| # taz.de -- Miriam-Cahn-Ausstellung in Siegen: Figuren, die zu entgleiten drohen | |
| > Miriam Cahn wurde gerade mit dem Siegener Rubenspreis ausgezeichnet. In | |
| > ihrer Ausstellung „Meine Juden“ sucht sie malerisch nach dem Menschsein. | |
| Bild: Miriam Cahn, Installationsansicht im Museum für Gegenwartskunst in Siegen | |
| Man kennt sie, natürlich. Aber in dieser Konzentration ergibt sich doch | |
| eine ganz andere Gemengelage: Dutzende Augenpaare starren einen an, | |
| mannshohe Schemen stehen einem gegenüber, von allen Ecken gleichzeitig. | |
| Springen unvermittelt hervor aus einem diffusen, wabernden Farbschleier, | |
| und man würde sich kaum wundern, plötzlich noch das Ticken eines | |
| Geigerzählers zu hören, so radioaktiv erscheint das ganze Szenario. Bald | |
| kann alles schon wieder ins Groteske kippen: Dann sind die Gesichtszüge | |
| nicht mehr stechend scharf, sondern nur mehr Punkt-Punkt-Komma-Strich. | |
| Miriam Cahn bespielt das Museum für Gegenwartskunst in Siegen, gerade hat | |
| die Schweizer Künstlerin den 14. Rubenspreis der Stadt erhalten. Rund 300 | |
| Arbeiten sind hier versammelt, Malerei, meterhohe Kohlezeichnungen, | |
| Skulpturen und Videoarbeiten aus vielen Jahrzehnten. Gehängt wurden die | |
| Arbeiten, wie Cahn sich das vorstellte und oft von ihr selbst: Manchmal ein | |
| bisschen schief, nach Augenmaß; oft dicht an dicht, konfrontativ – einige | |
| Figuren beginnen direkt am Boden, auf dem ihre Betrachter stehen. | |
| Nun sollte aber auch noch der Elefant im Raum adressiert werden, den die | |
| Jüdin Miriam Cahn selbst hineingestellt hat: „MEINEJUDEN“ heißt ihre Scha… | |
| groß und zusammen, wie eine gleichnamige Bildserie, die ebenfalls | |
| ausgestellt ist. Erst zum Schluss der Pressekonferenz fragt jemand nach dem | |
| „Antisemitismus-Eklat“ in Kassel. Die Anführungsstriche, sagt die | |
| Künstlerin und macht eine Geste in der Luft, könne man ruhig streichen. Im | |
| Übrigen sei das Thema natürlich stets aktuell. | |
| Wie aber kann „das essenziell Andere“ aussehen, als das der Sozialforscher | |
| Henri Zukier die gesellschaftlich zugewiesene Funktion von Jüdinnen und | |
| Juden beschreibt? Die oder der im selben Moment als Menschen gerade | |
| unsichtbar bleibt, wie Rassismusdiskurse zeigen, während antisemitische | |
| Vorstellungen unbeeindruckt virulent zirkulieren und ebenjene Bilder | |
| prägen? | |
| ## An der Sphäre zur Sichtbarwerdung | |
| Cahn liefert rein malerische Antworten: Subkutan, gerade noch an der Sphäre | |
| zur Sichtbarwerdung agieren ihre Wesen. Der Künstlerin Juden, manchmal sie | |
| selbst („ich als jude“), sind changierende Schemen wie alle anderen | |
| Cahn-Wesen, in denen man nicht ganz das Andere und ein bisschen doch das | |
| Eigene finden kann, freilich nur bis zur Schwelle zum sogenannten uncanny | |
| valley, an dem der Grusel einsetzt – und zwar zielgenau zu dem Zeitpunkt, | |
| an dem plötzlich zu viel Anderes im Eigenen und zu viel Eigenes im Anderen | |
| erscheint. | |
| In den spukenden Fratzen, von denen keiner weiß, ob sie Toten- oder | |
| Faschingsmasken ähneln. Den atomar leuchtenden Röntgenbildern eines | |
| Menschen, der unseren Blick mit Laserpräzision zurückwirft. Zeigen diese | |
| Bilder also jenen Moment, in dem sich Erkenntnis über die hier Abgebildeten | |
| materialisiert? Oder werden wir Zeuge, wie Cahns Figuren uns schon wieder | |
| zu entgleiten drohen? Ihre oder unsere? | |
| Diese Dualität von Fremdheit und Nähe überträgt sie auch auf andere | |
| Zuordnungen, bisweilen aufs Mensch- oder Frausein schlechthin. Ein ganzer | |
| Raum ist dem Sujet des Gebärens gewidmet. Babys, die noch halb im | |
| Mutterleib stecken, halb schon auf der Welt sind. Und davor: Hände, die | |
| zurückboxen. Eine Kohlenstaub-Performance als ultimative Veranschaulichung | |
| hausfraulicher Tätigkeiten. | |
| Wie grauenhaft ergreifend Cahn Erkenntnis durch bloßes Zeigen hervorbringen | |
| kann, veranschaulicht ihre Serie über Geflüchtete. Frauen, Männer und | |
| Kinder, schutzlos, ja, aber in ihrer stellenweisen Nacktheit zugleich | |
| ungemein lebendig. Und es gibt „das schöne blau“, ein Bild, das vom | |
| Versinken dieser Menschen in ebenjenem erzählt. Ein Vorgang, den man | |
| zwischen Motiven von Menschenmassen einerseits und Schlagzeilen über | |
| Ertrunkene andererseits wahrhaftig nicht sieht, wohl nie gesehen hat. | |
| ## Regelrechter Overkill | |
| Am Schluss ist man wieder am Anfang, prä- oder posthuman, bei | |
| Kastanienbäumen und Atompilzen, die aus Farbpigmenten emporsteigen, | |
| dazwischen Pornografie, Berggipfel und auch mal ein Tier, das die | |
| Künstlerin dem Titel gemäß auslacht. Es ist ein regelrechter | |
| Miriam-Cahn-Overkill, ein schöner, oft lustiger, mitunter fürchterlicher | |
| Gewaltakt. | |
| Am Tag, als dieser Text geschrieben wird, erscheint in der New York Times | |
| eine [1][documenta-Rezension], die berechtigterweise die Leistungen der | |
| Kunstschaffenden jenseits antisemitischer Bilder würdigen möchte und hierzu | |
| aber, als ob es nur so ginge, jüdische Stimmen zum Thema flugs ausradiert. | |
| Mit Miriam Cahns Protagonistinnen und Protagonisten ist, ob man sie sehen | |
| mag oder nicht, unbedingt zu rechnen. Sonst [2][lichtet sich der | |
| Farbschleier plötzlich] und, „schreck!“, gibt es eins auf die Glocke. | |
| 1 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina J. Cichosch | |
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