europa der Nachkriegszeit | |
| Denn so wie Merce in „Der eiskalte Himmel“ den Ersten Weltkrieg nicht | |
| mitbekam, weil er in der Antarktis um sein Leben kämpfte, weist auch | |
| „Seeland Schneeland“ eskapistische Züge auf: Die sozialen Spannungen und | |
| Gegensätze im Europa der Nachkriegszeit, die Unruhe, die aufkommenden | |
| autoritären Massenbewegungen, vor allem die Armut, die viele Menschen zur | |
| Auswanderung treibt, bilden die von einem bunten Figurenreigen bevölkerte | |
| Kulisse, doch eigentlich geht es nicht um gesellschaftliche, sondern | |
| private Ver- und Entwicklungen, vor allem die von Merce Blackboro. | |
| Auf dessen Suche nach der Südpolquerung folgt nun jene nach dem Sinn seines | |
| eigenen Lebens. Es ist eine Herausforderung, die auf ihre Weise ähnlich | |
| viel Mut und Ausdauer erfordert, vor allem wenn es darum geht, das Glück in | |
| der Liebe zu erringen. Es bedarf eines dramatisch inszenierten Auftritts | |
| seines Mentors Shackleton, um den zaudernden Merce an die wesentlichen | |
| Dinge zu gemahnen und ihn aufzuwecken. | |
| Nicht nur erinnert „der Boss, der antarktische Marionettenspieler“ an die | |
| existentiellen Erfahrungen im Eis: „Niemand habe Merce Blackboro gerettet | |
| außer Merce Blackboro selbst“, sondern schwört ihn in einer Weise, der | |
| schon beinahe parodistische Züge innewohnen, auf seine Mission ein: „Sie | |
| werden Ihr Mädchen von diesem Schiff holen.“ | |
| ## Titanic und Sten Nadolny | |
| Natürlich weiß der 1965 geborene Mirko Bonné, der als Übersetzer von u.a. | |
| Henry James und – in diesem Kontext beziehungsreich – dem oben genannten | |
| Joseph Conrad sowie als Autor von Lyrik- sowie Prosabänden und sechs | |
| Romanen mannigfache Erfahrung gesammelt hat, dass er sich auf riskantes | |
| Terrain begibt. Gerade deshalb spielt er nicht nur auf Genreklassiker an, | |
| etwa Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“, sondern ebenso deutlich | |
| auf entsprechende triviale Mythen, etwa das Setting des „Titanic“-Films. | |
| So erzählt Bonné parallel zum Merce-Ennid-Strang die Geschichte des | |
| alkoholkranken amerikanischen „Hotel-Tycoons“ Diver Robey, dem wir anfangs | |
| in Newport begegnen, wo er Flugzeuge kaufen wollte, der sich dann, wie es | |
| dem unabdingbaren Zufall zu verdanken ist, seinerseits an Bord der „Orion“ | |
| einfindet. Zunächst als klischeesatte Karikatur des reichen, | |
| rücksichtslosen US-Kapitalisten gezeichnet, erfährt er am Ende eine | |
| außergewöhnliche Entwicklung. | |
| Nicht immer geht Bonnés Unterfangen gut, manchmal neigt er zu einer etwas | |
| fragwürdigen Metaphorik („die langen Wimpern, die Propeller ihrer Augen“; | |
| „eine Stimme hatte er, als lebte ein Aal in seiner Gurgel“ …), gelegentli… | |
| knirscht es in der Architektur des Textes ähnlich bedrohlich wie im Körper | |
| des alten Schiffes, mit dem Ennids Sehnsucht vor Schottland baden geht. | |
| Doch oft genug funktioniert, was Bonné sich vorgenommen hat, und man | |
| erliegt der Verführung der Spannung, des Pathos, der farbigen Atmosphäre, | |
| der zupackenden Figurenzeichnung („Divers Schamgefühl schien so verdünnt, | |
| dass es sich mühelos aus dem Gemüt spülen ließ“), dem Vergnügen, dass hi… | |
| auf ehrliche Weise zeitlos erzählt wird: die alte Geschichte von Aufbruch | |
| und Meerfahrt und die von den Schrecken des Verliebtseins und der | |
| Notwendigkeit, der zu werden, der man ist. | |
| 10 Aug 2021 | |
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| Thomas Schaefer | |
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