| # taz.de -- Medienlandschaft in der Türkei: Kein freies Wort mehr | |
| > Die Zerstörung der türkischen Medienlandschaft geht nicht nur auf das | |
| > Konto Erdoğans. Doch der Präsident konsolidiert seine Macht über | |
| > Propaganda und Zensur. | |
| Bild: Exilprotest in Hamburg am türkischen „Tag des arbeitenden Journalisten… | |
| Was die Freiheit, Unabhängigkeit und Pluralität der Medien betrifft, so | |
| gleicht die heutige Türkei jener infernalischen „Republik der Angst“, die | |
| George Orwell in „1984“ ausgemalt hat, einem Land also, in dem es | |
| gefährlich ist, auf Fakten basierende Berichte und kritische Reportagen | |
| oder Kommentare zu publizieren. | |
| Willkürliche Verhaftungen und kafkaeske Prozesse gegen Dissidenten, | |
| Gefängnisstrafen für Medienschaffende und staatliche Zensurmaßnahmen sind | |
| in der heutigen Türkei zur Normalität geworden. Zudem hat die systematische | |
| Repression eine Kultur der Selbstzensur gefördert, sodass heute in den | |
| allermeisten Redaktionen die Grundprinzipien des Journalismus außer Kraft | |
| gesetzt sind. | |
| Die NGO Freedom House führt die Türkei in seinem Pressefreiheit-Index | |
| bereits seit 2014 als ein „nicht freies“ Land. Auf der aktuellen | |
| [1][Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (ROG)] liegt die | |
| Türkei unter 180 Ländern an 153. Stelle. Und die meisten Klagen, die 2020 | |
| beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung der | |
| Meinungsfreiheit eingingen, richteten sich gegen die Türkei, die damit an | |
| der Spitze der 47 Mitgliedstaaten des Europarats liegt. | |
| Nach den Daten der „Platform for Independent Journalism“ (P24), einer in | |
| Istanbul ansässigen NGO, saßen im Februar 2021 mindestens 83 | |
| Medienschaffende im Gefängnis. Das Stockholmer Center for Freedom weist für | |
| Januar 2020 sogar 175 inhaftierte Journalisten aus; auf der polizeilichen | |
| Fahndungsliste stehen weitere 167 Personen, die entweder im Exil oder | |
| untergetaucht sind. Und bei fast 50 türkischen Journalisten und | |
| Journalistinnen wurde seit Ende 2016 das persönliche Vermögen konfisziert. | |
| ## Der Präsident setzt aufs Fernsehen | |
| Auch willkürliche Kündigungen sind eine beliebte Strafmaßnahme. In den | |
| letzten fünf Jahren haben türkische Medienunternehmen insgesamt 3436 Leute | |
| gefeuert. Das Thema Jobsicherheit war in der Medienindustrie seit jeher ein | |
| notorisches Problem, zumal der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der | |
| Branche bei lediglich 8 Prozent liegt. | |
| Während des Ausnahmezustands, den die Regierung nach dem gescheiterten | |
| [2][Putsch vom Juli 2016] ausgerufen hatte und der zwei Jahre lang in Kraft | |
| blieb, wurden mindestens 189 Mediengruppen und -unternehmen (inklusive | |
| privater Agenturen) geschlossen oder beschlagnahmt. Seitdem konnte sich | |
| neben dem massiven Block regierungsfreundlicher Tageszeitungen nur noch | |
| eine Handvoll „kritischer“ landesweiter Zeitungen behaupten. Allerdings | |
| haben sie extrem niedrige Auflagen (durchschnittlich etwa 10 000) und | |
| wachsende Finanzierungs- und Vertriebsprobleme. | |
| Das Fernsehen stellt für Erdoğan eine stärkere Bedrohung dar als die im | |
| Niedergang begriffenen Printmedien. Während viele ältere Menschen in der | |
| Westtürkei noch Zeitung lesen, decken große Teile der Bevölkerung in den | |
