# taz.de -- Gülens Netzwerk in Europa | |
> In der Türkei werden die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen politisch | |
> verfolgt. Viele von ihnen suchen Zuflucht in Europa und versuchen, ihre | |
> alten Organisationen wieder aufzubauen – zum Teil mit zweifelhaften | |
> Ambitionen. | |
Bild: Amoako Boafo, Nana the Artist, 2019, Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm | |
von Ariane Bonzon | |
Sesamkringel, Gurken, Oliven und Rührei mit Tomaten. In seinem | |
gutbürgerlichen Haus im Londoner Norden serviert uns Mustafa Yeşil ein | |
türkisches Frühstück. Der Mittfünfziger ist eine von vier Personen, deren | |
Auslieferung der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım 2017 von | |
Großbritannien verlangt hat. | |
Die islamisch-nationalistische Regierung in Ankara beschuldigt Yeşil, der | |
„Fethullahistischen Terrororganisation“ (Fetö) nahezustehen. Gemeint ist | |
die Bewegung, die sich um den Imam Fethullah Gülen gebildet hat, der seit | |
1999 im selbstgewählten Exil in den USA lebt. In Ankara gilt er als | |
Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016.[1] | |
Mustafa Yeşil ist einer der wenigen, die im direkten Kontakt mit dem Hoca | |
Efendi („Meister“) stehen und in dessen Namen sprechen dürfen. Yeşil ist | |
ein Organisationstalent und einer von jenen Apparatschiks, auf die sich die | |
Bewegung stützt, die von den Gülen-Anhängern selbst Hizmet („der Dienst“) | |
genannt wird. Experten beziffern die Hizmet-Gefolgschaft auf weltweit 4 bis | |
8 Millionen Menschen. | |
Yeşil studierte Ende der 1970er Jahre Islamische Theologie an der | |
Istanbuler Marmara-Universität und arbeitete danach als Religionslehrer. | |
1983 stieß er auf die Predigten von Fethullah Gülen, die ihn „ergriffen wie | |
nichts zuvor“. Heute ist Yeşil ein Abi („großer Bruder“) und Vorsitzend… | |
des Heyet („Rats“). Er leitet den europäischen Zweig der Gemeinschaft, die | |
derzeit ständig anwächst, weil immer mehr Gülen-Anhänger nach Europa | |
fliehen. | |
Als die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip | |
Erdoğan 2002 an die Macht kam, stand die Hizmet-Bewegung fest an ihrer | |
Seite. Mit ihrer Hilfe konnte der neue Regierungschef die Dominanz der | |
republikanischen, nationalistischen, laizistischen und kemalistischen | |
Kräfte in Justiz und Polizei brechen und sogar den Einfluss der Armee | |
eindämmen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute betrachtet das | |
Erdoğan-Regime die Hizmet-Bewegung als ihren größten Feind. | |
Bevor der Konflikt zwischen Gülen-Anhängern und Erdoğan-Parteigängern offen | |
ausbrach, war er im Staatsapparat schon verdeckt zugange.[2]Zwischen 2010 | |
und 2015 spielte Mustafa Yeşil dabei eine Schlüsselrolle. Er verließ das | |
Land ein Jahr vor dem Putschversuch, der die Verhängung des | |
Ausnahmezustands auslöste. | |
Das Ausnahmerecht ermöglichte die Zerschlagung der gülenistischen Netzwerke | |
in Armee und Verwaltung: Vereine wurden verboten, Medien und Verlage | |
geschlossen, Schulen, Hochschulen und zahlreiche Unternehmen, die in | |
Verbindung zur Gülen-Bewegung standen, unter die Kontrolle des Staats | |
gebracht.[3]Nach Angaben der Regierung vom Frühjahr 2019 wurden rund 77 000 | |
Personen wegen Zugehörigkeit zur Fetö festgenommen, 240 000 sehen einem | |
Prozess entgegen, 30 400 wurden bereits abgeurteilt. Insgesamt wurden 150 | |
000 Beamte vom Dienst suspendiert oder entlassen. | |
