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# taz.de -- Massenprotest in Belgrad: Party der Demokratie
> In Serbien demonstrieren so viele Menschen wie nie zuvor gegen das Regime
> von Präsident Vučić. Der versucht alles, um sie zu diskreditieren.
Bild: Tausende Menschen protestieren gegen die serbischen Behörden in Belgrad,…
Dass man einem historischen Ereignis beiwohnte, konnte man schon am frühen
Nachmittag merken: Das Zentrum Belgrads war so vollgestopft mit
Demonstranten, dass Menschen aus Neubelgrad Stunden brauchten, um die 450
Meter lange Brücke über die Save zu überqueren. Und immer noch zogen
kilometerlange Autokolonnen aus dem ganzen Land in die serbische
Hauptstadt.
Was dort am Samstag stattfand, war die größte Kundgebung in der Geschichte
Serbiens. Die unabhängige Organisation Archiv der öffentlichen
Veranstaltungen sprach von 275.000 bis 325.000 Menschen. Das
Innenministerium setzte die Zahl auf 107.000 herab.
Und das, obwohl [1][gleichgeschaltete Medien] tagelang versuchten Panik zu
schüren, heimtückische Pläne ausländischer Geheimdienste, insbesondere des
BND, „aufdeckten“, den freiheitsliebenden Staatspräsidenten Aleksandar
Vučić, der unermüdlich für das Wohlergehen der Serben kämpfe, mit Gewalt zu
entmachten. Vergebens.
Alle Fernsehsender mit nationaler Reichweite, alle Radiosender, die meisten
Zeitungen stehen unter der Kontrolle der herrschenden Serbischen
Fortschrittspartei und werden aus der Staatskasse finanziert. Sie sind viel
mehr Sprachrohre des Regimes, als Medien und schaffen eine parallele
Realität. Synchronisiert ziehen sie Hetzkampagnen gegen Andersdenkende
durch und sorgen dafür, dass der Personenkult des Staatspräsidenten
aufrecht erhalten wird.
Es war der bisherige Höhepunkt der monatelangen Bürgerproteste, deren
[2][treibender Motor Studenten] sind. Sie blockieren alle serbischen
Universitäten, organisieren täglich im ganzen Land Proteste, ziehen zu Fuß
durch ganz Serbien, hunderte Kilometer, um apathische Bürger aufzurütteln,
die dem toxischen Einfluss der gleichgeschalteten Medien ausgesetzt sind.
## Erinnerung an Anti-Milošević-Demos
Ihre Botschaft ist einfach: Wir wollen Rechtsstaat. Lachend, voller Elan
und unermüdlich bestellen sie: Serbien sei eine durch und durch korrupte
Autokratie, der Autokrat habe den Bürgern alle staatlichen Institutionen
geraubt, damit sich die Clique, die die Macht usurpiert hat, bereichern
könne. Und obwohl sie Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaft
missbrauchen, sollen die Menschen keine Angst haben.
Und viele folgen ihnen. Es gibt mittlerweile kein Kaff in Serbien, in dem
nicht gegen das Regime von Staatspräsident Aleksandar Vučić demonstriert
wird.
Der Auslöser dieser Protestwelle war der Einsturz des Vordachs des gerade
rekonstruierten Bahnhofs in [3][Novi Sad am 1. November 2024], bei dem 15
Menschen starben. Vertreter des Regimes sprechen vom „Unglücksfall“,
Kritiker vom „Mord“, denn die Schuld für die Tragödie sehen sie in dem
korrupten Bauwesen.
Ältere und nicht so junge Serben verglichen die gewaltige Kundgebung am
Samstag mit der [4][Massendemonstration in Belgrad am 5. Oktober 2000], als
wütende Menschen den damaligen Herrscher Serbiens Slobodan Milošević zum
Rücktritt zwangen. Man sprach damals von „demokratischer Wende“. Und es
gibt entscheidende Unterschiede, nicht nur, weil die Demo gestern bedeutend
größer war.
## EU: Hauptsache stabil
Damals stand der Westen hinter den serbischen Demonstranten, es waren
proeuropäische Proteste. Heute unterstützen westliche Staaten den
serbischen Autokraten und betrachten die Demonstranten, revoltierende
serbische Studenten, eigentlich als ein Dorn im Auge der regionalen
Stabilität.
