# taz.de -- Lenins Heimfahrt per Zug aus der Schweiz: Der Revolutionär soll Ch… | |
> Vor 100 Jahren half die deutsche Regierung dem russischen Exilanten zur | |
> Rückkehr in seine Heimat. Deutschland verlor den Krieg trotzdem. | |
Bild: Lenin und der Schweizer Fritz Platten beim Auftakt der III. Kommunistisch… | |
BERLIN taz | Die Lage war aussichtslos. „Wir fürchten, dass es uns sobald | |
nicht gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen“, schreibt | |
Lenin am 17. März 1917 an Alexandra Kollontai. Der Revolutionärin war | |
gelungen, wovon Lenin träumte. Sie war aus den USA nach Russland | |
zurückgekehrt, wo am 15. März (2. März nach in Russland geltendem | |
Julianischen Kalender), durch Massenstreiks erzwungen, Zar Nikolaus II. | |
abgedankt hatte. Es entflammt ein Machtkampf zwischen der neuen | |
Provisorischen Regierung, die den Krieg mit Deutschland fortsetzen will, | |
und dem Petrograder Sowjet, auf den die kriegsmüden Soldaten all ihre | |
Hoffnungen setzen. Die Revolution ist da – und ihr Anstifter sitzt in | |
Zürich. | |
Lenin will die Schweiz, in der er seit 1914 lebt, verlassen. Aber wie? Als | |
Staatsbürger eines Feindeslands ist ihm die Fahrt durch das Deutsche | |
Kaiserreich verwehrt. Auch das mit Russland verbündete Frankreich will | |
keinen Revolutionär durchwinken, von dem bekannt ist, dass er einen Frieden | |
mit Deutschland unterstützt. Lenin erwägt Abenteuerliches. Er will sich mit | |
gefälschtem schwedischen Pass durch Deutschland schlagen, als Gehörloser, | |
um nicht aufzufliegen. Er träumt von einem Flugzeug. Doch die Lösung ist | |
bereits zum Greifen nah. | |
Man muss „unbedingt jetzt suchen, in Russland ein größtmögliches Chaos zu | |
schaffen“, schreibt am 2. April 1917 der deutsche Gesandte in Dänemark, | |
Graf Brockdorff-Rantzau. Und der Diplomat weiß schon sehr genau wie. | |
Brockdorff-Rantzau steht in Verbindung zu Alexander Parvus. Parvus, halb | |
Abenteurer, halb Berufsrevolutionär, heißt eigentlich Israil Helphand und | |
stammt aus Weißrussland. Er ist in Russland und Deutschland bestens | |
vernetzt, mit Lenin bekannt und betreibt von Kopenhagen aus | |
Schmuggelgeschäfte. In Berlin tritt er als Befürworter des russischen | |
Umsturzes auf und kassiert dafür vom Generalstab mehrere Millionen Mark. | |
Der deutschen Seite hatte er vorgeschlagen, Lenin und seine Entourage durch | |
das Kaiserreich zu schleusen. Der Revolutionär würde in Petrograd, so heißt | |
die Hauptstadt seit 1914, das Chaos stiften, das die Oberste Heeresleitung | |
dringend benötigt, um im Osten eine Waffenruhe zu erreichen. Die | |
Reichsregierung willigt ein. | |
Der Kontakt zu Lenin läuft über die deutsche Gesandtschaft in Bern. Am 4. | |
April 1917 trifft sich Lenin in Zürich mit Getreuen und formuliert | |
Bedingungen an die deutsche Seite: Keine Mitsprache bei der Auswahl der | |
Personen, keine Kontrollen, Durchfahrt so schnell wie möglich, normaler | |
Fahrkartentarif, zudem muss der Waggon exterritorial sein. So will er dem | |
Vorwurf begegnen, Agent und Werkzeug der Deutschen zu sein. | |
## „Provokateure! Lumpen! Schweine!“, schallt ihm hinterher | |
„Angelegenheit in gewünschtem Sinne geordnet“, heißt es am 6. April von d… | |
