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# taz.de -- Analyse zu Protesten in Serbien: „Das Regime verfault von innen“
> Dem serbischen Präsidenten Vučić entgleitet die Kontrolle zusehends, sagt
> der Politologe Srđan Cvijić. Er fordert auch mehr Druck von der EU.
Bild: Unter Druck: Alexander Vučić hier beim Treffen mit der EU und den westl…
taz: Rund eine halbe Million Menschen gingen letzten Samstag gegen
Aleksandar Vučić auf die Straße. Wie sehr steht er unter Druck?
Cvijić: Die Proteste sind absolut bedrohlich für ihn – es war die größte
Versammlung in der Geschichte Serbiens. Das Regime ist in die Ecke
gedrängt, seine Unterstützung nimmt rapide ab und es hat die politische
Legitimität vollständig verloren. Selbst Androhungen von Gewalt haben nicht
funktioniert.
taz: Es gibt Videos und Berichte, dass Schallwaffen zum Einsatz kamen.
Cvijić: Höchstwahrscheinlich wurde eine solche Waffe eingesetzt, und zwar
ausgerechnet während der Schweigeminute für die 15 Toten der Tragödie von
Novi Sad, die den Auslöser für die aktuellen Proteste darstellte. Die
Regierung bestreitet den Einsatz so einer Waffe, obwohl viele Beamte von
Vučićs Partei ihn zunächst bejubelt haben. Nur die Reaktion des
studentischen Sicherheitsdienstes verhinderte eine Massenpanik mit
möglichen Todesopfern.
taz: Schon 2023 wurde gegen eine Massenschießerei an einer Grundschule
demonstriert, Anfang 2024 gegen gefälschte Wahlen. Was ist diesmal anders?
Cvijić: Nach mehr als zehn Jahren eines vereinnahmten Staates ohne
unabhängige Institutionen, freie Wahlen und freie Medien reicht es den
Menschen. Der einzige Weg, Dissens zu äußern, besteht darin, auf die Straße
zu gehen. Wenn man die Geschichte Serbiens betrachtet, hat das serbische
Volk eine große Toleranz gegenüber autoritären Führern, aber wenn es vorbei
ist, ist es vorbei. Und jetzt ist es so weit.
taz: Präsident Vučić hat schon einige Zugeständnisse gemacht, nun tritt
auch Ministerpräsident Miloš Vučević zurück.
Cvijić: Vučević ist ein Feigenblattpremierminister, der durch fast jeden
anderen ersetzt werden könnte. Klar ist aber: Präsident Vučić kontrolliert
die Situation nicht mehr. Was er tut, ist, seine Macht zu verteidigen. Es
ist ein sehr gefährlicher Moment. Es bräuchte wahrscheinlich auch eine
Stimme aus dem Ausland, die Vučić mitteilt, dass er einen echten
institutionellen Dialog mit den Oppositionskräften beginnen muss. Es
braucht eine Übergangsregierung, die den Weg für faire und freie Wahlen
ebnet. Das ist der einzige friedliche Ausweg – sonst wird Vučić
letztendlich verlieren, was auch immer er tut.
taz: Wenn Sie von Druck von außen sprechen, meinen Sie die EU?
Cvijić: Ganz genau. Die EU müsste mit einer einzigen Stimme reagieren,
nicht nur ihr Erweiterungskommissar, auch wenn dieser sich zuletzt für
demokratische Grundrechte ausgesprochen hat. Auch die Führung von
Kommission und Rat sowie die Mitgliedsstaaten müssten der serbischen
Führung Vernunft einflößen.
taz: Welche Art von Druck könnte ausgeübt werden? Wären die brachliegenden
Beitrittsgespräche ein Hebel?
Cvijić: Das wäre eine Möglichkeit, aber die protestierende Bevölkerung
würde das nicht zufriedenstellen, weil die EU-Mitgliedschaft derzeit kein
Thema ist. Der Hebel müsste eher bei den transnationalen Abkommen mit
EU-Mitgliedstaaten ansetzen. Wenn diese wegfallen, wird klar, dass die
serbische Führung das Land nicht mehr kontrolliert. Letztendlich wird aber
keine externe Kraft die Situation lösen, sondern die Veränderung muss von
innen kommen.
taz: Wie könnten die Proteste weitergehen? Kann der Druck aufrechterhalten
werden?
Cvijić: Mittlerweile kann keine Kommunalversammlung in ganz Serbien mehr
ohne Polizeischutz abgehalten werden. Das Regime verfault von innen und hat
keinerlei politische Legitimität mehr. Der Wendepunkt ist überschritten,
diese Proteste werden nicht abflauen. Das Regime weiß das inzwischen und
wird versuchen, Gewalt einzusetzen.
20 Mar 2025
## AUTOREN
Florian Bayer
## TAGS
Serbien
Studentenproteste
Massenproteste
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