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# taz.de -- Studierendenproteste in Serbien: Wissen will Macht
> Die serbischen Studierendendemos stoßen im Land auf breite Zustimmung.
> Eine atmosphärische Spurensuche in Belgrad nach dem großen Protest vom
> 15. März.
Bild: Ursprung der Proteste in Serbien: Dacheinsturz am Bahnhof von Novi Sad im…
Das Café Di Trevi in der Resavska-Straße in Belgrad ist ein beliebtes Lokal
unter Studenten und Studentinnen, die in der Nähe wohnen. Es gibt dort den
billigsten Kaffee in der Nachbarschaft – und das Café di Trevi lag am 15.
März, dem Tag der großen Demonstration gegen das serbische Regime, im
Epizentrum, diente nicht wenigen als Zufluchtsort. Auf die Frage „Was nun?“
sagt die Studentin der Kunstakademie Irena, die ihren Nachnamen aus
Sicherheitsgründen nicht nennen will, schlicht: „Wir machen weiter.“
Irena sitzt im Café mit vier anderen Studierenden. Ob sie denn Angst
hätten? „Nö.“ Werden sie an weiteren Protesten teilnehmen?
„Selbstverständlich.“ Und was, wenn das serbische Regime nicht nachgibt,
Menschen, die Studenten angegriffen haben, nicht verurteilt werden? Sind
sie sich im Klaren darüber, dass das Regime unter Aleksandar Vučić auf
Gesetzlosigkeit, Machtmissbrauch, der Kontrolle der Justiz und der Polizei
beruht?
„Natürlich wissen wir, in was für einem Land wir leben. Deshalb blockieren
wir doch unsere Fakultät und demonstrieren seit Monaten“, sagt die
Kunststudentin Irena stellvertretend für die anderen vier. Alle nicken,
fast ein bisschen verärgert.
Die Studierenden werden weitermachen und unermüdlich „pumpen“ – ein
Begriff, der ihren Protest prägt. Und wenn sich am Ende doch nichts ändert?
„Dann hauen wir eben ab aus Serbien.
„Der Studentenprotest hat keine sichtbaren Anführer. In einem komplizierten
Prozess der Direktdemokratie treffen einzelne Unifakultäten mehrheitlich
alle Entscheidungen und koordinieren das mit anderen Fakultäten. Rede- und
Stimmrecht haben alle Studenten. Es klingt fast unmöglich, doch bis jetzt
hat diese Vorgehensweise funktioniert.
Die Studierenden haben in wenigen Monaten wohl mehr bewirkt als serbische
Oppositionsparteien in über einem Jahrzehnt. Als in Novi Sad vor einem
Monat aus den Parteiräumen der Regierungspartei SNS ein Schlägertrupp
Studenten angriff und einer aus dem Trupp einer Studentin den Kiefer brach,
trat Ministerpräsident Milos Vučević abrupt zurück. Der Protest sollte sich
nicht in ein Fegefeuer verwandeln. Doch erst jetzt, letzten Mittwoch, nahm
das Parlament formell seinen Rücktritt an.
Präsident Vučić aber gibt sich völlig unbeeindruckt von den täglichen
Protesten im ganzen Land. Das gilt auch für die gegen sein Machtsystem
gerichtete Großdemonstration vom 15. März. Vučić bezeichnet sie als
„Terror“ einer „aggressiven Minderheit“ gegen die „stille, anständige
Mehrheit“.
Am Dienstagabend sagte der Staatspräsident in einem seiner täglichen
Fernsehauftritte bräsig: „Ich schreibe Geschichte, indem ich mich Lügnern
und Hochstaplern widersetze, meine Worte wird man einmal studieren.“ Den
Aufruhr in Serbien bezeichnete er als einen „Aufstand der Reichen“ und der
„irregeführten Studenten“, deren Anführer von ausländischen Geheimdienst…
namentlich erwähnte er den deutschen Bundesnachrichtendienst, gesteuert
würden. Nur dank des „fantastischen Einsatzes“ der serbischen
Sicherheitskräfte sei ein geplantes Blutbad verhindert worden.