Deutschen. Reiseleiter wird Fritz Platten. Der Parteisekretär der | |
Sozialdemokratischen Partei der Schweiz nahm 1905 am russischen Aufstand | |
teil und genießt Lenins Vertrauen. Während dieser seine Mitreisenden | |
zusammentelegrafiert, klärt Platten mit den Deutschen die Modalitäten. Zwei | |
Wagen zweiter Klasse sollen am Grenzübergang Gottmadingen bereitstehen. | |
Platten wünscht, um die Reisekasse zu schonen, einen Waggon dritter Klasse. | |
Einen Tag vor der Abreise, am 8. April, bedankt sich Platten in einem Brief | |
an den Parteivorsitzenden der Schweizer Sozialdemokraten für die drei | |
Wochen Urlaub und meldet sich ab. Diese Mission ist seine Privatsache. | |
„Ich, Fritz Platten, führe unter voller Verantwortung und jederzeitiger | |
persönlicher Haftbarkeit den Wagen mit politischen Emigranten und Legalen, | |
die nach Russland reisen wollen, durch Deutschland.“ | |
Im Zähringer Hof nimmt die Reisegesellschaft am 9. April noch eine Mahlzeit | |
ein. Lenin unterzeichnet dort eine Vereinbarung gegenüber der deutschen | |
Seite: „Ich bestätige, […] dass ich die ganze politische Verantwortlichkeit | |
für diese Reise ausschließlich auf mich nehme.“ Der Emigrant, der bisher | |
stets mit Ulianow unterzeichnet hatte, unterschreibt mit Lenin, alle | |
Reisenden zeichnen gegen. Zur Gruppe gehören Lenins Frau Nadeschda | |
Krupskaja, seine ehemalige Geliebte Inessa Armand, der Bolschewik Grigori | |
Sinowjew, insgesamt sind es 30 Unterschriften. | |
Auf dem Bahnsteig haben sich schon die Gegner versammelt. Um sich nicht zu | |
kompromittieren, wollen die meisten Emigranten, insgesamt etwa 500, nur mit | |
Erlaubnis der Provisorischen Regierung durch Deutschland reisen. Darauf | |
aber kann Lenin nicht hoffen. Um 3.10 Uhr ruckt der Zug an. „Provokateure! | |
Lumpen! Schweine!“, schallt ihm hinterher. | |
Im Grenzbahnhof Gottmadingen steigen die Reisenden in die beiden Waggons | |
um. Lenin bezieht mit Krupskaja ein Coupé. Die Wagen werden als Kurswagen | |
an D-Züge angekoppelt. Drei von vier Türen werden verplombt, ein | |
Kreidestrich auf dem Boden grenzt den exterritorialen Teil vom Bereich der | |
beiden deutschen Offiziere ab. Diese werden die Fahrt bis nach Sassnitz | |
begleiten. Keiner der Reisenden wird den Fuß über den Kreidestrich setzen, | |
außer Fritz Platten. | |
## Lenin arbeitet derweil an Aprilthesen | |
„Den ganzen Weg sprachen wir mit keinem Deutschen“, schreibt Krupskaja | |
später. „Wir sahen aus dem Fenster des Wagens und uns überraschte die | |
völlige Abwesenheit von Männern.“ Koteletts mit Erbsen habe es gegeben, | |
notiert sie noch. Die Sangesfreudigen schmettern Revolutionslieder, bis | |
Platten in Mannheim bittet, das Singen einzustellen, aus Rücksicht auf die | |
Offiziere. | |
In Frankfurt bekommen die Revolutionäre Bierdurst. Auf dem Bahnsteig findet | |
Platten Soldaten, die ihn beim Tragen der Bierkrüge helfen. Als sie | |
erfahren, dass russische Revolutionäre im Waggon sitzen, stürmen sie | |
hinein. Platten ist der Zwischenfall unangenehm. Lenin hingegen findet es | |
unangenehm, dass die Toilette zur Raucherinsel geworden und ständig | |
