| # taz.de -- Löhne und Wirtschaftswachstum: Mythos namens Lohn-Preis-Spirale | |
| > Lassen steigende Löhne Unternehmen pleitegehen? Im Gegenteil! Das | |
| > deutsche Wirtschaftsmodell beruht auf gut bezahlter Arbeit. | |
| Bild: Tag der Arbeit 2022 in Berlin: für einen fairen Lohn, Solidarität und g… | |
| Das Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale ist in aller Munde. Überzogene | |
| Lohnforderungen der Beschäftigten, so die Befürchtung, könnten Unternehmen | |
| auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was zu einer schädlich | |
| hohen [1][Inflation] und im Extremfall sogar zu einer anhaltenden | |
| Stagflation (eine hohe Inflation bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe. | |
| Was ist dran an diesem Mythos? Ein nüchterner Blick auf die derzeitige | |
| Realität zeigt eher das gegenteilige Bild: Die Lohnentwicklung ist | |
| schwach, die Inflation wird von den Unternehmen und durch importierte | |
| Energie getrieben. Somit würde auch die konzertierte Aktion der | |
| Bundesregierung scheitern, wenn es ihr primäres Ziel wäre, Beschäftigte zu | |
| Lohnverzicht zu drängen. | |
| Eine [2][Lohn-Preis-Spirale] kann unter zwei Voraussetzungen entstehen: Zum | |
| einen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften so große Macht in den | |
| Verhandlungen mit den Arbeitgeber*innen haben, dass sie Löhne und | |
| Arbeitsbedingungen praktisch diktieren können. Die zweite Bedingung: | |
| Beschäftigte und Gewerkschaften orientieren sich bei ihren heutigen | |
| Lohnforderungen an der Inflation von gestern und nicht an einer für die | |
| Zukunft realistischen Inflationsrate. Wenn beide Bedingungen zutreffen, | |
| dann können Lohnerhöhungen die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit der | |
| Unternehmen übersteigen, sodass diese die höheren Lohnkosten in Form | |
| gestiegener Preise an die Konsument*innen weitergeben. | |
| Das wiederum könnte die [3][Lohnerhöhungen] weiter befeuern und zu einer | |
| exzessiven Inflation führen. Ein solches Koordinationsproblem zwischen | |
| Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen kann dann meist nur die | |
| Zentralbank brechen, die mit einer massiven Zinserhöhung die Wirtschaft in | |
| eine Rezession zwingt, mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wie | |
| Unternehmenspleiten und hoher Arbeitslosigkeit. | |
| ## Vielmehr eine Preis-Preis-Spirale | |
| Nie jedoch waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in | |
| Deutschland in den letzten 70 Jahren weniger gegeben als heute. Die realen | |
| Löhne und damit die Kaufkraft der Einkommen dürften mit durchschnittlichen | |
| Lohnerhöhungen von 4 bis 5 Prozent und einer Inflation von über 7 Prozent | |
| in diesem Jahr deutlich sinken. Vieles spricht dafür, dass die | |
| Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist. Denn einige große | |
| Unternehmen in Deutschland fahren hohe Gewinne ein und schütten Dividenden | |
| aus. | |
| Das Wachstum der Produktivität ist weiterhin robust und der Anstieg der | |
| Lohnstückkosten eher moderat. Es scheint also, dass zumindest in manchen | |
| Branchen die Unternehmen das größte Stück des Kuchens für sich beanspruchen | |
| und ihre Beschäftigen zum Verzicht drängen. | |
| Somit ist die Lohn-Preis-Spirale nicht mehr als ein Mythos. Mit einem | |
| moralischen Unterton, der implizit Beschäftigten und Gewerkschaften die | |
| Verantwortung für die hohe Inflation gibt. Was heute existiert, ist | |
| vielmehr eine Preis-Preis-Spirale, bei der sich die über die Energiekosten | |
| importierte Inflation und von Unternehmen bestimmte Konsumentenpreise | |
| gegenseitig verstärken. Wenn überhaupt, dann könnte in Zukunft eine | |
| Preis-Lohn-Spirale entstehen, wenn denn die Löhne so stark steigen sollten, | |
| dass sie die Inflation der Konsumentenpreise übertreffen. | |
| Nun befürchten Kritiker*innen, die Gewerkschaften könnten den Bogen in den | |
| kommenden Jahren überspannen. Aber dies ist eher unwahrscheinlich, auch | |
| weil die Macht der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich | |
| abgenommen hat. Weniger als die Hälfte aller Beschäftigten sind heute über | |
| Tarifverträge abgedeckt. Zudem haben Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise | |
| der 2000er Jahre und nach der globalen Finanzkrise 2008 durchaus bewiesen, | |
| dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung von Krisen zu leisten bereit sind. | |
| Lohnerhöhungen können aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht zu stark, aber | |
| auch zu schwach sein. Denn je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto höher | |
| ist auch der Schaden für die Wirtschaft. Umgekehrt können zu starke | |
| Lohnerhöhungen zu Beschäftigungsverlusten und Arbeitslosigkeit führen. Dies | |
| zeigt, dass langfristig die Interessen der Arbeitgeber*innen und | |
| Arbeitnehmer*innen nicht gegeneinander stehen können. | |
| Der zentrale, häufig jedoch vergessene Punkt ist ein anderer: Hohe Löhne | |
| und unternehmerischer Erfolg bedingen einander. Die erfolgreichsten | |
| deutschen Unternehmen sind solche, die mit die höchsten Löhne und besten | |
| Arbeitsbedingungen in Deutschland und weltweit anbieten. Die hohe | |
| Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der globalen Wirtschaft ist | |
| in den allermeisten Fällen nicht durch geringe Löhne und niedrige Preise | |
| erklärt, sondern durch hohe Produktivität und exzellente Qualität von | |
| Produkten „made in Germany“. | |
| Dies ist nur deshalb möglich, weil die Beschäftigten der deutschen | |
| Unternehmen hoch produktiv und motiviert sind. Nicht nur führt höhere | |
| Produktivität zu guten Löhnen, die Kausalität funktioniert eben auch in die | |
| entgegengesetzte Richtung. Hohe Löhne sind alles andere als hinderlich für | |
| das Wirtschaftsmodell Deutschlands – sie sind eine seiner Grundlagen. | |
| Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der | |
| sozialen Marktwirtschaft. Die Kosten von Pandemie, Krieg und Inflation | |
| sollten vor allem von den stärksten Schultern getragen werden. Die | |
| Bundesregierung sollte sich aus den Lohnverhandlungen heraushalten und nur | |
| anmahnen, dass Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen | |
| differenziert nach Branche und nach finanziellem Spielraum auf Augenhöhe | |
| miteinander verhandeln. Und sie sollte ein Paket von Zukunftsinvestitionen | |
| als ihren Beitrag zur konzertierten Aktion beschließen, um das | |
| Wirtschaftspotenzial in den kommenden Jahren zu erhöhen, den Druck auf die | |
| Inflation zu reduzieren und mehr Wachstum und Einkommen zu generieren. | |
| 12 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marcel Fratzscher | |
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