# taz.de -- Aus von Vice Deutschland: Spermatests, LSD und Investigatives | |
> „Vice Deutschland“ prägte mit Drogen und Sex den Onlinejournalismus, im | |
> März wird das Magazin eingestellt. Ein Nachruf. | |
Bild: Der brennende Grill beim „Vice“-Sommerfest war das Exzessivste, das u… | |
Einmal flog ein brennender Grill in die Spree. Er hatte wohl Feuer gefangen | |
oder so ähnlich, irgendwann im Laufe eines ziemlich normalen Sommerfests | |
bei Vice, das weit entfernt von einer Drogenorgie war, und einer der | |
leitenden Redakteure wusste sich nicht mehr anders zu helfen. Diese | |
Geschichte, die ich nur gehört hatte, weil ich schon etwas früher abgezogen | |
war, ist wahrscheinlich die einzige wirklich exzessive Story aus meiner | |
kurzen Zeit in der Redaktion bei Vice. | |
Und dass es bei Vice, diesem irgendwie punkigen, immer unangepassten | |
Onlinemedium, ziemlich normal zuging und am Montag nach der Party alle | |
ausgeschlafen bei der Redaktionskonferenz in einem spießigen Glaskasten | |
auftauchten, widerspricht natürlich der Außenwirkung der Marke. Auf dessen | |
Startseite sind statt Kategorien wie Feuilleton oder Wirtschaft die Reiter | |
„Tech“, „Menschen“, „Drogen“, „Popkultur“ und „Sex“ zu find… | |
für zwei Themen steht Vice, dessen deutscher Ableger 2005 gegründet wurde | |
und nun im [1][März dieses Jahres endgültig eingestellt] werden soll, in | |
der öffentlichen Wahrnehmung: Drogen und Sex. | |
Das hatte auch mit Headlines zu tun, über die sich Leute furchtbar aufregen | |
konnten. Wahrscheinlich auch deswegen, weil sie am Ende aus Neugier | |
trotzdem immer wieder auf die Artikel klickten. Denn Vice-Headlines waren | |
ein eigenes Genre und Alleinstellungsmerkmal. Einige Highlights: | |
„Ich habe ein dreigängiges Katzenfutter-Dinner gegessen, damit ihr es nicht | |
müsst.“ | |
„Das Friedenslied von Xavier Naidoo ist so dumm, dass man fast Lust auf | |
Krieg bekommt.“ | |
„Der Sperma-Geschmackstest – Wie jeder, der schon mal einen Schwanz im Mund | |
hatte, weiß, schmeckt so manches Sperma besser als das andere.“ | |
## Vicesierung deutschsprachiger Medien | |
Das Besondere bei Vice war dabei immer: Hinter Headlines verbarg sich keine | |
Sackgasse, sie waren kein Clickbait. Wer auf den Sperma-Geschmackstest in | |
der Überschrift klickte, der bekam auch einen ziemlich detaillierten | |
Sperma-Geschmackstest im Artikel geliefert. | |
Doch gerade jetzt, kurz vor der Legalisierung von Cannabis in Deutschland, | |
die Vice in den letzten Jahren sehr fundiert begleitete, schreibt der | |
aktuelle Chefredakteur Tim Geyer in einem nüchternen Statement: „Vice | |
Deutschland schließt Ende März nach 18 Jahren. Danach wird es keine | |
deutschsprachigen Inhalte mehr geben. Schade. Kein anderes deutsches Medium | |
hat so konsequent gezeigt, wie guter Journalismus für junge Menschen geht. | |
Wir hätten gerne für euch weitergemacht. Sorry, Leute.“ | |
Daraus spricht Wehmut, klar, einige deuteten die Worte auch als Arroganz. | |
Aber vor allem klingt es nach: Resignation. Was also ist passiert, wollen | |
junge Leute keinen Journalismus mehr? | |
Die Wahrheit ist, dass das Ende von Vice in Deutschland auch mit einer Art | |
Vicesierung deutschsprachiger Medien zu tun hat. Während Vice Anfang der | |
zehner Jahre noch mit Dokus auftrumpfte, die sich sonst niemand traute, | |
Reporter*innen Tierschutzaktivist*innen und LSD-Liebhaber*innen | |
begleiten ließ und eine Video-Serie über Drogen für das ZDF produzierte, | |
bilden Kanäle des öffentlich-rechtlichen Jugendangebots „funk“ wie | |
„Y-Kollekiv“ oder „Strg_F“ heute solche Themen ab. Über Drogen wird | |
mittlerweile überall geschrieben und Texte über polyamore Beziehungen | |
finden sich auch in konservativen Tageszeitungen. Was sich Vice von Anfang | |