| östlichen Provinzen und ländlichen Gebieten ihren Bedarf an „Nachrichten | |
| und Kommentaren“ ausschließlich und kostenlos bei den | |
| TV-Nachrichtensendern. | |
| Dieses TV-affine Segment macht nach Unesco-Angaben 85 bis 90 Prozent der | |
| türkischen Gesamtbevölkerung aus. Diese Zahl dokumentiert die einzigartige | |
| Macht des Fernsehens und erklärt, warum dieses Medium für die politischen | |
| Machthaber so wichtig ist. | |
| ## Nachrichten verschwinden | |
| Erdoğan ist sich voll bewusst, dass er mit der Kontrolle über die | |
| TV-Redaktionen den gesamten politischen Willensbildungsprozess beeinflusst | |
| und den Zugang zu kritischen Berichten und unerwünschten Meinungen | |
| einschränken kann. Für Erdoğan hatten und haben deshalb die | |
| TV-Nachrichtensender stets die höchste Priorität. Im Zuge seines | |
| beispiellosen Feldzugs zur Informationskontrolle hat er mittlerweile fast | |
| alle dieser Sender vereinnahmt. Das erklärt auch, warum sich die freie | |
| Verbreitung von Nachrichten und Diskussionen weitgehend ins Internet und in | |
| die sozialen Medien verlagert hat, wo öffentlicher Dissens noch zum | |
| Ausdruck kommt. | |
| Da die Bedeutung des Internets, insbesondere für die jungen Generationen, | |
| auch Erdoğan und seinen Beratern klar ist, versuchen sie die Reichweite | |
| dieses Mediums möglichst zu beschränken. Dabei haben sie auch im Auge, dass | |
| bei den nächsten für Sommer 2023 geplanten Parlaments- und | |
| Präsidentschaftswahlen die Kohorte der unter 30-Jährigen fast die Hälfte | |
| der Wahlberechtigten ausmachen wird. | |
| Dies ist der Hintergrund für den ständigen Kampf gegen freien | |
| Internetzugang, den Erdoğan und seine AKP vor etwa zehn Jahren aufgenommen | |
| haben. Nach Angaben der türkischen NGO „Vereinigung für Meinungsfreiheit“ | |
| (İfade Özgürlüğü Derneği, İFÖD) wurde in den letzten sieben Jahren der | |
| Zugang zu knapp 600 000 Internet-Domains und URL-Adressen, 42 000 Tweets | |
| und 11 000 Youtube-Videos gesperrt (Stand Oktober 2020). | |
| Seit Juli 2020 kommt auch ein neuer Strafmechanismus zum Einsatz: Die | |
| staatlichen Behörden sperren regelmäßig den Zugriff auf bestimmte Inhalte | |
| oder löschen diese endgültig. Das geschieht so massiv, dass viele | |
| Nachrichten – vor allem über Korruption und Machtmissbrauch – spurlos und | |
| für immer verschwinden. Mit anderen Worten: Das öffentliche Gedächtnis wird | |
| systematisch gelöscht. | |
| ## Twitter im Fadenkreuz der AKP | |
| Auch die Giganten der sozialen Medien sind ins Fadenkreuz geraten; speziell | |
| Twitter, weil das Unternehmen sich geweigert hat, Vertretungsbüros in der | |
| Türkei zu eröffnen, wie es ein neues Gesetz verlangt, in dem viele einen | |
| Schritt zur Zwangszensur ansehen. Seit April 2021 müssen Unternehmen, die | |
| der Forderung nicht nachkommen, mit erheblichen Geldstrafen rechnen. | |
| Mit ihrer ultraautoritären Politik haben Erdoğan und seine Partei ein | |
| vielschichtiges Zensursystem etabliert. Zusammen mit den etappenweisen | |
| radikalen Veränderungen der Besitzverhältnisse in der gesamten | |
| Medienlandschaft ist so eine kompakte Propagandamaschine entstanden. In | |
| diesem Sinne wurden auch die bestehenden Regularien geändert und insgesamt | |
| vier neue Instrumente zur Kontrolle der sozialen Medien geschaffen. | |