Deshalb ist auch die EU, der europäische Integrationsprozess, denn Serbien
hat formal den [5][Status eines Beitrittskandidaten], überhaupt kein Thema
bei den heutigen Demos. Junge Serben fühlen sich von der EU in Stich
gelassen. Die EU ist mit sich selbst, Russland, dem Nahen Osten und Donald
Trump beschäftigt. Was den Westbalkan angeht, also auch Serbien, ist man in
Brüssel froh, wenn die Sicherheitslage stabil bleibt, bei demokratischen
Schönheitsfehlern, wie zum Beispiel bei Wahlfälschung in der serbischen
Scheindemokratie, drückt man da gern auch beide Augen zu.
Vor 25 Jahren fand ein Aufstand gegen das Regime statt, Demonstranten waren
kampfbereit, entschlossen bis zum bitteren Ende zu gehen. Und heute? Der
bekannte serbische Schauspieler Sergej Trifunović erklärte da so: „Das ist
ein Fest, ein Fest der Menschen, die ein besseres Leben wollen. Mir
persönlich gefällt das besser, denn das hier ist keine Revolution, es ist
eine Evolution“.
Nach der „Revolution“ vor einem Vierteljahrhundert bekamen die Serben
vielleicht einen Staat, doch sie bekamen keine Gesellschaft, sagt der
Schauspieler. Und heute wohnten wir einer gesellschaftlichen Evolution bei,
die letztendlich zu einer Revolution führen würde.
## Auch Promis unter den Unterstützern
Oppositionelle politische Parteien haben bei dem aktuellen Volksaufruhr gar
keine Bedeutung. Studenten halten dezidiert Distanz zu ihnen. Verzankt,
unter enormen Druck des Regimes, waren Oppositionsparteien über ein
Jahrzehnt nicht in der Lage, das autokratische Regime ernsthaft zu
bedrohen.
Neben Professoren, Lehrern, Anwälten, Arbeitern, Künstlern stellten sich
auch serbische Sportler hinter die Studenten, wie die legendären
Basketballspieler Vlade Divac, Dejan Bodiroga und Aleksandar Djordjević,
der jetziger Superstar Bogdan Bogdanović, Fußballer Nemanja Vudić, oder der
beste Tennisspieler aller Zeiten Novak Djoković.
Aber all das ließ das serbische Staatsoberhaupt kalt. Samstagnacht wendete
sich Vučić an das Volk, wie er das fast jeden Tag tut, manchmal auch
mehrmals. Er verbreitete wie üblich Lügen über Auslandssöldner und finstere
Machtzentren, die Serbien ruinieren wollten, lobte die Sicherheitskräfte,
aber auch die Studenten, die für Ordnung sorgten.
## Würde die Polizei ihm folgen?
Seine Botschaft: Ich lasse euch friedlich marschieren und demonstrieren so
lange ihr wollt, ihr könnt Fakultäten, Grund- und Mittelschulen, Straßen,
Brücken und Autobahnen blockieren, Anwaltskammern können gegen mich
streiken, aber ich denke nicht daran zurückzutreten. Seine Wut kann er
dabei kaum mehr unterdrücken, aber er weiß: Wenn er Sondereinheiten der
Polizei den Befehl erteilt, gegen das Volk vorzugehen, wie sein
[6][weißrussischer Freund Alexander Lukaschenko], gibt es kein Zurück mehr.
Außerdem kann er sich nicht sicher sein, dass sie ihm gehorchen würden.
Unmittelbar vor der großen Kundgebung in Belgrad sagte ein Oberst der
Belgrader Polizei, der anonym bleiben wollte, dem Magazin Vreme, er würde
seine Einheiten nicht auf die Demonstranten schicken, denn auch seine
Kinder würden dabei sein.
Und diese „Kinder“ scheinen unermüdlich zu sein in ihrem Kampf für ein
„besseres, demokratisches Serbien“, in dem alle gleich sind vor dem Gesetz.
16 Mar 2025
## LINKS
[1] /Pressefreiheit-in-Serbien/!6056998
[2] /Proteste-in-Serbien/!6051671
[3] https://www.jungewelt.de/artikel/487620.novi-sad-nach-einsturz-von-bahnhofs…
[4] /Serbien-zehn-Jahre-nach-Milosevic/!5134521
[5] /Serbische-Wahlen/!5975837
[6] /Alexander-Lukaschenko/!t5023767
## AUTOREN
Andrej Ivanji
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