Tausende Gefolgsleute Gülens sind deshalb geflohen. Mustafa Yeşil gibt an, | |
dass 55 000 von ihnen zwischen 2016 und Anfang 2019 in der EU politisches | |
Asyl beantragt haben. Der alte Kontinent scheint heute – mit den USA – das | |
„pulsierende Herz“ der Bewegung zu sein. Das war nicht immer so. | |
Gülen-Gemeinden hatten sich in Europa bereits seit den 1980er Jahren | |
etabliert, finanziert durch Spenden türkischer Unternehmer, die sich in | |
Europa niedergelassen hatten. Aber der steile Aufstieg der Bewegung begann | |
erst nach dem AKP-Wahlsieg von 2002. | |
Ein Insider aus der Hizmet-Szene, der anonym bleiben will, schildert, wie | |
das vonstatten ging: „In Europa und anderswo verlief die Ausbreitung immer | |
nach demselben Schema. Ein Imam wurde ernannt, um die Bewegung in dem | |
betreffenden Land ,anzuführen‘, man bildete eine Gruppe für den | |
interreligiösen Dialog und den Dialog mit der Zivilgesellschaft, eine | |
andere Gruppe kümmerte sich um Wohnungen, eine um Schulen, eine um die | |
Unternehmer. Für jede große Region gab es einen Imam, in Frankreich | |
beispielsweise einen für Lyon oder für Seine-Saint-Denis.“ | |
Für praktizierende Muslime mit EU-Pass bot die Gülen-Bewegung die | |
Möglichkeit, ihren Glauben, ihre türkische Herkunft und ihre | |
Staatsangehörigkeit miteinander zu versöhnen – und das in Ländern, die dem | |
Islam nicht immer wohlwollend gegenüberstehen. „Dank Gülens Botschaft | |
konnten wir eine Brücke zwischen unserem muslimischen Glauben und der | |
modernen Welt schlagen“, sagt ein Anhänger aus London. „Als Alternative zum | |
politischen Islam bot er einen zivilen Islam, der soziale Verantwortung, | |
Integration und Dialog beinhaltet.“ | |
In Europa ist die Gülen-Bewegung mit rund 50 Schulen, hunderten Abendkursen | |
und einer Vielzahl von Kultur-, Berufs- und Frauenverbänden vertreten, am | |
stärksten in Deutschland (wo die meisten Anhänger leben), Belgien, den | |
Niederlanden und Frankreich. In jedem dieser Länder unterhält die Bewegung | |
eine „Plattform zur Förderung des interreligiösen Dialogs“. Über die | |
vergibt sie auch Stipendien, wobei Moral, Finanzlage und Lebensgewohnheiten | |
der Bewerber und ihrer Familien genau überprüft werden. Die Zeitung der | |
Bewegung, Zaman, wurde allerdings einige Wochen nach dem Putschversuch von | |
2016 eingestellt.[4] | |
Die PR-Abteilung der Bewegung warb zudem eifrig um intellektuelle, | |
religiöse und politische Kreise. Der Unternehmerverband der Bewegung, die | |
Turkish Confederation of Businessmen and Industrialists (Tuskon), | |
finanzierte Konferenzen, häufig in Kooperation mit Brüsseler Thinktanks. In | |
Belgien richtete die Universität Leuven einen Fethullah-Gülen-Lehrstuhl für | |
Interkulturelle Studien ein. | |
In Frankreich organisierte die Bewegung ein jährliches Diner in der | |
Nationalversammlung. Die meisten Abgeordneten dachten wohl nicht groß | |
darüber nach, wer hinter der Einladung stand. Die Islamexperten des | |
Innenministeriums wusste jedoch genau, mit wem sie es zu tun hatten, zumal | |
die Gülen-Anhänger um gute Kontakte zu den nationalen Geheimdiensten bemüht | |
waren. | |
## Die Jungen fordern Selbstkritik | |
Im Europäischen Parlament zeigten sich die Grünen als besonders zugänglich. | |
Nach Aussage eines hohen EU-Beamten, der mit der türkischen Politik | |
vertraut ist, unterstützte die grüne Fraktion etliche Initiativen, „die | |