| Das wichtigste unter ihnen ist das „Direktorat für Kommunikation“ (TIB), | |
| das im Juli 2018, genau zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch, | |
| eingerichtet wurde. Das TIB funktioniert als Unterabteilung des „Palastes“ | |
| und sein Präsident ist Erdoğan gegenüber direkt verantwortlich. Die immer | |
| weiter expandierende Behörde, die mit ihren rund 1500 Angestellten ein | |
| 30-stöckiges Hochhaus im Zentrum Ankaras belegt, ist von der | |
| Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament ausgenommen. Die Hauptaufgabe | |
| des TIB besteht darin, das gesamte Spektrum der Print- und der | |
| audiovisuellen Medien tagtäglich zu überwachen und gegen Inhalte | |
| einzuschreiten, wenn immer es geboten scheint. | |
| Das TIB ist auch für die Ausgabe der offiziellen „nationalen | |
| Presseausweise“ an türkische Journalisten zuständig, ebenso wie für die | |
| Akkreditierung ausländischer Korrespondenten. Die Vergabe läuft häufig nach | |
| dem Prinzip „Belohnung oder Strafe“, je nachdem wie gefällig oder kritisch | |
| die jeweiligen Journalisten oder Korrespondentinnen berichten. In den | |
| letzten Jahren hat das TIB die Vergabe eines Presseausweises auch ganz | |
| verweigert, wenn die Ansichten oder die ethnische Herkunft (etwa die | |
| kurdische) des Antragstellers nicht genehm waren. Und vor kurzem kam | |
| heraus, dass der TIB-Präsident den TV-Sendern eine Liste von Experten | |
| übermittelt hat, die „für den Auftritt in Talkrunden zugelassen“ sind. | |
| ## Friedensrichter von Erdoğans Segen | |
| Das zweite Kontrollinstrument ist der „Oberste Rundfunk- und Fernsehrat“ | |
| (RTÜK), dessen Funktion als unabhängige Regulierungsinstanz nur auf dem | |
| Papier steht. Die neun Mitglieder des RTÜK werden von den politischen | |
| Parteien gemäß der Stärke ihrer Parlamentsfraktionen nominiert. Die | |
| Mehrheit in dem Gremium stellen also die herrschende AKP und ihr | |
| Regierungspartner, die nationalistische MHP. Diese Mehrheit missbraucht | |
| ihre Macht, indem sie die Vergabe von Sendelizenzen an „oppositionelle | |
| Medien“ verweigert oder endlos verzögert. Der RTÜK erlässt auch | |
| Publikationsverbote und „gag orders“ für TV-Sender und auch digitale | |
| Streaming-Anbieter wie Netflix. Bei Ausstrahlung kritischer Inhalte kann | |
| der Rat Sendeverbote für mehrere Tage verhängen. | |
| Das dritte Instrument ist die „Informations- und | |
| Kommunikationstechnologie-Behörde“ (BTK), die dem Transport- und | |
| Infrastrukturministerium untersteht. Schon 2000 unter der Regierung Ecevit | |
| gegründet, war sie schon damals Produkt einer gewissen Zensurmentalität. | |
| Seitdem wurde sie mehrmals auf eine Weise umgemodelt, die der konservativen | |
| Entwicklung und der wachsenden Intoleranz der politischen Klasse entsprach. | |
| In ihrer heutigen Verfassung überwacht die BTK den gesamten Bereich des | |
| Internets und der sozialen Medien. Sie kann willkürlich Verbote und | |
| Einschränkungen verhängen, wobei bestimmte Fälle vor ein „Friedensgericht�… | |
| kommen, dessen Richter im Einvernehmen mit dem Präsidentenpalast ernannt | |
| werden. Dank ihrer wachsenden Macht greift die BTK immer tiefer in die | |
| digitale Domäne ein und zielt besonders auf diejenigen sozialen Medien, die | |
| für das Erdoğan-Regime gefährlich werden könnten. | |
