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# taz.de -- Gedenken an Anti-Mafia-Aktivist Sciascia: Der, der das Schweigen br…
> Heute vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Leonardo Sciascia geboren.
> Zwei Aktivisten erzählen, was Sciascia ihnen bedeutet.
Bild: Porträt von Leonardo Sciascia aus dem Jahr 1978
Der Unerlöste
Im Herbst 2016 sollte ich an der Universität München einen Vortrag über
Mafia und Literatur halten. In der Vorbereitung darauf wurde mir zum ersten
Mal klar, wie marginal die Rolle der Mafia in der italienischen Literatur
ist im Vergleich zum Einfluss, den sie auf die italienische Gesellschaft
ausübt – und zwar seit über 150 Jahren. Noch bedrückender war die
Feststellung, dass es eben die Literatur Siziliens, der Geburtsstätte der
Mafia, war, die die bedeutendsten Werke zur modernen Literatur Italiens
beigetragen hatte, mit Autoren wie Giovanni Verga, Luigi Pirandello,
Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Andrea Camilleri und eben Leonardo Sciascia.
Wie war es möglich, fragte ich mich, [1][dass in diesen Werken so wenig von
der Mafia die Rede war?] Wie wäre es etwa, wenn der Faschismus vergleichbar
wenige literarische Spuren hinterlassen hätte? Es ist paradox: Die
sizilianischen liberalen Eliten waren so angezogen vom Kosmopolitismus der
Weltstädte Rom, London, Paris und Mailand, dass sie sich keinesfalls mit
einem ‚provinziellen‘ Phänomen wie der Mafia abgeben wollten.
Vom äußersten Rand Europas aus wollten sie über die gleichen Themen
sprechen wie alle auf dem Kontinent; und eben gerade nicht über ein Übel,
das es so nur in Sizilien gab und das doch, so die verbreitete Hoffnung,
ohnehin im Aussterben begriffen war.
Die sizilianischen Intellektuellen also wollten modern sein; und indem sie
die Augen verschlossen vor dem, was sich unmittelbar vor diesen abspielte,
verpassten sie die Gelegenheit, es auch tatsächlich zu werden. Sie hätten
die Avantgarde sein können für die Schilderungen der Ereignisse, der Helden
und der Schlächter, die schon bald die gesamte italienische Gesellschaft
herausfordern und in Schrecken versetzen würden.
## Omertà als Massenphänomen
Erst nach diesen Überlegungen wurde mir die Bedeutung von Leonardo Sciascia
wirklich bewusst: Er, ein Grundschullehrer aus Racalmuto, einer Kleinstadt
bei Agrigent, hätte sich doch als der provinziellste Mensch überhaupt
fühlen müssen. Stattdessen schrieb er 1961, als 40-Jähriger, mit „Der Tag
der Eule“ einen internationalen Bestseller über die Mafia in seiner Heimat.
Gerade indem Sciascia die Mafia in den Mittelpunkt des Geschehens stellte,
zeigte er sich der Moderne gewachsen. „Der Tag der Eule“ wurde zum einzig
verfügbaren literarischen Bezugspunkt der sich Ende der 1970er Jahre in
Palermo neu formierenden Anti-Mafia-Bewegung von jungen Intellektuellen.
Der Roman hat Epoche gemacht, weil er das Schweigen über die Mafia bricht,
eben indem er die Omertà als Massenphänomen zeigt.
Den Wandel der Mafia von der Verwurzelung in der bäuerlichen Welt hin zum
Big Business der Konsumgesellschaft analysiert der Roman mit einer
Präzision, wie man sie aktuell in Prozessakten zu den Aktivitäten der
’Ndrangheta wiederfinden kann. Der Boss, Don Arena, zeigt seine Macht
vollkommen offen, an der Strategie, Mafiagegner und Zeugen zu verleumden,
hat sich nichts geändert. Dazu kommt das fortgesetzte Interesse der
Politik, die auf die von der Mafia gelieferten Stimmenpakete nicht
verzichten will.
Seine Erkenntnisse über die tödlich-moderne Energie der Organisierten
Kriminalität brachte Sciascia schließlich auf die Formel, die mafiöse
„Linie der Palme“ werde jedes Jahr 500 Meter weiter nach Norden wandern:
[2][eine Entwicklung, die auch durch die Alpen nicht gestoppt werden
konnte.]
## Moralische Instanz
Als Schriftsteller hat Sciascia sich nach „Der Tag der Eule“ weiter mit der
Mafia beschäftigt; aber er wurde gleichzeitig zu einer moralischen Instanz
für das ganze Land. Sciascia klagte die dunklen Geheimnisse einer Politik
an, die dem Ansehen der Institutionen schweren Schaden zufügten. Dabei,
sagen auch Freunde wie der Schriftsteller Erri de Luca, verlor er als
Autor, [3][was er als Person des öffentlichen Lebens, als Politiker]
gewann. Sein radikaler Antikonformismus machte ihn nicht unbedingt
hellsichtiger für das, was wirklich zählt.
In Erinnerung geblieben ist hier vor allem seine Polemik gegen die
Anti-Mafia-Bewegung, mit dem Vorwurf, deren Protagonisten engagierten sich
aus opportunistischen Motiven. Den Ermittler Paolo Borsellino zählte
Sciascia in seinem berüchtigten Artikel „I professionisti dell’
antimafia“ vom 10. Januar 1987 im Corriere della Sera in diesem
Zusammenhang unter die Karrieristen.
