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# taz.de -- Türkei-Putsch: Schere, Stein, Papier
> Die Ereignisse in der Türkei wirken wie eine Soap. Wirklichkeit und
> Wahrheit lassen sich kaum noch unterscheiden.
Bild: Türkische Wirklichkeit, erfasst mit dem Selfie-Blick
Am 15. Juli erlebte die Türkei den absurdesten Putschversuch ihrer
Geschichte. In seinen parodistischen Momenten erinnerte er an die Untiefen
türkischer Soap-Produktionen. Ich zeige Ihnen ein paar Schnappschüsse:
1. Der Kommandant, der ins Studio des Staatsfernsehens TRT kam, um das
Putschmanifest zu verlesen, dachte, die Sondersendung würde zeitgleich auf
allen Privatsendern ausgestrahlt.
2. Auf den beiden Istanbuler Brücken wurden nur die Übergänge von Asien
nach Europa besetzt, in die andere Richtung war der Verkehr frei.
3. In Çengelköy beschuldigte ein putschistischer Kommandant die Regierung,
die Menschen mit religiöser Rhetorik aufzuhetzen. Dabei beschimpfte er die
von ihm festgehaltene Bevölkerung mit Flüchen, in denen Allah und der Koran
vorkamen. Eine junge Frau in der Menge spielte währenddessen mit ihrem Kind
Schere, Stein, Papier, um die Zeit zu vertreiben.
4. Unmittelbar nach dem Putsch drangen Menschen von den Straßen auf das
bestgesicherte Gelände des Landes, den Sitz des Generalstabschefs. In den
Fluren machte ein Mann immer wieder Selfies und rief der Polizei zu: „Wenn
sie nicht rauskommen, sollen sie uns einfach Waffen schicken!“
5. Während des Putschversuchs haben mehrere Armeekommandanten, die über die
Geschehnisse im Bilde waren, gemeinsam eine Hochzeitsfeier im Marineverein
in Moda besucht.
6. Erdoğan war zwar über die Farbe der Steine informiert, mit denen seine
im Bau befindliche Villa in Izmir ausgekleidet werden soll, sagte aber dem
TV-Sender Al Jazeera, er habe vom Putsch durch seinen Schwager erfahren.
## Informationsverschmutzung
Wir sprechen hier von der Initiative einer Gruppe mit Zugriff auf
militärische Ausrüstung, deren erklärte Intention es war, die Staatsmacht
an sich zu reißen. Die Details lassen einem das Blut in den Adern gerinnen
und den Bezug zur Realität verlieren. Ist das ein schlechter Film? Ist das
die Wirklichkeit? Ist das mein Land?
Während ich in meinem Apartment in Beyoğlu denke, in einer geschützten,
kleinen Welt zu leben, brausen F16-Kampfflugzeuge mit Überschallknall über
uns hinweg und legen den Boden, auf den ich meinen Fuß setze, in Schutt und
Asche. Wir wissen, dass die Menschen, die auf der Bosporusbrücke Soldaten
getötet haben, sich niemals in einem fairen Verfahren werden verantworten
müssen.
Das hinterlässt tiefe Wunden. Jeden Tag werden mehr und mehr Menschen
verhaftet oder sang- und klanglos aus ihren Positionen entfernt. Wir hören
von Folter und fühlen uns in einer aufgetrampelten Staubwolke, in der es
kaum noch möglich ist, psychisches Gleichgewicht und Urteilsfähigkeit zu
bewahren. Wir sind jetzt Opfer eines Krieges, dessen Parteien und
strategisches Ziel unklar beibt.
Inmitten der Informationsverschmutzung, die nach dem Putschversuch
herrscht, werden wir vermutlich nie erfahren, wer was warum getan hat, und
wie die „glorreiche“ Türkei mit ihrer Erfahrung von drei Militärcoups zur
Bühne einer solchen Farce werden konnte. Die Ereignisse werden, wie so
viele Episoden der türkischen Geschichte, komplexe, verworrene Spuren in
unseren Seelen hinterlassen und vermutlich irgendwann hinter den Wolken
verschwinden.
## Wachsende Agressivität
Derzeit gibt es dringlichere Probleme. Der Manövermeister Erdoğan rief,
nachdem er durch seinen Schwager vom Putsch erfuhr, von seinem Handy aus
CNN Türk an und ließ sich in die Live-Sendung verbinden. Zwischen den
designten Fingernägeln der Moderatorin richtete er vom Smartphone aus seine
Ansprache an die Nation und mobilisierte zum Widerstand gegen den Putsch.
Die Massen, von denen er schon während der Gezi-Proteste sagte, er habe
alle Mühe, sie noch in ihren vier Wänden zu halten, folgten ihm. Seit jenem
Abend verlassen sie täglich nach ihrem Abendessen ihre vier Wände und
spazieren an allen Ecken und Enden der Stadt mit Allahs Namen im Mund
herum.
Einige von ihnen nutzen die Gelegenheit, um Aleviten oder Syrer zu
attackieren, andere wedeln mit den Fingern vor den Gesichtern von Frauen
und schreien: „Ihr kommt auch noch dran!“. Wieder andere zerlegen Orte, an
denen Alkohol getrunken wird. Die Regierung mobilisiert mit aller Kraft und
verschickt Aufrufe an Privathandys, die mit „Der Türkische Staat“ oder
„Recep Tayyip Erdoğan“ unterzeichnet sind.
Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes wird die europäische
Menschenrechtskonvention außer Kraft gesetzt. Es ist offensichtlich, dass
Erdoğan ihn nutzen wird, um sämtliche Opposition zu ersticken. Wir sehen
uns einer Struktur gegenüber, die immer stärker wird, je mehr sie
geschwächt wird, die immer aggressiver agiert, je mehr sie sich fürchtet.
Eine Frage dröhnt mir so gewaltig im Kopf wie der Überschallknall der F16:
Wie wollen wir zusammen leben?
Wir versuchen eine Sprache zu finden: Eingeklemmt zwischen Wahrheit und
Lüge, mit einer Zukunftshoffnung, die hinter den Wolken verschwindet,
besorgt über unseren morgigen Tag. Wenn wir es schaffen, dann können wir in
dieser Sprache eine Erzählung darüber schreiben, wie die Wahrscheinlichkeit
von Militärcoups endlich Geschichte wurde und man über Demokratie im
eigentlichen Wortsinn diskutierte. Eine Erzählung, die auf einer
gemeinsamen Vorstellung von Gerechtigkeit aufbaut. Wenn wir es nicht
schaffen, bleibt uns nur noch das Spiel Schere, Stein, Papier.
Aus dem Türkischen übersetzt von Oliver Kontny
23 Jul 2016
## AUTOREN
Gaye Boralıoğlu
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
Putsch
Kampfflugzeug
Militär
Istanbul
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