| Als viertes Instrument ist die staatliche Werbeagentur BIK zu nennen, die | |
| für die amtlichen Mitteilungen und Anzeigen von Behörden und staatlichen | |
| Institutionen in der Printpresse zuständig ist. Seit dem Putschversuch von | |
| 2016 werden die verbliebenen kritischen Presseorgane und die Zeitungen | |
| oppositioneller Parteien von der Vergabe staatlicher Anzeigen systematisch | |
| ausgeschlossen. | |
| ## Notorisch korrupte Medienmogule | |
| Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Einschätzung geht die Zerstörung | |
| der türkischen Medienlandschaft nicht ausschließlich auf das Konto von | |
| Erdoğan. Denn als der an die Macht kam, war die journalistische Szene | |
| bereits stark geschwächt und konnte den massiven Eingriffen und | |
| Manipulationen wenig entgegensetzen. | |
| Erdoğan wusste Bescheid über die zutiefst korrupte Mentalität der | |
| Medienbesitzer und deren notorisch schmutzige Geschäfte mit früheren | |
| Regierungen; desgleichen über die Zustände in der journalistischen Zunft, | |
| die durch innere Polarisierung, ideologisch aufgeheizte Grabenkämpfe und | |
| das Fehlen jeglicher Gruppensolidarität gekennzeichnet war. | |
| Bis zu Beginn der 1990er Jahre hatte der stramm kontrollierte staatliche | |
| Fernsehsender TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) keinerlei | |
| Konkurrenz. Die einflussreichen Tageszeitungen (Hürriyet, Milliyet, Dünya) | |
| waren im Besitz traditioneller Verlegerfamilien oder wurden – wie etwa | |
| Cumhuriyet – von Stiftungen getragen. | |
| Diese Publikationsorgane hatten die nationalistische Ideologie weitgehend | |
| internalisiert: Man respektierte die nationalen Tabus und praktizierte eine | |
| Selbstzensur bei „sensiblen“ Themen wie der kurdischen oder armenischen | |
| Frage und generell beim Thema Außenpolitik. | |
| ## Geschäftsleute als Zeitungsmacher | |
| Die Deregulierung des Medienmarkts in den frühen 1990ern hat diesen Zustand | |
| dramatisch verändert. Mit der Zulassung von privaten Radio- und | |
| Fernsehsendern konnten etliche Geschäftsleute, die in wichtigen | |
| Wirtschaftssektoren engagiert waren, auf den Medienmarkt vordringen. | |
| Das war für diese Leute allerdings, wie sich alsbald zeigte, nur eine | |
| weitere Methode, um große Gewinne einzustreichen. Die Macht der privaten | |
| Medien verschaffte ihnen immer mehr Einfluss auf die Regierungen. Und dank | |
| dieser neu entdeckten Macht konnten sie öffentliche Ausschreibungen | |
| gewinnen und sich finanzielle Vergünstigungen sichern, die ihnen eine | |
| Ausweitung ihrer vielfältigen unternehmerischen Aktivitäten ermöglichte. | |
| Keiner dieser Newcomer brachte irgendwelche Erfahrungen oder Kenntnisse | |
| über Journalismus und dessen besondere gesellschaftliche Rolle mit. Und so | |
| kam es, wie es kommen musste: Die geschäftlichen Interessen der neuen | |
| Medieneigentümer erweiterten das System der Selbstzensur. Und die Inhalte, | |
| die diese Medien verbreiteten, wurden nicht durch journalistische Faktoren | |
| bestimmt, sondern durch Hinterzimmer-Absprachen mit der Regierung und der | |
| Bürokratie. Die wechselseitigen Korrumpierung der politischen Klasse und | |
| der Medienmogule wurde am Ende so selbstverständlich, dass ihre Beziehung | |
| zur Illustration des Henne-oder-Ei-Problems taugen könnte. | |
| Als die Türkei dann aber Ende der 1990er Jahre von einer schweren | |