Eine grauenhafte Prophezeiung: Fünf Jahre später wurde Borsellino von der
Mafia in die Luft gesprengt, in einem der schlimmsten Attentate der
italienischen Geschichte. Den jungen, linken Aktivist:innen, die sich in
Palermo gegen die Mafia engagierten, warf Sciascia vor, nicht zu verstehen,
dass die Stadt „unerlösbar“ sei, auf ewig mit dem Organisierten Verbrechen
verknüpft, mit genau demselben Wort, das schon Tomasi di Lampedusa in
seinem Welterfolg „Der Leopard“ für ganz Sizilien verwendet hatte.
„Unerlösbar“: ein Wort, das Veränderung ausschließt. Dieser Widerspruch
zwischen radikaler Aufklärung und absoluter Hoffnungslosigkeit bleibt in
Sciascia unauflösbar – bis heute.
Von Nando dalla Chiesa
Wenn Korruption und Zynismus regieren
Kalabrien ist eine jener süditalienischen Regionen, die als „terre di
mafia“ bezeichnet werden. Ich bin dort geboren. Ich wuchs auf, während um
mich herum die Mafia ihre Kriege führte. Ich habe viele Ermordete gesehen,
von Autobomben zerfetzte Körper, Unschuldige, getötet, weil sie zur
falschen Zeit am falschen Ort waren.
Ich habe viele Verhaftete gesehen, Männer und Frauen, Kriminelle,
Staatsanwälte, Polizisten. Ich habe einen Teil meines Berufslebens in
Gegenden verbracht, die nicht weniger berüchtigt sind für die Präsenz der
Organisierten Kriminalität, die dort über Armeen verfügt, die größer sind
als die mancher Staaten. Ich weiß, wie schwierig es ist, über die Mafias zu
sprechen.
Aber ich weiß auch, dass die größte Gefahr ist, nicht über sie zu sprechen.
Wie aber kann dieses Sprechen gelingen? Wie kann man einfach und
verständlich ein sehr komplexes Phänomen beschreiben, ohne zu lügen? Wie es
den heute Heranwachsenden erklären?
Leonardo Sciascia hat ins Zentrum seiner Darstellung die Ideale und die
Hoffnungen alltäglicher Menschen gestellt. In seinem Roman „Ein einfacher
Fall“ („Una storia semplice“, 1989) schreibt er über das Umfeld, in dem …
Mafia überhaupt herrschen kann, ohne sie dabei je beim Namen zu nennen:
Bürokraten, die nicht ihre Pflicht tun, eine kaputte, karrieristische
Justiz, die bei den Bürgern das Misstrauen in die Institutionen nährt.
So werden die Ideale zerstört, niemand hat mehr Vertrauen in den Staat,
niemand fühlt sich moralisch verpflichtet, selbst mit gutem Beispiel
voranzugehen. Korruption und Zynismus regieren, [4][es entsteht eine
Grauzone, ein Herrschaftssystem, das über die mafiöse Dimension
hinausgeht,] weil ihm auch jene Personen angehören, [5][die von Amts wegen
die Kriminalität bekämpfen sollten.] Indem er sein zeitgenössisches
Sizilien beschreibt, hat Sciascia die Welt von heute beschrieben, in der
jeder in das Getriebe absurder Machtspielchen geraten kann. Das Einzige,
was einen rettet, ist, die Wahrheit auszusprechen: Denn erzählen bedeutet,
dem Leben seinen Sinn zurückzugeben.
## Helden ohne Scheinwerferlicht
Hoffnung lässt die Menschen träumen, auch wenn sie wach sind, soll
Aristoteles gesagt haben. Eben diese Wachträumenden sind die namenlosen
Männer und Frauen, die vom im italienischen Süden herrschenden kriminellen
System in den Tod oder ins Exil geschickt wurden. Sie sind es, die die
Geschichte der Anti-Mafia-Bewegung in Italien ausmachen.
Aber von ihnen ist wenig die Rede. Es sind Richter:innen und
Staatsanwält:innen, die ihre Arbeit machen, ohne das Scheinwerferlicht der
Medien zu suchen, und die ohne Heldenrhetorik auskommen; es sind
Journalist:innen, die sich nicht den perversen Regeln der medialen
Aufmerksamkeitsmaschine unterwerfen; es sind Lehrkräfte, die sich für ein
Erwachen der Zivilgesellschaft in Süditalien einsetzen; es sind
Bürger:innen, die den Mut [6][haben, als ehrenamtliche Richter] in
Mafiaprozessen aufzutreten, während manch professionelle Richter sich ihrer
Pflicht entziehen; es sind Pfarrer:innen, Sozialarbeiter:innen,
Gewerkschaftsleute, Schriftsteller:innen, die nicht jeden Tag in der
Zeitung stehen oder, wahrscheinlicher, noch nie in einer standen.
All das sind Unsichtbare; und sie sind es, weil zu viele Menschen im
italienischen Süden, aber auch weit darüber hinaus, sich schlicht weigern,
sie zu sehen: Weil die bloße Existenz der Unsichtbaren die Feigheit und
Verkommenheit des eigenen Lebens ins Licht rückt. Sciascia war ein Freund
dieser Unsichtbaren, und sein Erbe gehört ihnen und allen, die nicht
aufhören, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzustehen.
Von Claudio La Camera
Beide Texte wurden aus dem Italienischen übersetzt von Ambros Waibel
8 Jan 2021
## LINKS
[1] /Kolumne-Der-Rote-Faden/!5030266
[2] /Organisierte-Kriminalitaet/!5409606
[3] /!1790347/
[4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5364216
[5] /Selbstverwaltung-der-Justiz-am-Ende/!5691100
[6] /Mafia-Kronzeuge-im-Film-Il-Traditore/!5702271
## AUTOREN
Nando dalla Chiesa
Claudio La Camera
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