In einem sind sich hier die verfeindeten Pole der serbischen Gesellschaft
tatsächlich einig: Um ein Haar konnte eine gewalttätige Auseinandersetzung
mit unabsehbaren Folgen vermieden werden. Doch die Schuld für diese Gefahr,
die wird jeweils der anderen Seite zugewiesen. Die Studenten, als der
treibende Motor dieser antiautokratischen Rebellion, bestehen auf
gewaltlosen Widerstand, wollen eine „Revolution der Liebe gegen den Hass“.
Dem Staatspräsidenten ergebene Medien kreierten vor der Großdemo am 15.
März eine Angststimmung, sprachen vom „D-Day“, einem geplanten Staatsputsch
und gewalttätiger Machtübernahme. Schlägertrupps der Regierungspartei SNS
standen im Zentrum Belgrads erwiesenermaßen bereit und warteten auf das
Kommando, Chaos auszulösen. Der Befehl blieb aus. Der Grund dafür?
Er liegt vielleicht in den Worten eines Polizeiobersten, der anonym bleiben
wollte, doch dem Belgrader Magazin Vreme sagte: „Glaubt ihr wirklich, dass
ich Polizisten auf meine zwei Kinder, die Studenten sind, loslassen würde?
Sie nehmen an allen Protesten teil, von Belgrad über Novi Sad, Kragujevac,
Niš und jetzt wieder Belgrad.“ Im Falle eines Gewaltausbruches konnten sich
also am 15. März die serbischen Machthaber nicht sicher sein, auf wessen
Seite sich Sondereinheiten der Polizei stellen würden.
Die Lage hatte sich an dem Tag so zugespitzt, dass sich Veteranen der 63.
Fallschirmjägerbrigade in ihren erkennbaren Uniformen den Studierenden als
Sicherheitskräfte anboten. Für alle Fälle gerüstet standen sie vor dem
Staatsparlament. Dort war die große Kundgebung angesagt.
Unter dem Vorwand, dass dort „brave Studenten, die lernen wollen“, gegen
die Blockaden der Fakultäten protestieren würden, bauten „Kontrastudenten�…
die das Regime eingespannt hatte, vor dem Präsidentenpalast ein Camp mit
Dutzenden Zelten, das wie eine befestigte Militärbasis aussah: Ringsum eine
Doppelreihe herangefahrener Traktoren, dann ein Metallzaun. Dahinter, im
Dunkeln, die Gendarmerie, eine Sondereinheit der serbischen Polizei. Und
auf der anderen Seite, im Einsatz für die wirklich protestierenden
Studenten, kamen massenhaft Biker zur Demo – um „auf unsere Kinder
aufzupassen“.
Doch hauptsächlich sorgten die Studenten selbst für Ordnung. Tausende von
ihnen in gelben Westen passten auf, dass die gewaltige Menschenmasse in
Belgrad nicht außer Kontrolle geriet. Die Lage war angespannt, viele
schrieben auf die Haut ihrer Unterarme ihre Blutgruppe und die
Telefonnummer ihrer Eltern.
„Wir werden ausharren“, sagt in der Redaktion des Wochenmagazins [1][Vreme]
die 24-jährige Milica Srejić. Die Politikwissenschaftsstudentin im
Abschlussjahr arbeitet dort zurzeit als Praktikantin, genauso wie die
22-jährige Politikwissenschaftsstudentin Milica Tošić. „Etwas anderes als
Ausharren kommt gar nicht infrage“, sagt Srejić. „Wir haben jetzt schon
vier Monate unsere Fakultät blockiert, wir haben praktisch das ganze
Semester geopfert!“
Und immer noch, nach allem, was passiert sei, seien ihre Forderungen nicht
erfüllt worden. „Wenn wir jetzt aufgeben, werfen wir alles ins Wasser, was
wir getan und geopfert haben.“ Die Studentin erwartet „noch mehr
Blitzaktionen“ aus ihren Reihen. Die Unterstützung, die sie hätten, werde
immer größer, vor allem in der serbischen Provinz. „Das gibt uns noch mehr
Kraft, weil wir sehen, dass wir bei vielen Menschen Hoffnung und Willen
erweckt haben, mit uns im Kampf für Gerechtigkeit auszuharren“, sagt Milica
Srejić lebhaft.