eindeutig als gülenistisch erkennbar waren“. Zum Beispiel eine | |
Fotoausstellung im Europäischen Parlament, die Zaman 2012 zu ihrem | |
25-jährigen Bestehen organisiert hatte.[5] | |
Der EU-Vertreter kommentiert erbost: „Zaman zum Symbol der Pressefreiheit | |
zu stilisieren, das war grober Unfug.“ Auch einer wie Daniel Cohn-Bendit, | |
der als Schirmherr der Ausstellung aufgetreten sein soll, hatte damals | |
keine Berührungsängste. | |
Allerdings stand Gülen 2012 noch in Erdoğans Gunst. Damals entsandte Ankara | |
junge Staatsanwälte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte | |
(EGMR), die eindeutig Gülenisten waren, berichtet ein hoher türkischer | |
Beamter: „Darüber wurde im Europarat offen gesprochen. Als 2013 der Krieg | |
zwischen Erdoğan und Gülen ausbrach, wurden sie alle abberufen.“ | |
Nach dem Putschversuch von 2016 wurden mehrere Kader der Gülen-Bewegung von | |
türkischen Spezialkommandos entführt. Das geschah nicht nur in Asien und | |
Afrika, sondern auch europäischen Peripherieländern wie in der Ukraine, der | |
Republik Moldau und im Kosovo.[6]Auch innerhalb der EU werden | |
Gülen-Funktionäre bedroht: Fotos ihres Wohnhauses oder ihres Autos | |
erscheinen in der regierungsfreundlichen türkischen Presse. Die Botschaft | |
ist klar: „Ihr entkommt uns nicht.“ | |
Diese Leute wissen zwar, dass sie in der EU besser geschützt sind als | |
anderswo, sind aber auch enttäuscht darüber, dass der EGMR tausende von | |
Beschwerden abgewiesen hat, die türkische Staatsbürger nach dem | |
gescheiterten Putsch gegen ihre Verhaftung oder Entlassung eingereicht | |
hatten. | |
Viele Gülen-Anhänger, die ins Ausland fliehen, landen zuerst in | |
Griechenland. Wer es nach Europa schafft, zahlt einen Obolus von 1000 Euro, | |
um weitere Flüchtlinge zu unterstützen. Einer von ihnen war Staatsanwalt am | |
obersten Gerichtshof in Ankara. | |
Der Mann hatte einem Schleuser 10 000 Euro gezahlt, der ihn dann auf einem | |
Schlauchboot – zusammen mit zwei syrischen Familien – nachts in der | |
stürmischen Ägäis seinem Schicksal überließ: „Wir schöpften ständig Wa… | |
aus dem Boot“, erinnert sich der Flüchtling. Als ein riesiges Schiff in der | |
Dunkelheit auf sie zufuhr, malte er sich die Schlagzeilen in den türkischen | |
Zeitungen aus: „Ein Richter ist vor der Demokratie geflohen, und er wurde | |
bestraft.“ | |
In der Türkei wird die Bewegung unterdrückt. Sie ist finanziell geschwächt, | |
ihre Anhänger sind in ihrer Existenz bedroht. Dennoch hat sie ihr Hauptziel | |
nicht aufgegeben: Erdoğan zu stürzen. Aber nicht durch Gründung einer | |
politischen Partei – was unter den jetzigen Umständen undenkbar ist –, | |
sondern durch eine extrem aggressive Medienkampagne. | |
„Sie sind nur Anti-Erdoğan“, sagt der Journalist Ragıp Duran, der auch im | |
griechischen Exil lebt: „Ansonsten sind sie sehr staatsgläubig und, was die | |
Kurdenfrage betrifft, sehr antidemokratisch.“ Positiv sieht er nur, dass | |
sie der Linken nicht so feindlich gesinnt sind wie Erdoğan. | |
Der in Schweden lebende gülenistische Autor Abdullah Bozkurt nimmt, | |
zusammen mit einer Gruppe von Journalisten, den türkischen | |
Staatspräsidenten ins Visier. Sie publizieren regelmäßig – vor allem über | |
Twitter – interne Dokumente, die für die Machthaber in Ankara belastend | |
sind. | |
Ein scharfer Kritiker solche Praktiken ist der türkisch-schwedische | |
Politikwissenschaftler Halil Karaveli: „Die Gülen-Anhänger haben gezeigt, | |
