# taz.de -- Langzeitarbeitslose in Deutschland: Auf der Ersatzbank | |
> Christoph Ruhland hat seit 1990 keine Stelle mehr gefunden. Seit 24 | |
> Jahren ist er arbeitslos. Eine Geschichte, die in keiner Statistik | |
> auftaucht. | |
Bild: Christoph Ruhland hat viel zu tun. Er engagiert sich in Vereinen, in der … | |
COTTBUS/SENFTENBERG taz | Er ist der ewige neunte Mann. Die Kugelstoßer | |
haben Christoph Ruhland diesen Spitznamen gegeben. Weil sie acht sind, wenn | |
sie bei den Spartakiaden antreten: den Leichtathletikturnieren für | |
jugendliche DDR-Bürger. Ruhland fährt mit, jedes Mal, im Teambus bis nach | |
Calau oder nach Leipzig. Er wärmt sich auf, zieht sich um – und sitzt dann | |
meist auf der Ersatzbank. | |
Christoph Ruhland, 51 Jahre alt, ist bereit zum Einwechseln. Er ist es | |
immer gewesen. In den Achtzigern, im Leistungssport, genauso wie heute, in | |
seiner Heimatstadt Senftenberg in Südbrandenburg. Hier ist er ein | |
etablierter Mann geworden: Jugendberatung und Sportclub, Vereine, | |
Gewerkschaft und ein Sitz im Rathaus für die Linksfraktion. Er hat viele | |
Termine. Doch auf den Tag, an dem ihm jemand Geld für seinen Einsatz | |
bezahlt, wartet er noch. Ruhland ist seit seinem 28. Lebensjahr arbeitslos. | |
Seit der Wende. | |
Wie viele der ehemaligen DDR-Bürger nach dem Ende der DDR nie wieder eine | |
Stelle gefunden haben, das zählt die Bundesregierung nicht. Denn wenn die | |
Jobcenter einem Erwerbslosen wie Christoph Ruhland eine Arbeitsmaßnahme | |
verordnen, streichen sie dafür seinen Namen aus der Statistik. Einer, der | |
für einen Euro in der Stunde Stiefmütterchen auf Verkehrsinseln pflanzt, | |
sieht deswegen auf dem Papier aus wie jemand, der einen Job gefunden hat. | |
## Menschen, die aus der Statistik verschwinden | |
Wenn er danach keine Arbeit findet und weiter Leistungen aus Hartz IV | |
bezieht, ist sein Zähler trotzdem zurückgedreht: Die Zeitdauer seiner | |
Arbeitslosigkeit steht wieder auf null. | |
Einen Hinweis darauf, dass in Ostdeutschland dennoch extrem viele | |
Langzeitarbeitslose leben, gibt eine Berechnung des Nürnberger | |
Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2010. Dort | |
haben Wissenschaftler versucht zu analysieren, was die vorhandenen | |
Arbeitslosenstatistiken über das Leben der Menschen aussagen. | |
Ein Ergebnis: Ostdeutsche Männer, die über 40 Jahre alt sind, bleiben im | |
Schnitt neun Jahre ihres Lebens erwerbslos. Die Generation ihrer Väter | |
mussten dagegen nur durchschnittlich zwei Jahre lang Geld vom Staat in | |
Anspruch nehmen. | |
## „Hängematte, Parasiten, Schmarotzer“ | |
Für Frauen ist es seit dem Fall der Mauer noch schlechter gelaufen: Den | |
heute 40-Jährigen prophezeien die Forscher insgesamt 13 Jahre | |
Arbeitslosigkeit bis zur Rente. Bei Christoph Ruhland sind es heute bereits | |
24. | |
Er hat sich damit arrangiert. Alle sechs Wochen legt er seinen | |
Taschenkalender auf den Tisch im Gewerkschaftshaus Cottbus: Ein dickes | |
Buch, gespickt mit Klebezetteln. Hier gibt es Wurstbrote und Filterkaffee, | |
eine Schale Würfelzucker und Wasser. Der Erwerbslosenausschuss tagt und | |
Ruhland erteilt das Wort. Er sagt: „Bitte, Dittgard.“ | |
Hapich Dittgard trägt ihr graues Haar in bauschigen Locken, ihre Stimme ist | |
hoch, sie liest vor: „Hängematte, Parasiten und Schmarotzer, spätrömische | |
Dekadenz.“ Sie hat Begriffe gesammelt, die in den Zeitungen standen, und | |
sie hat recherchiert. Aus einer Mappe zieht sie ein Blatt Papier: „So viele | |
Sozialleistungen gibt es in anderen EU-Staaten“, lautet der Aufdruck. | |