Sie hebt im Gespräch auch „Solidarität“ hervor – etwas, das in Serbien …
lange eingeschläfert gewesen sei. „Und jetzt sind plötzlich so viele
Menschen solidarisch mit anderen Menschen in Not, jetzt sind wir plötzlich
alle füreinander da. Und das scheint unwiderruflich zu sein.“
Ihre Kollegin bei Vreme, Milica Tošić, war am 15. März Zeugin des noch
immer nicht ganz geklärten Ereignisses, bei dem wohl eine sogenannte
Schallkanone vom serbischen Regime eingesetzt wurde. In der Belgrader
Kralja-Milana-Straße standen Tausende Demonstranten, um still der Opfer aus
Novi Sad zu gedenken. Ohne jeglichen sichtbaren Grund gerieten diese
Menschen plötzlich um 19.11 Uhr in nackte Panik und flüchteten auf die
Bürgersteige.
Es sah auf Videos aus, als ob eine unsichtbare Macht sich einen Weg durch
die Masse bohrte. Am Tag danach berichteten Medien, das Regime habe gegen
friedlich demonstrierende Bürger eine in Serbien verbotene Schallkanone
eingesetzt. Bald bestätigten serbische und internationale Soundexperten
nach Analyse der mit Smartphones gemachten Aufnahmen, dass tatsächlich so
eine Waffe im Einsatz gewesen war. Eine Waffe, die die serbische Polizei
[2][laut einer Recherche des Balkan Insight Research Networks] bereits im
November 2023 gegen Geflüchtete in der Vorstadt der serbischen Stadt Sombor
verwendete.
Hunderte Bürger meldeten sich in Belgrad letztes Wochenende in Notaufnahmen
mit denselben Symptomen: Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerzen,
Hörprobleme. [3][CRTA, eine NGO,] rief alle Bürger auf, die in der
Kralja-Milana-Straße zur Demo waren und gesundheitliche Folgen spürten,
sich an sie zu wenden. Tausende meldeten sich.
Staatspräsident Vučić bestritt zunächst alles, drohte mit Haftstrafen
diesen „Lügnern“, die nur Panik schürten. Innenminister Ivica Dačić
leugnete zuerst, dass Serbien eine Schallwaffe besitze. Dann aber gab er
zu, dass die Polizei doch über einige dieser Geräte verfüge, sie aber
„unverpackt in Kisten stehen“. Nur um wenig später zuzugeben, dass vor dem
Parlament so ein Soundgerät auf einem Polizeiauto bereitstünde.
Es blieb ihm nichts anderes übrig – in sozialen Netzwerken tauchte ein Foto
mit dem Gerät auf. Aber nicht, um als Schallwaffe eingesetzt zu werden, was
ja verboten wäre, beteuerte Dačić – sondern als „Warnsystem“. „Das i…
nur ein etwas stärkeres Megafon“, sagte der Innenminister. Experten
dementierten dies sofort.
„In der totalen Stille“, berichtet Milica Tošić, „glaubte ich plötzlic…
ein Auto rase auf uns zu, so als ob jemand richtig Gas geben, als ob Reifen
quietschen würden. Ich stand auf einem Bürgersteig, mit dem Rücken zur
Wand, und sah, wie Menschen auf einmal massenhaft von der Straße links und
rechts auf den Bürgersteig springen, vor irgendeiner Gefahr weglaufen. Ich
sah, wie sie Panik packte“, erzählt die Studentin noch immer bewegt. Es
habe nur wenige Sekunden gedauert. „Als dieses eigenartige Geräusch vorbei
war, gingen viele in die Richtung, aus der es gekommen war, und fluchten.
Als ob sie nach einem wilden Autofahrer suchen würden.“
Gesundheitlich geht es Tošić gut, wahrscheinlich war sie der Schallkanone
nicht direkt ausgesetzt. Angst habe sie nicht. „Die Stimmung war sonst
unglaublich. So viel Freude, Lebenslust und Toleranz in dieser enormen
Menschenmasse.“
Das zeugt auch von der Bereitschaft der Studierenden, trotz aller Drohungen
des Regimes, einzelner Übergriffe und alltäglicher Hetzjagd, bis zum Ende
zu gehen. Sie wollen keinen Machtwechsel, sondern eine Änderung des
politischen Systems. Idealistisch, naiv, jugendhaft? Mag alles sein. Aber
die Studierenden sind derzeit die mit Abstand stärkste politische Kraft in
Serbien.