dass sie Feinde der Demokratie sind: Das belegt der Putschversuch, aber | |
noch mehr ihre finsteren Pläne, den türkischen Staat zu erobern, und ihre | |
wahrscheinliche Verwicklung in den Mord an dem armenischen Journalisten | |
Hrant Dink. Daran, dass die Türkei sich zu einem autoritären Staat | |
entwickelt, haben sie genauso viel Schuld wie Erdoğan.“ | |
Auch der Gülen-Anhänger Ahmet Dönmez lebt in Stockholm. Der junge | |
Journalist will mehr über die Rolle herausfinden, die Gülenisten bei dem | |
versuchten Militärputsch gespielt haben. Ihn plagt wie viele andere, die in | |
der Bewegung ernsthaft engagiert waren, das bittere Gefühl, getäuscht | |
worden zu sein (was sie Ausländern gegenüber nicht immer zugeben). | |
An verschiedenen Orten in Europa wurden interne Versammlungen abgehalten, | |
an denen sowohl „Alte“ wie Mustafa Yeşil als auch die junge Generation | |
teilgenommen haben. Glaubt man den Berichten zweier Teilnehmer, so gab es | |
heftigen Widerspruch, als einer der Veteranen vorschlug, die Bewegung | |
solle, ähnlich wie in der Türkei, auch in Europa versuchen, staatliche | |
Institutionen zu infiltrieren. | |
Mustafa Yeşil spielt solche inneren Differenzen herunter: „In Europa agiert | |
die Gülen-Bewegung absolut transparent. Die Angehörigen von Hizmet, die in | |
den letzten Jahren nach Europa gekommen sind, haben in der Türkei einen | |
hohen Preis bezahlt. Ihre Integration braucht einfach Zeit.“ | |
In einem Punkt sind sich freilich alle Gülenisten einig: Europa ist die | |
Region, wo sie hoffen können, ihre Netzwerke wieder aufzubauen. Hier sind | |
ihre Vereinigungen ganz offiziell zugelassen. Doch die jungen Kader sehen | |
die Zeit der Selbstkritik und der Neuorientierung gekommen. | |
Ein junger Gülen-Anhänger formuliert es so: „Wir haben immer gesagt, dass | |
wir eine zivilgesellschaftliche Bewegung sind, aber wir waren auf den Staat | |
fixiert. Wir haben gesagt, dass wir unpolitisch sind, aber wir haben eine | |
politische Partei unterstützt. Jetzt müssen wir erst mal vor unserer | |
eigenen Haustür kehren.“ | |
Ein anderer „Dissident“ meint allerdings, die internen Diskussionen führten | |
zu nichts. Im Übrigen seien die Traditionalisten immer noch stärker als die | |
Modernisierer: „Solange Fethullah Gülen lebt, wird sich nichts tun. Und | |
danach? Da wird die Bewegung implodieren.“ | |
1↑ Siehe Günter Seufert, „Anatomie eines Putsches“, LMd, Oktober 2016. | |
2↑ Zum Verlauf dieses Konflikts siehe Günter Seufert, „Der mächtige Herr | |
Gülen“, LMd, Februar 2014. | |
3↑ Siehe Jean Marcou, „Die Welt aus der Sicht Erdoğans“, LMd, Mai 2017. … | |
einem „Gegenputsch“ spricht Yavuz Baydar in seinem „Brief aus dem Exil“, | |
LMd, Oktober 2016. | |
4↑ Zaman erschien in zwölf EU-Ländern und erreichte eine Gesamtauflage von | |
bis zu 50 000 Exemplaren. | |
5↑ Es handelte sich um eine Wanderausstellung mit Fotos berühmter | |
türkischer Fotografen, die auch in Wien, London und Athen gezeigt wurde. | |
6↑ „Die Entführung von sechs Personen aus Pristina am 29. März 2018 ist | |
dokumentiert unter: | |
www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html. | |
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer | |
Ariane Bonzon ist Journalistin und Verfasserin des Buchs „Turquie. L’heure | |
de vérité“, Tharaux (Éditions Empreinte) 2019. | |
10 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Ariane Bonzon | |
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