| Wirtschaftskrise erschüttert wurde, lag nicht nur das politische System, | |
| sondern auch der gesamte Mediensektor in Trümmern. Viele große | |
| Mediengruppen waren am Ende, darunter einige besonders skrupellose, die | |
| sogar ihre eigenen Banken betrieben. Ihre Eigentümer landeten im Gefängnis | |
| oder gingen in Konkurs. | |
| ## Kurzer Frühling der Freiheit | |
| Als die AKP 2002 an die Macht kam, fand sie einen angeschlagenen und | |
| diskreditierten Mediensektor vor, der zur Manipulationen geradezu einlud. | |
| Ermutigt durch eine Serie von Übernahmen und Aufkäufen, ging Erdoğan daran, | |
| seine eigene Fraktion islamistisch-konservativer Unternehmer hochzupäppeln, | |
| von denen einige AKP-freundliche Medien betrieben. | |
| Von 2002 bis 2010 erlebten die türkischen Medien einen kurzfristigen | |
| Frühling. Den verdankten sie zum Teil dem Bankrott der korrupten | |
| Medieneigentümer, vor allem aber den Reformen der AKP-Regierung, die mit | |
| Blick auf die EU-Beitrittsperspektive den Raum für mehr Freiheit, | |
| Unabhängigkeit und Pluralität der Medien schufen. Es war eine Zeit, in der | |
| Tabus fielen und die Bandbreite öffentlicher Diskussionen durch die | |
| Angebote konkurrierender Nachrichtensender erweitert wurde. Eine Zeit lang | |
| sah es so aus, als würde sich die Türkei auf demokratische Verhältnisse | |
| zubewegen. | |
| Doch das war schnell vorbei. Spätestens 2011 wurde klar, dass Erdoğan eine | |
| Einmannherrschaft anstrebte. Der Weg dahin führte über vier wichtige | |
| Zwischenetappen: Er musste seine Rivalen innerhalb der AKP beseitigen; er | |
| musste die [3][Gülen-Bewegung] loswerden, die ihm bis dahin ein nützliches | |
| Fußvolk von Mitläufern gestellt hatte; er musste die volle Kontrolle über | |
| die Medien erobern; und zu gegebener Zeit auch über die Justiz. | |
| Die Demontage der journalistischen Standards und die Transformation der | |
| schon vorher problematischen Eigentümerstrukturen im privaten Mediensektor | |
| begann Mitte 2013 im Gefolge der [4][Gezi-Proteste] und dauert bis heute | |
| an. Zunächst nahm Erdoğan drei große Mediengruppen und ihre Eigentümer ins | |
| Visier: die Ciner-Gruppe, deren Besitzer vor allem im Bergbau- und | |
| Energiesektor engagiert war, die Doğuş-Gruppe des Unternehmers Ferit Şahenk | |
| und die Doğan-Media-Gruppe. | |
| ## Gezi und die Folgen | |
| Seit dem 27. Mai 2013, dem ersten Tag der Gezi-Proteste, war Erdoğan | |
| persönlich bemüht, die Kontrolle über die Redaktionen zu gewinnen. Er rief | |
| bei den einflussreichen TV-Kanälen an – und setzte sich durch: Alle | |
| Eigentümer waren von finanziellen Vergünstigungen der Regierung abhängig | |
| und knickten sofort ein. | |
| Von da an wusste Erdoğan, dass er sich auf Ciner und Şahenk verlassen | |
| konnte, ebenso wie auf deren populäre Nachrichtensender Haberturk TV und | |
| NTV. Nicht so sicher konnte er auf zwei andere Medienkonzerne zählen: Zum | |
| einen die Doğan-Media-Gruppe, ein riesiges Reich von mehreren TV-Sendern | |
| und Zeitungen, die mit ihren Auflagen den Markt der Printmedien | |
| dominierten. Und zum anderen die Zaman-Gruppe und die Koza-Holding. | |
| Seine Abneigung gegen Aydın Doğan hat Erdoğan nie verbergen können, denn | |
| dessen Medien hatten seinen Aufstieg an die Spitze des Staats entschieden | |
| bekämpft. In den 1990er Jahren galt der Mogul als „Königsmacher“, der üb… | |