Denn auch wenn Präsident Vučić vom Ende der „Farbrevolution“ tönt, ist …
Ausgang der Revolte noch lange nicht abzusehen. Zumal die serbische
„Studentenrevolution“ nichts gemein hat mit sogenannten „Farbrevolutionen…
in ehemalige Staaten der UdSSR. Der autochthone serbische Studentenprotest
findet eben nicht dank des Westens, sondern trotz des Westens statt. Der
unterstützt wegen der Stabilität auf dem Westbalkan im Großen und Ganzen
den serbischen Autokraten und ist bereit, auf demokratische Standards beim
EU-Beitrittskandidaten Serbien zu verzichten.
Die Europäische Union ist derzeit aber gar kein Thema bei den
Studentenprotesten. Kein Wunder, denn die EU hat die bürgerlichen,
proeuropäischen Kräfte in Serbien vor langer Zeit in Stich gelassen.
„Die EU? Klar, schön wär’s, wenn Serbien Mitglied wäre. Aber in unserem
Kampf für ein normales Land steht die mit ihrem Nichtstun auf der anderen
Seite der Front, bei Vučić und seinen Komplizen“, sagt zum Beispiel im
Demogetümmel die 20-jährige Jurastudentin Sofija. Und auch mit den
oppositionellen politischen Parteien in Serbien wollten die Studierenden
bis jetzt dezidiert nichts zu tun haben. Diese Parteien sind
marginalisiert, dauernden Attacken des Regimes ausgesetzt, haben keine
Autorität in der Bevölkerung. Sie haben seit Vučić 2012 an die Macht kam,
nichts Demokratieförderndes auf die Reihe bekommen.
Abgeordnete der SNS haben derzeit die absolute Mehrheit im Parlament, auch
ohne Koalitionspartner, und könnten eine neue Regierung wählen. Wenn sie
das bis zum 18. April nicht tun, gibt es Anfang Juni Neuwahlen. Auch
darüber wird der Staatspräsident und informeller Anführer der SNS
entscheiden.
Die sonst verzankten Oppositionsparteien sind sich in einer Sache einig:
Wahlen unter den jetzigen Bedingungen wollen sie boykottieren. Sie fordern
eine Übergangsregierung, die die Voraussetzungen für faire und freie Wahlen
schaffen soll.
## Wahlen wären derzeit aus Sicht der Opposition sinnlos
Denn mit aktuell gleichgeschalteten Medien, mit vom Staatspräsidenten
kontrollierten Wahlkommissionen, einer gehorsamen Staatsanwaltschaft und
mit maßlosem Missbrauch staatlicher Ressourcen zu Zwecken der SNS, haben
Wahlen aus Sicht der Opposition jeglichen Sinn verloren.
Um ohnmächtig sich dennoch sichtbar zu machen, haben jüngst einige
oppositionelle Abgeordnete mit Rauchbomben Chaos bei einer
Parlamentssitzung ausgelöst. Seitdem boykottieren die Oppositionsparteien
das Parlament. Die jüngste Meinungsumfrage der Organisation NSPM zeigt
jetzt, dass zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt auf Landesebene die
Opposition besser dasteht als das Konglomerat regierender Parteien um
Präsident Vučić – mit 41 zu 33 Prozent.
Doch nur die Studierendenbewegung hat wohl die Kraft, das serbische Regime
ernsthaft unter Druck zu setzen. Die jungen Menschen marschierten in den
vergangenen Monaten zu Fuß durch ganz Serbien, brachten die Bevölkerung
buchstäblich auf die Beine. Wo immer sie auftauchten, lösten sie heftige
Emotionen bei den Menschen aus.
Man empfang sie oft wie Befreier, mit Tränen in den Augen. Ihre lachenden,
strahlenden Gesichter stehen im krassen Widerspruch zu den stets finsteren
Mienen von Vučić und seinen Mannen mit ihrer ungezügelten Arroganz.
Auf der Hand liegt es allerdings, dass die staatliche Repression in Serbien
derzeit noch stärker werden wird. Vučić könnte sich ein Beispiel an seinem
weißrussischen Freund Alexander Lukaschenko nehmen. Die Studierenden
scheint das nicht zu beeindrucken. Weitere Protestaktionen sind angesagt.
20 Mar 2025
## LINKS
[1] https://vreme.com/de/
[2] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20250320_OTS0008/serbische-polizei-…
[3] https://crta.rs/en/
## AUTOREN
Andrej Ivanji
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von Präsident Vučić. Der versucht alles, um sie zu diskreditieren.
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