an getraut hat, trauen sich heute fast alle. | |
Das hängt auch damit zusammen, dass viele Journalist*innen, die bei Vice | |
ihre journalistische Karriere begonnen haben, heute bei | |
Öffentlich-Rechtlichen, dem Spiegel und Co. arbeiten und die redaktionelle | |
Ausrichtung mitgestalten. Warum also noch Vice lesen, wenn’s die | |
Vice-Themen auch woanders gibt? | |
Dass sich die thematische Ausrichtung von Vice aber nie nur auf Drogen und | |
Sex beschränkte und dass die deutsche Redaktion in den letzten Jahren | |
einige wichtige Investigativ-Recherchen veröffentlichte, ging oft unter. | |
Große Vice-Recherchen zur Kinderpornoplattform Elysium, zu einem | |
angesehenen HIV-Arzt, der seine Machtstellung ausgenutzt und | |
Patient*innen missbraucht haben soll, oder CDU-Verstrickungen mit der | |
aserbaidschanischen Regierung bekamen teils weniger Aufmerksamkeit als | |
Sperma-Geschmackstests. Letztlich ist das aber kein reines Vice-Problem. | |
Bei Zeit Online lesen Menschen tendenziell auch eher einen | |
„Kontoauszug“-Artikel, in denen Reiche darüber sprechen, wie sie noch | |
reicher werden, als eine Recherche zu illegalen Pushbacks an den | |
EU-Außengrenzen. | |
Ich habe für Vice nie über Drogen oder Sex geschrieben. Aber als mein | |
Kollege Paul Schwenn und ich uns in das ausbeuterische und von | |
Verschwörungserzählungen geprägte Coachingprogramm [2][„Alpha Mentoring“ | |
des Rappers Kollegah einschleusen] wollten, bekamen wir von der | |
Chefredaktion freie Hand. Wir tauchten einen Monat lang ab und | |
recherchierten, und obwohl niemand so richtig wusste, was wir gerade | |
machten, bekamen wir alle Freiheiten – und die nötige rechtliche | |
Unterstützung, als nach Veröffentlichung unzählige Abmahnungen | |
eintrudelten. | |
## Musik- und Techjournalismus auf Augenhöhe | |
Vice verteidigte Recherchen vor Gericht, klagte [3][zusammen mit | |
FragDenStaat Informationen] ein und ließ dabei junge Journalist*innen | |
recherchieren, die bei anderen Medien mit ihren Ideen keinen Raum bekommen | |
hätten. Die Resultate sprachen für sich. Die Plattform stand also nicht nur | |
für einen unangepassten Journalismus für junge Leute, sondern bot auch | |
einen Entfaltungsraum für junge Journalist*innen, der fehlen wird. | |
Das Problem ist nur: Solche Recherchen kosteten viel Geld und davon hatte | |
Vice Deutschland immer weniger. Zuerst wurden Outlets wie Noisey und | |
Motherboard, die unelitären Musik- und Techjournalismus auf Augenhöhe | |
boten, unter der Dachmarke gebündelt. Die Redaktion schrumpfte und es war | |
immer weniger Raum für große Recherchen. | |
Im letzten Jahr meldete der US-amerikanische Mutterkonzern Insolvenz an, | |
das redaktionelle Team von Vice Deutschland bestand nur noch aus etwas mehr | |
als einer Handvoll Mitarbeiter*innen. Viel mehr Raum nahm die hauseigene | |
Agentur Virtue ein, deren bezahlte Inhalte penetrant in Timelines | |
auftauchten und ein schlechtes Bild auf den Vice-Journalismus warfen. Je | |
besser der Journalismus von Vice wurde, desto weniger wollte man in den USA | |
Geld dafür lockermachen, so schien es. Daran ist das Medium hierzulande | |
letztlich zugrunde gegangen. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Geist von | |
Vice noch lange durch deutsche Redaktionen spukt und angepasste Spießer | |
provoziert. | |
Hinweis: Johann Voigt war zwischen 2015 und 2021 als Autor und | |
zwischenzeitlich als redaktioneller Mitarbeiter für Vice tätig | |
20 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Nach-18-Jahren/!5992478 | |
[2] https://www.vice.com/de/article/43jkqb/alpha-mentoring-felix-blume-exklusiv… | |
[3] /Ermittlungen-gegen-FragDenStaat/!5974078 | |
## AUTOREN | |
Johann Voigt | |
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