# taz.de -- Mafia-Kronzeuge im Film „Il Traditore“: Der Gerichtssaal wird z… | |
> Der Film „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ kommt i… | |
> Kino. Regisseur Marco Bellocchio widmet ihn dem Mafioso Tommaso Buscetta. | |
Bild: Richter Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi, links) befragt Tommaso Busc… | |
Am 4. September 1980 kommt es auf dem Anwesen eines Oberhaupts der | |
palermitanischen Mafia am Rande der Feierlichkeiten für die Schutzpatronin | |
Palermos zu einem Treffen. Oberhäupter der etablierten Mafiafamilien der | |
Stadt wollen mit Vertretern des aufstrebenden Clans der Corleonesi unter | |
ihrem Oberhaupt Totò Riina ein Abkommen aushandeln, um den Drogenhandel | |
klar aufzuteilen und so einen neuen Mafiakrieg zu vermeiden. Einer der | |
Teilnehmer der Feier ist Tommaso Buscetta (geerdet: Pierfranceso Favino). | |
Nur vier Jahre später ist Buscetta Kronzeuge der Anti-Mafia-Ermittlungen | |
von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino und hilft den beiden | |
Ermittlungsrichtern und ihren Mitarbeitern, den Aufbau der Cosa Nostra, der | |
sizilianischen Mafia, zu verstehen. In seinem neusten [1][Film „Il | |
Traditore“] erzählt der italienische [2][Regisseur Marco Bellocchio] die | |
Geschichte der Anti-Mafia-Ermittlungen der 1980er und 1990er Jahre aus der | |
Perspektive Buscettas. | |
Zu Beginn des Films streift Buscetta als eingeweihter Externer über das | |
Fest. Er ist kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden. Anfang der | |
1970er Jahre war er von der Polizei in Brasilien verhaftet und nach Italien | |
verfrachtet worden. Bellocchio zeigt Buscetta auf dem Absprung. Er | |
misstraut dem Abkommen mit den Corleonesi, will Sicherheitsabstand und | |
zurück zu dem Netzwerk des Drogenhandels, das er in Brasilien aufgebaut | |
hat. | |
Wenige Monate nachdem Buscetta zurück ist in Brasilien, bricht der | |
befürchtete Mafiakrieg los. Riina lässt systematisch all jene | |
Mafiafamilien, die sich ihm nicht angeschlossen haben, ermorden, löscht | |
ganze Familien aus. Bellocchio zeigt dieses Morden mit einem Zähler für all | |
die Toten. | |
Während daheim in Palermo das Morden tobt, treibt Buscetta im Brasilien der | |
Militärdiktatur mit der Hilfe korrupter Politiker den Drogenhandel voran. | |
Anders als viele seiner Mitstreiter hat Buscetta früh erkannt, dass die | |
Macht der Corleonesi bereits zu groß ist, um sie noch bekämpfen zu können. | |
Als ihn die brasilianische Polizei ein gutes Jahr später verhaftet, ist | |
plötzlich alles anders. | |
## Auslieferung nach Italien | |
Buscetta landet im Gefängnis, wird gefoltert, muss vom Helikopter aus | |
mitansehen, wie die Folterer drohen, seine Frau ins Meer zu werfen. Dann | |
schließlich die Auslieferung nach Italien. In der Realität war Falcone nach | |
Brasilien zu Buscetta ins Gefängnis gereist, um auszuloten, ob Buscetta | |
reden würde. Bei Bellocchio treffen die beiden erst in Rom zusammen. | |
Diese legitime Freiheit der Erzählung verweist dennoch auf einen ersten | |
Schwachpunkt von Bellocchios Film. Die komplexe Geschichte, die zahlreichen | |
Namen von Angehörigen der Cosa Nostra und wohl auch die Ehrfurcht vor den | |
Anti-Mafia-Ermittlern, von denen nicht wenige mit dem Leben bezahlt haben, | |
haben „Il Traditore“ einen gehörigen Ballast mitgegeben. | |
Dass Bellocchio an einigen Stellen originale Fernsehaufnahmen in den Film | |
und teils wörtliche Zitate aus den Vernehmungen Buscettas einbaut, stärkt | |
die reinszenierende Seite des Films. Zugleich gibt es jedoch auch den | |
Versuch, die Ereignisse aus Buscettas Perspektive zu zeigen. Buscettas | |
Werdegang wird in Rückblenden mit flüssigen Übergängen aus der Gegenwart | |
erzählt, und doch wird er als Figur nicht ganz greifbar. | |
Im Interview mit einer italienischen Filmonlinezeitschrift kommentiert | |
Bellocchio: „Mich hat die Geschichte fasziniert, nicht er persönlich. Ich | |
gehöre einer anderen Kultur an, einer anderen Gesellschaft. Buscetta ist | |
