# taz.de -- Das Magazin „Vice“ expandiert: Was junge Menschen bewegt | |
> Sex, Drogen und Gewalt sind die Kernthemen von Vice. Aber auch Rassismus | |
> und Feminismus. Tom Littlewood will das Magazin politischer machen. | |
Bild: Eine Auflage von 100.000 Exemplaren hat das werbefinanzierte Printmagazin. | |
BERLIN taz | Herr Littlewood, gibt es eine Medienkrise? Der | |
Vice-Chefredakteur lächelt. Er sitzt im sogenannten Burn Out Room, auf | |
einer Eckcouch aus grünem Samt. Die Wände sind schwarz, die Möbel aus | |
dunklem Holz. Kate Moss schaut verführerisch von einem überdimensionalen | |
Cover des Modemagazins I-D, das Vice vor zwei Jahren übernommen hat. | |
„Ich glaube, es kommt darauf an, wen du fragst,“ sagt Tom Littlewood mit | |
einem dezenten britischen Akzent. „Wenn du mich fragst: Nein. Bei Vice gibt | |
es keine Medienkrise.“ | |
Unkritisch. Pauschalistisch. Inhaltsleer. So könnten die ersten Begriffe | |
lauten, die einem klassisch ausgebildeten Journalisten zu Vice einfallen. | |
„Zynismus“ käme einem noch in den Sinn beim Browsen durch das Webmagazin, | |
in dem man neben Videoreportagen aus dem syrischen Bürgerkrieg Artikel mit | |
Überschriften wie: „Ich habe mir Kokain in den Arsch blasen lassen, damit | |
ihr es nicht tun müsst“, findet. | |
Ja, man kann dem Magazin so einiges vorwerfen. Eines aber nicht: | |
Irrelevanz. | |
Denn während andere Medienhäuser massenweise Stellen abbauen müssen, | |
expandiert Vice. Vor zwanzig Jahren als skurriles Punk-Fanzine von drei | |
Kanadiern gegründet, hat sich Vice inzwischen zum globalen | |
Medienunternehmen mit weltweit 35 Büros entwickelt. HBO, ZDF und ProSieben | |
kaufen bei Vice TV-Produktionen ein. Zeit Online schmückt sich neuerdings | |
mit Zweitveröffentlichungen von Vice-Artikeln und -Video-Content. Man | |
könnte sagen: Das einstige Krawallblatt ist voll Mainstream geworden. Man | |
kann es aber auch umdrehen: Vielleicht will der Mainstream heute einfach so | |
sein wie Vice. | |
Aus Platzgründen ist die Berliner Redaktion vor fünf Monaten vom | |
Rosenthaler Platz weggezogen, in eine ehemalige Zigarettenfabrik in Mitte, | |
mit Blick auf die Spree. Die Redaktionsräume sind schlicht eingerichtet. | |
Von dem Weiß der Wände und dem Grau der Betonböden heben sich allenfalls | |
ein paar persische Teppiche, die Regalwände voller Vice-Hefte und die | |
leuchtenden Apple-Logos ab. Ein junger Mann nutzt den langen Flur zum | |
Skateboardfahren und stürzt hin. „Alles okay?“, fragt jemand. „Alles gut… | |
Ansonsten ist es seltsam still in der Redaktion. Man hört fast nichts außer | |
dem Tippen fleißiger Hände. | |
## Die Marke wächst | |
Die Digitalisierung von Medieninhalten zwingt viele Redaktionen zur | |
Umstrukturierung von Systemen, die seit vielen Jahren bestehen. Für ein | |
junges Blatt wie Vice, das sich schon immer über die Experimentierfreude | |
mit Inhalten definierte, war der Weg zum Internet kein Problem – im | |
Gegenteil. Herausgeber Benjamin Ruth brachte Vice 2005 nach Deutschland und | |
fing mit fünf Mitarbeitern an. | |
Eine Auflage von 100.000 Exemplaren des werbefinanzierten Printmagazins | |
liegt seither gratis in Modegeschäften, Galerien und Plattengeschäften aus. | |
Der große Erfolg kam aber erst mit der Webpräsenz. Die Vice ist in | |
Deutschland inzwischen auf 100 Mitarbeiter angewachsen, es sind Fachportale | |
mit eigenständigen Redaktionen hinzugekommen wie die Musikplattform Noisey | |
oder die Wissenschaftsplattform Motherboard. Im Frühjahr werden zusätzlich | |
Vice News und Vice Sports erscheinen. | |
Den Erfolg von Vice bestimmen allem voran zwei Dinge: der Austausch von | |
Artikeln und Videos zwischen den internationalen Büros – deutsche | |
Exportschlager sind Reportagen über Rechtsradikale und Flüchtlinge – sowie | |
eine relativ junge Zielgruppe. Letztere ist zwischen 18 und 34 Jahren alt, | |
bewegt sich gern im digitalen Raum und interessiert sich für Themen wie | |
Fashion Shows im Iran und Rettungssanitäter in Guatemala. | |
## Chefredakteur mit 23 | |
Vice bringt sie in Form [1][von zehnminütigen Videoreportagen]. Die | |
Redakteure, die sich täglich auf die Suche nach diesen Vice-spezifischen | |
Geschichten begeben, sind im Durchschnitt 28 Jahre alt. Die Hälfte von | |
ihnen ist weiblich. Frauenquote? Chefredakteur Littlewood schüttelt sanft | |
den Kopf: „Wir entscheiden uns für einen Mitarbeiter nicht aufgrund des | |
Geschlechts, das spielt keine Rolle für uns.“ | |
Tom Littlewood macht sich lieber Gedanken darüber, was junge Menschen | |
