# taz.de -- Medienkonzern „Vice“ soll vor Aus stehen: Eine Ära geht zu Ende | |
> Der amerikanische Medienkonzern Vice soll offenbar vor dem Aus stehen. Es | |
> wäre ein weiteres Millennial-Medium, das ins Straucheln gerät. | |
Bild: „Vice“-Partys wird es wohl nicht mehr so viele geben | |
Die Millenials sehen ziemlich alt aus. Gerade noch zur Kohorte | |
hochgeschrieben, die alles verändern wird, wirken sie heute hüftsteif und | |
werden von der wendigeren Generation Z überholt. Deren Lieblingsmedium | |
TikTok beschäftigt die Feuilletons und die Regulierungsbehörden, während | |
die Medien der Generation Y in die Röhre blicken. Ende April [1][verkündete | |
der Internetdienst Buzzfeed, dass er seine Newssparte] einstellen wird. In | |
dieser Woche berichteten mehrere US-Medien, dass Vice Media vor der | |
Insolvenz stehen soll. Die beiden Medienunternehmen standen einmal für das, | |
was die Millenials anders machten, für die Zukunft. Die scheint nun abrupt | |
vorbei zu sein. | |
Es ist ein tiefer Fall: Unter Berufung auf anonyme Quellen im Konzern | |
berichtete die New York Times am Montag, dass Vice sich darauf vorbereite, | |
Konkurs anzumelden. Die Agentur Bloomberg bestätigte die Meldung mit | |
eigenen Quellen. Noch 2017 war Vice fast 6 Milliarden Dollar wert, | |
Medienkonzerne von Disney zu Murdoch wetteiferten darum, sich am hippen | |
Medien-Start-up zu beteiligen. Zuletzt hatte Vice versucht, einen Käufer zu | |
finden, für lediglich 1,5 Milliarden – vergeblich. Nun übernimmt vielleicht | |
der größte Investor, Fortress Investment Group. | |
Vice führt weltweit fast 30 lokale Ausgaben, auch hierzulande: in | |
Deutschland, Österreich und der Schweiz, die seit 2018 gemeinsam | |
koordiniert werden. Auch hier lieferte Vice seine typische Mischung aus | |
Subkultur, Drogen, sozialen Problemen und oft auch seriösem Journalismus, | |
etwa in der Technologie-Berichterstattung. Die ehemalige Österreich-Chefin | |
Hanna Herbst ist mittlerweile im Team von [2][Jan Böhmermann] und der | |
ehemalige Deutschland-Chef Felix Dachsel ist heute stellvertretender Leiter | |
des Reporter-Ressorts des Spiegels. Weder Vice Deutschland noch die | |
Zentrale in New York wollte auf Anfrage der taz die Berichte über die | |
Insolvenz kommentieren oder über die Zukunft von Vice Deutschland und | |
Österreich/Schweiz Auskunft geben. | |
Ganz überraschend kommt das drohende Aus nicht. Vice hatte immer Mühe, den | |
Erfolg auch in digitale Werbeeinnahmen zu übersetzen. Und bereits seit 2018 | |
häuften sich die schlechten Nachrichten. Seriösere Medien berichteten über | |
das hochstaplerische Geschäftsgebaren von Gründer Shane Smith, HBO stellte | |
eine gemeinsame Sendung ein und die Öffentlichkeit erfuhr, dass Vice 1,8 | |
Millionen Dollar an weibliche Angestellte bezahlt hatte, um einer Klage | |
wegen Diskriminierung auszuweichen. Berichte über sexuelle Belästigung und | |
ein toxisches Arbeitsklima häuften sich. | |
Um das Image zu kitten, räumte Gründer Shane Smith den Posten als CEO für | |
die Managerin Nancy Dubuc. Diese verließ Anfang des Jahres überraschend das | |
Unternehmen, das sie eigentlich flott machen sollte. Dafür hatte sie 1,5 | |
Millionen Dollar Grundgehalt bezogen, was ihr jetzt, wo das Unternehmen vor | |
die Wand gefahren ist und Hunderte Angestellte ihre Stellen zu verlieren | |
drohen, Kritik einbringt. Ein ehemaliger Manager von Buzzfeed sagte der New | |
York Times: „Potential und Versprechung hat Profit und Effizienz Platz | |
gemacht. Sexy verkauft sich einfach nicht.“ | |
## „Hipsterbibel“ | |
Vice war mal so sexy. Was später zu einem weit verzweigten Medienkonzern | |
werden sollte, begann 1994 als Punk-Magazin in Montreal. Mit einer Mischung | |
aus provokanten Inhalten, Berichten über modebewusste Großstädter und | |
subkulturellen Themen hatte das Magazin so großen Erfolg, dass es bald als | |
„Hipsterbibel“ bekannt wurde. Die Ästhetik von Vice prägte eine ganze Är… | |
der der amerikanische Kulturtheoretiker Mark Greif mit dem Buch „What was | |
the Hipster?“ ein kritisches Denkmal setzte. Für Greif war der Hipster eine | |