| seine Medien erheblichen Einfluss ausübte. In dieser Rolle sah sich Doğan | |
| selbst dann noch, als Erdoğan im März 2003 Ministerpräsident einer | |
| Einparteienregierung wurde, die über die absolute Mehrheit in der | |
| Nationalversammlung verfügte. | |
| Der große Showdown schien unvermeidlich. Er kam 2005, als die Doğan-Medien | |
| einen Spendenbetrugsskandal um die AKP-nahe islamische Hilfsorganisation | |
| „Deniz Feneri“ (Leuchtturm) zu einem großen Thema machte. Doch Erdoğan | |
| schaffte es dank seiner wachsenden Medienmacht, die Auswirkungen des | |
| Skandals einzudämmen. Dabei machte er sich juristische Verfehlungen Doğans | |
| zunutze, indem er dessen Mediengruppe deftige Bußgelder androhte. Die | |
| Botschaft kam an: Der Mogul steckte zurück und die Selbstzensur in seinen | |
| Medien nahm zu. | |
| ## Der Fall Milliyet | |
| 2011 ging Erdoğan einen Schritt weiter. Doğan wurde gezwungen, mit der | |
| Tageszeitung Milliyet sein wichtigstes Medium an die Familie Demirören zu | |
| verkaufen, von der man weiß, dass sie Erdoğan hörig ist. Kurz nach der | |
| Übernahme wurden viele Milliyet-Redakteure und -Kolumnisten gefeuert. Doch | |
| der entscheidende Schlag gegen Doğan ließ noch bis 2018 auf sich warten. | |
| Dazu weiter unten mehr. | |
| Die Zaman-Gruppe und die Koza Holding besetzten das andere Ende des | |
| politischen Spektrums: Beide waren mit dem Prediger Fethullah Gülen | |
| assoziiert, dem Oberhaupt einer weit verzweigten islamischen Bewegung, die | |
| viele ihrer Anhänger im Staatsapparat und in der Justiz untergebracht | |
| hatte. Und zwar mit Unterstützung Erdoğans, der seit Beginn der | |
| AKP-Herrschaft ein politisches Bündnis mit Gülen eingegangen war, weshalb | |
| die von ihm kontrollierten Mediengruppen die Erdoğan-Regierung in den | |
| ersten Jahren rückhaltlos unterstützten. | |
| Doch das Bündnis Erdoğan/Gülen wurde durch gegenseitiges Misstrauen | |
| ausgehöhlt: Beide Männer vertraten in einigen innen- und außenpolitischen | |
| Fragen unterschiedliche Positionen, obwohl beide aus demselben tief | |
| religiösen Segment der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft stammen. | |
| Der endgültige Bruch erfolgte Ende 2013. Auslöser waren zwei juristische | |
| Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Machtmissbrauch unter der | |
| Erdoğan-Regierung. Das erste betraf die Umgehung der Sanktionen gegen Iran | |
| durch türkische Banken, das zweite undurchsichtige Kontakte mit al-Qaida. | |
| Beide Geschichten schlugen wie eine Bombe ein. In den Medien waren die | |
| Ermittlungen das große Thema, wobei sich die Gülen-Zeitungen besonders ins | |
| Zeug legten. | |
| ## Erzfeind Gülen | |
| Allerdings war die Gülen-Bewegung der türkischen Gesellschaft mittlerweile | |
| so suspekt, ja geradezu verhasst, dass sie politisch isoliert und damit | |
| angreifbar wurde. Als dann die übrigen Medien aus taktischen und | |
| ideologischen Gründen aufhörten, umfangreich über die Skandale zu | |
| berichten, war dies für Erdoğan ein „Geschenk Gottes“. Er verfolgte | |
| weiterhin das Ziel, die traditionellen wie die digitalen Medien einer | |
| Zensur zu unterwerfen, vollzog zugleich aber einen strategischen Schwenk | |
| und schmiedete ein politisches Bündnis mit seinen ehemaligen Feinden: dem | |
| kemalistischen und dem ultranationalistischen Lager. | |