blockiert ist. Er, ein Nichtraucher, stellt Passierscheine aus und | |
limitiert den Zugang zum Örtchen. | |
Derweil arbeitet Lenin an den „Aprilthesen“, die er eine Woche später vor | |
den Petrograder Sowjet bringen wird: Sturz der Provisorischen Regierung, | |
alle Macht den Sowjets, Landreform, Verstaatlichung der Banken, Kontrolle | |
der Industrie, Beendigung des Kriegs. | |
In der Nacht zum 12. April trifft Lenin in Sassnitz ein. Mit Betreten der | |
Fähre endet der heikelste Teil der Reise. In Stockholm werden die Reisenden | |
von Sozialdemokraten erwartet. Wie aufgedreht wirken sie nach der | |
hermetischen Passage durch Deutschland. Mit wehenden Mänteln und modischen | |
Hüten laufen sie durch Stockholm. Lenin führt Gespräche, schickt | |
Telegramme, gibt Interviews. „Russische Revolutionäre in Stockholm“, titelt | |
am 14. April die dänische Zeitung Politiken. | |
Ein Zug bringt die Gruppe zum schwedisch-russischen Grenzort Haparanda. | |
Während Platten hier umdrehen muss, betritt Lenin erstmals seit 1908 den | |
Boden des Russischen Reichs. Aus Petrograd (heute: Sankt Petersburg) fahren | |
ihm die treuesten Genossen entgegen, unter ihnen Stalin. „Werden wir in | |
Petrograd verhaftet?“ fragt Lenin. Er fürchtet, trotz aller Vorkehrungen | |
als deutscher Spion zu gelten. | |
## „Es lebe die sozialistische Weltrevolution“ | |
Der Finnische Bahnhof ist am späten Abend des 16. April überlaufen. | |
Zivilisten stehen Spalier, eine Kapelle intoniert die Marseillaise. Der Zug | |
rollt ein. Die Begrüßung ist stürmisch. Bis hierher trug Lenin seinen sehr | |
bürgerlichen Homburg, einen Filzhut. Nun schwenkt er eine proletarische | |
Schirmmütze. | |
Im Empfangssaal erwartet ihn die Spitze der Sowjets – und die Begrüßung ist | |
unterkühlt. Nikolos Tschcheidse, der Vorsitzende der Arbeiter- und | |
Soldatenräte, ein gemäßigter Sozialist, heißt den „Genossen Lenin“ | |
willkommen und betont, dass „unsere Revolution gegen alle inneren und | |
äußeren Anschläge“ zu verteidigen sei. Alle demokratischen Kräfte müssten | |
zusammenstehen. | |
Lenin hört zu, als gehe ihn das alles nichts an. Nach der Ansprache dreht | |
er sich weg und ruft in die Menge: „Soldaten, Matrosen und Arbeiter!“ Es | |
folgt die erste Rede an die „Avantgarde der proletarischen Armee“: „In | |
Deutschland brodelt alles … der Imperialismus kann jeden Tag | |
zusammenbrechen … die Morgenröte hat schon begonnen … Es lebe die | |
sozialistische Weltrevolution!“ | |
Sieben Monate später sind alle Anführer der Sowjets durch Gefolgsleute | |
Lenins ersetzt. Die Provisorische Regierung ist gestürzt und Lenin der | |
Führer der „Oktoberrevolution“. Am 15. Dezember 1917 bekommt Deutschland | |
seinen Waffenstillstand. | |
Lenin, zuletzt ein Pflegefall, stirbt am 21. Januar 1924 mit 53 Jahren. Aus | |
dem folgenden Machtkampf geht Stalin als Sieger hervor. Fritz Platten | |
emigriert 1923 nach Russland und gründet eine Kolchose. 1938 wird er zu | |
vier Jahren Arbeitslager verurteilt und 1942 erschossen. Es ist der 22. | |
April, Lenins Geburtstag. | |
8 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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