Figur der Oberfläche. | |
Grundlegend apolitisch, aber besessen davon, Trends zuvorzukommen, für die | |
man sich überall bedienen konnte, gerade bei der Kultur der | |
Arbeiterklassen, die man ironisch approbierte. Emblematisch war in den | |
2000ern in den USA dafür die Truckermütze, eigentlich Symbol knochenharter | |
Tieflohnjobs, nun plötzlich Sinnbild verzogener Großstadtjugend. Wohl | |
nirgends sah man so viele Truckermützen wie bei Vice. Kern jeder Ausgabe | |
von Vice Magazine war die Kategorie „Dos and Donts“, wo Fotos von mal mehr, | |
mal weniger angestrengt hippen jungen Leuten auf Stilsicherheit abgeklopft | |
wurden. | |
Beseelt davon, das Gewissen einer neuen Generation zu sein, schaffte Vice | |
erst den Sprung aus dem beschaulichen Montreal in die Weltmetropole New | |
York und dann vom Printprodukt zum Digitalimperium. Eine ganze Flotte an | |
Websites sollte die kulturellen Präferenzen der Millenials bedienen: | |
Broadly für feministische Themen, Munchies (Englisch für Kifferhunger) für | |
Essen, Noisy für Musik, Motherboard für Technologie. Ende der 2000er | |
startete Vice einen Youtube-Kanal mit Reiseberichten und Reportagen, der so | |
erfolgreich wurde, dass HBO ab 2013 Vice einen Sendeplatz für ein | |
Nachrichtenformat gab. Das sollte das Konzept Nachrichten überhaupt | |
revolutionieren, die Sehgewohnheiten der Millenials ins Fernsehen bringen | |
und die Millenials zurück zu etablierten Medien. Das wollte Vice mit der | |
Mischung aus schockierenden Inhalten und roher Ästhetik wie aus | |
Magazinzeiten erreichen. | |
## Gonzo-Berichterstattung funktioniert nicht mehr | |
Was rauskam, war eine Mischung aus Jackass und CNN, irgendwas zwischen | |
Hunter S. Thompson und John Stewart. Dafür gewann Vice bald Emmys. | |
Aufmerksamkeit erhielten vor allem die Dokus über Nordkorea und Bilder aus | |
dem Inneren des IS, die Vice als Erste zeigen konnte. Eine hochgelobte Doku | |
über den Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville war emblematisch für das | |
Vorgehen von Vice: Kamera drauf und sprechen lassen. Selbst in einen | |
fahrenden Van sprang die Reporterin, um den Nazis möglichst nah zu sein. | |
Oft ging das auch schief. Eine Reportage über die Hamas fing Vice harsche | |
Kritik ein, denn der Reporter versäumte es, den interviewten Islamisten | |
kritische Fragen zu stellen. Gründer Shane Smith winkte solche Kritik gerne | |
mit der Ausrede ab, dass sie keine Journalisten seien. Aber was dann? | |
Vice lag schon immer eine nihilistische Attitüde zugrunde. Die Obsession, | |
schockierende Themen zu finden, jagte die Redaktion über die ganze Welt zu | |
den „Rändern der globalen Kultur“, wie es im Marketingsprech der Firma | |
hieß, zu den Abgründen von Schönheits-OPs in Nigeria oder Südkorea, zu | |
abgehalfterten sowjetischen Kampfpiloten, die sich im Kongo verdingen, zu | |
verschloßenen Diktaturen wie Nordkorea und immer wieder zu Sex und Drogen | |
in allen erdenklichen Facetten. Schon im Magazin war ein misogyner | |
Einschlag zu bemerken, der die Offenbarungen über das toxische Arbeitsklima | |
wenig überraschend machte. Selbst dass Mitgründer Gavin McInnes nach seinem | |
Ausstieg zu einer der wichtigsten Stimmen der Alt-Right-Bewegung wurde und | |
die Neonazi-Organisation ProudBoys aufbaute, die bei der Stürmung des | |
Kapitols maßgeblich beteiligt war, kam nicht aus dem Nichts. | |
Aber in einer Zeit, in der Haltung und Professionalität im Journalismus | |
wieder an Stellenwert gewonnen haben, hat sich Vice mit seiner | |
Gonzo-Berichterstattung und ausgestellter Naivität keine Gefallen mehr | |
gemacht. Vice war wie eine tolle Party, auf der Millenials über alle | |
möglichen digitalen Kanäle mitfeiern konnten. Aber mittlerweile dauert der | |
Kater viel länger als noch vor ein paar Jahren. Irgendwann müssen alle nach | |
Hause gehen. | |
6 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Kuendigungen-bei-Buzzfeed-Vice-und-Co/!5568867 | |
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## AUTOREN | |
Caspar Shaller | |
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