ein ziemlich ungebildeter Mensch, aber zugleich sehr intelligent. Seine | |
Fähigkeit, Zusammenhänge unmittelbar zu erkennen, ist bemerkenswert.“ „Il | |
Traditore“ schwächelt darin, sich nicht zwischen Geschichtskino und der | |
subjektiven Geschichte Buscettas entscheiden zu können. | |
## Den Aufbau der Cosa Nostra verstehen | |
In Rom angekommen, entwickelt sich eine Reihe von Gesprächen zwischen | |
Falcone und Buscetta, die den Ermittlern helfen, Struktur und internen | |
Aufbau der Cosa Nostra besser zu verstehen. Die von Falcone akribisch | |
vorbereiteten Gespräche, die Buscetta wiederum bisweilen wie Vorlesungen | |
bestritt, wirken in dem Film arg spontan und bleiben recht blutleer. | |
Andererseits vermeidet Bellocchio durchaus geschickt jede | |
Falcone-Hagiografie, reduziert den Ermittlungsrichter konsequent zur | |
Nebenfigur. Dabei lässt er sich jedoch auch die Chance entgehen, die | |
Selbstinszenierung Buscettas stärker herauszuarbeiten. Diese lässt er | |
später anklingen, wenn sich Buscetta bei einem edlen Herrenausstatter für | |
seinen Auftritt beim ersten „Maxiprozess“ gegen eine Unzahl von Anführern | |
der Cosa Nostra ausstaffieren lässt. | |
Die Prozesse, die Kulminationspunkte der Ermittlungen der | |
Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft waren, sind ein großes Theaterspektakel | |
innerhalb des Films. Der Gerichtssaal mit Zellen für die Angeklagten und | |
die Heerscharen von Anwälten in der Mitte des Raums orientiert sich an den | |
berühmten Aufnahmen des Prozesses und stärkt gegenüber diesen doch noch | |
einmal das Bühnenhafte des Raums insgesamt und seiner Teilräume. | |
Die Mafiabosse veranstalten ein beachtliches Chaos in ihren Zellen und | |
leben ihre Marotten ungehemmt aus, die Anwälte pflegen ihre Eitelkeiten, | |
und die Richter versuchen inmitten des Chaos Zeugenbefragungen | |
durchzuführen. Der Film reduziert die Szenen vor Gericht geschickt auf das | |
Zusammentreffen mit zwei zentralen Widersachern Buscettas: seinem | |
ehemaligen Wegbegleiter Pippo Calò und später der Konfrontation mit Totò | |
Riina. | |
Kurz nach seinem letzten Auftritt beim Maxiprozess folgt Buscetta seiner | |
Frau und seinen Kindern in die USA, wo die Familie unter Zeugenschutz lebt. | |
Buscetta kehrt nur noch für Aussagen vor Gericht nach Italien zurück. | |
## Populäres politisches Kino | |
Marco Bellocchio begann in den 1960er Jahren als Regisseur mit dem | |
Jugendrebellions-Drama „I pugni in tasca“ (Mit der Faust in der Tasche), | |
realisierte eine Reihe von politischen Dokumentarfilmen mit nicht selten | |
maoistischen Anklängen. Seit den 1970er Jahren arbeitet Bellocchio | |
beharrlich daran, politische Themen in populärer Form zu zeigen, ohne | |
unterkomplex zu werden. | |
Diese reichen von seiner Auseinandersetzung mit dem Wehrdienst in „Marcia | |
trionfale“ (1976) über eine Reihe von Historienfilmen wie der | |
Pirandello-Verfilmung „Enrico IV“ ([3][Heinrich IV.]) oder der | |
Kleist-Verfilmung „Der Prinz von Homburg“ (1984) bis zu den Roten Brigaden | |
in „Buongiorno, notte“ (2003) und dem italienischen Faschismus in „Vincer… | |
(2009). Seit den letzten beiden arbeitet Bellocchio sehr kontinuierlich. | |
Auch „Il Traditore“ greift ein zentrales Stück italienischer Zeitgeschichte | |
auf. Indem dieser, anders als die meisten anderen Filme über die | |
Anti-Mafia-Ermittlungen der 1980er Jahre, Buscetta ins Zentrum stellt, | |
ergibt sich eine interessante neue Perspektive. Dennoch bewegt sich der | |
Film in recht bewährten Bahnen. | |
So ist „Il Traditore“ ein unterhaltsames, lehrreiches Stück filmischer | |
Auseinandersetzung mit der italienischen Zeitgeschichte. Aber man möchte | |
der jüngeren Generation italienischer Filmemacher_innen und vor allem den | |
italienischen Produzent_innen danach auch zurufen: Mehr Mut! Dann geht | |
da noch einiges. | |
14 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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