bewegt. Nach einem Studium der deutschen und französischen Literatur im | |
englischen Cambridge wurde er 2008 zum Chefredakteur der deutschen Vice – | |
da war er 23. Littlewood spricht sehr leise, sein Flüstern hat etwas fast | |
Meditatives. Und er trägt einen Schnauzbart, den er sehr lieb hat. Während | |
des Gesprächs streicheln Zeigefinger und Daumen unentwegt den Bart zurecht. | |
„Wir wollen keine reine Meldungsseite sein, die die gleichen Nachrichten | |
wie alle anderen bringt, nur in einer anderen Sprache. Das wäre zu | |
kurzsichtig gedacht“, sagt Littlewood über das geplante Nachrichtenportal | |
Vice News, das es als US-Version bereits gibt. Der deutsche Ableger startet | |
mit sechs neuen Mitarbeitern, die Erfahrung mitbringen, aber zugleich „die | |
Marke Vice verstehen“. | |
## Braver und objektiver? | |
Die Themen, mit denen Vice sich in Vergangenheit profiliert hat (Sex, | |
Drogen, Gewalt), werden wohl weiterhin verfolgt und nachrichtlich | |
aufbereitet werden. Doch kann es durchaus sein, dass neue Themenbereiche | |
hinzukommen, bei denen man bisher nicht an Vice dachte. Wieso sollten Leute | |
ihre Nachrichten bei Vice lesen, und nicht woanders? „Es wird der spezielle | |
Zugang sein, der Vice weiterhin ausmacht“, erklärt Littlewood. „Wir | |
erzählen unsere Geschichten über Personen, sodass recht schnell ein | |
emotionaler Bezug zum Protagonisten und somit zum Thema geschaffen wird. | |
Wir versuchen über Menschen eine Relevanz zu schaffen, nicht über Fakten. | |
Es ist nicht in unserem Sinne, zu sagen: Das ist jetzt wichtig für euch!“ | |
Ob Vice News das Experiment wagen wird, in einem objektiveren Duktus zu | |
sprechen, will Littlewood nicht verraten. In den üblichen Vice-Artikeln | |
dominiert nämlich zumeist ein meinungsstarkes Ich, während der eigentliche | |
Gegenstand des Artikels schnell zur Nebensache wird. Bei vielen | |
Vice-Videoreportagen hingegen ist es umgekehrt. | |
Für eine Videoreportage aus dem syrischen Raqqa, dem Hauptquartier des | |
sogenannten Islamischen Staates (IS), hatte Vice im vergangenen Sommer viel | |
Kritik geerntet. Zwar hatte keine Redaktion auf der Welt vergleichbares | |
Material – das Kamerateam begleitete IS-Funktionäre auf Streifzügen und | |
durfte Gefangene interviewen –, doch wurde das Gezeigte kaum kommentiert, | |
sodass viele Zuschauer in der Reportage einen IS-Propagandafilm sahen. | |
Ein ähnliches Beispiel von Anfang November ist das Interview mit dem | |
deutschen Salafisten Sven Lau, der sich darin als friedfertiger, gar | |
lustiger Zeitgenosse inszeniert. Natürlich habe man sich gefragt, so | |
Littlewood, ob man es verantworten könne, jemanden, der gefährlich für die | |
Gesellschaft sein könnte, unkommentiert sprechen zu lassen. Man habe viel | |
darüber nachgedacht, wie und wo man schneidet, um ein ehrliches Porträt von | |
diesem Menschen abzugeben. Und ja, sagt Littlewood, er empfinde diesen | |
konkreten Fall als vertretbar. Er traue seinen Zuschauern viel zu. | |
## Politisierung der Inhalte | |
„Bei anderen Reportagen zum Thema Salafismus, vor allem in Deutschland, | |
geht ein Reporter hin und weiß schon ganz genau, wie er diese Person | |
aussehen lassen will, und stellt Fragen, bis er dieses Bild von der Person | |
hat, das er haben wollte, und dann geht er wieder weg. Das versuchen wir zu | |
vermeiden. Wir erklären Leuten nicht, was sie zu glauben haben“, sagt | |
Littlewood. Und doch zeichnet sich in den letzten Jahren eine deutliche | |
Politisierung der Inhalte ab. LGBT, Rassismus, Feminismus gehören | |
inzwischen zu den Kernthemen von Vice. In Reportagen über die AfD oder die | |
kurdischen Aufstände in Istanbul positioniert sich Vice unmissverständlich | |
gegen Konservatismus. Ist Vice ein linkes Blatt? Tom Littlewood lächelt | |
wieder. | |
Nein, sagt er entschieden, Vice wolle sich von jeglicher politischer | |
Lobbyarbeit distanzieren und sich zu jedem Thema eine eigene Meinung | |
bilden. „Konservatismus finde ich gefährlich, ja“, erklärt Littlewood und | |
hält kurz inne. „Aber vor allem den Konservatismus in den Medien. Zu sagen, | |
das und das bringen wir nicht, weil es nicht in unser Weltbild passt, das | |
ist nicht unsere Art. Ich glaube, für die meisten Menschen sieht die Welt | |
auch einfach nicht so aus.“ | |
29 Nov 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.vice.com/de/videos | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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