| Da Erdoğans Erzfeind nunmehr Gülen hieß, war es nur logisch, ein Bündnis | |
| mit dessen Feinden zu schmieden. Ab 2014 war Erdoğans zentrales Ziel die | |
| Zerschlagung der gülenistischen Medien. Dabei war ihm bewusst, dass seine | |
| neuen Verbündeten (die alten Feinde) sich damit nicht begnügen würden. Denn | |
| die säkularen Nationalisten hatten es auch auf die verhassten liberalen, | |
| pazifistischen und prokurdischen Medien abgesehen. Die Anti-Gülen-Kampagne | |
| ging also einher mit der Einebnung der gesamten Medienlandschaft, mit der | |
| Folge, dass seitdem auch verschiedene Segmente der kritischen Medien | |
| abgeräumt wurden. | |
| Dann kam der 16. Juli 2016, der Erdoğan sein zweites und ultimatives | |
| „Gottesgeschenk“ bescherte. Nach dem Putschversuch von Teilen des Militärs | |
| konnte er zum „Gnadenstoß“ ansetzen und mittels Dekreten und personellen | |
| Umbesetzungen sowohl die Medien als auch die Justiz gefügig machen. Mit der | |
| Schließung kritischer Medien wurden häufig auch deren digitale Archive für | |
| immer gelöscht. | |
| Nachdem der Autokrat im April 2017 mittels eines Verfassungsreferendums ein | |
| „Super-Präsidialsystem“ etabliert hatte, stand seinem Ziel nur noch ein | |
| Hindernis im Weg: die Doğan-Media-Gruppe. Zu ihr gehörten zwei | |
| einflussreiche Fernsehsender und die führende Tageszeitung Hürriyet, die | |
| hohe Werbeeinnahmen erzielte, da ihre Auflage rund 40 Prozent der gesamten | |
| türkischen Printauflage ausmachte. | |
| ## Hürriyet in AKP-Hand | |
| Politisch und finanziell unter Druck gesetzt, musste Aydin Doğan am Ende | |
| kapitulieren. Seine Mediengruppe, deren politische Einschätzungen und | |
| Bewertungen die öffentliche Meinungsbildung und die türkische Innenpolitik | |
| über Jahrzehnte maßgeblich beeinflusst hatte, wurde 2018 an die AKP-nahe | |
| Familie Demirören verkauft. | |
| Was zurückbleibt, ist eine verwüstete türkische Medienlandschaft und ein | |
| Journalismus, der ums Überleben kämpft. Heute wird das ganze Land | |
| systematisch falsch informiert oder ganz im Dunkeln gelassen. Eine | |
| pluralistische öffentliche Debatte findet praktisch nicht mehr statt. Und | |
| die Propaganda- und Medienmaschinerie des Regimes hat den Aufstieg eines | |
| offensiven Nationalismus und eines aggressiven Islamismus gefördert. | |
| Nachdem Erdoğan die traditionellen Medien zerstört hat, treibt er den | |
| Onlinejournalismus und die sozialen Medien immer weiter in die Enge. Sein | |
| rastloser Kampf richtet sich gegen einen ehrenwerten Beruf, der | |
| unverzichtbar ist. Jedenfalls dann, wenn es in der Türkei auch künftig noch | |
| eine demokratische Opposition geben soll – und eine Basis, von der aus die | |
| Gesellschaft zur Demokratie zurückfinden kann. | |
| Allerdings scheinen die Aussichten auf eine solche demokratische | |
| Entwicklung zunehmend düster. | |
| Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
| Dieser Text erschien zuerst in der Edition Le Monde diplomatique, No. 29. © | |
| LMd, Berlin | |
| 24 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2021 | |
| [2] /Tuerkei-Putsch/!5327477 | |
| [3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5630535 | |
| [4] /Kommentar-Proteste-in-der-Tuerkei/!5062772 | |
| ## AUTOREN | |
| Yavuz Baydar | |
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