Ruhland nickt. Mit einem Bleistift macht er eine Notiz auf einem | |
Ver.di-Briefbogen und legt ihn zur Seite. | |
## Drei Monate, um die eigene Stelle abzuwickeln | |
Der Erwerbslosenausschuss im Cottbusser Bürgerhaus trifft sich seit den | |
neunziger Jahren. Das Personal hat kaum gewechselt seitdem. Dittgard, die | |
zu DDR-Zeiten Ökonomie studierte. Dr. Reinhard Greining, der eine Liste mit | |
„7 Schlüsseln zum Power-Stoffwechsel“ auf der Schreibmaschine getippt hat | |
und immer ein paar Kopien bei sich trägt. Und Christoph Ruhland, der seinen | |
Haar glatt in die Stirn kämmt, gerade Falten in seine Hosen bügelt und | |
jetzt den Vorsitz hat. | |
Wie die anderen hier hat Ruhland kurz nach der Wende seinen Job verloren. | |
Noch am 1. Januar 1990 wird er als stellvertretender Arbeitersekretär der | |
Freien Deutschen Jugend (FDJ) eingestellt, in der Kreisleitung Senftenberg. | |
Ihm bleiben drei Monate Zeit, um seine eigene Arbeitsstelle abzuwickeln. | |
Ruhland sortiert seine Dokumente nach Themen, die „ökonomische Initiativen“ | |
heißen oder „Arbeiterjugend“ und schleppt die Bündel ins Senftenberger | |
Archiv. | |
Danach lebt er von Arbeitslosengeld. Ausgezahlt bekommt er es zuerst in | |
DDR-Mark, dann in D-Mark, später in Euro und seit 2005 schließlich als | |
Hartz-IV-Regelsatz. Heute sind es 391 Euro im Monat. Seine Regelaltersrente | |
wird im Monat 498,98 betragen, ab Mai 2029, sofern sich nichts ändert. Aber | |
danach sieht es nicht aus. | |
## Qualitätsküchen für Westdeutschland | |
Eigentlich ist Ruhland Schreinermeister. Er hat Küchen und Flurgarderoben | |
gebaut, in Gütezeichen-1-Qualität: Exportartikel für Westdeutschland. Mit | |
seiner FDJ-Gruppe hat er sich nach Feierabend getroffen. Bis 1988. Da | |
entscheidet er sich für ein Theoriestudium an der Jugendhochschule Wilhelm | |
Pieck am Bogensee, einer Kaderschmiede für Jungfunktionäre. Er belegt | |
Seminare in wissenschaftlichem Kommunismus, in Philosophie und Kultur. Er | |
könne jederzeit zurückkehren, sagt man ihm im Volkseigenen | |
Tischlereibetrieb Möbelring Lauchhammer. | |
Doch wie die Mauer im 140 Kilometer entfernten Berlin zerfällt nach | |
Ruhlands Studium zunächst das System, von dem er sich gut dotierte Stellen | |
versprochen hat, und dann auch sein Tischlereikombinat. | |
Ruhlands Karriere auf dem zweiten Arbeitsmarkt startet mit einem | |
Computerkurs. | |
Im roten Opel Vectra ist die Uhr stehen geblieben. Für Ruhlands Auto ist | |
immer 01.01.1997. Im Schaumstoff der Sitze klaffen Risse, und wenn die | |
Sicht trüb wird, fährt er rechts ran. Er steigt aus, holt eine | |
Plastikflasche mit Glasreiniger von der Rückbank und besprüht damit die | |
Windschutzscheibe. Zurück hinter dem Lenkrad setzt er die Scheibenwischer | |
in Gang. | |
Das Auto sei so alt, es habe keinen Wert mehr, sagt Ruhland. Keinen, der | |
sich vom Hartz-IV-Satz abziehen ließe. Die Regeln des Jobcenters kennt er | |
genau: Besitz muss verbraucht werden. Die Gegenargumente aber auch: Mit dem | |
Wagen erreicht er schließlich die Bewerbungsgespräche. | |
## Der Zähler dreht sich zurück auf null | |
In den vergangenen Jahren hat er für das Senftenberger Jugendrechtshaus | |
gearbeitet, für die Tafel und für den Arbeitslosenverband. Er hat sich Geld | |
dazu verdient – allerdings nur in ABM-Maßnahmen. Damit hat er den Zähler | |
auf null gedreht. Seine berufliche Laufbahn sprang trotzdem nie wieder an. | |
Das Amt nennt Ruhland mittlerweile einen Sozialarbeiter. Doch ihm fehlt das | |
Diplom. Er hat mal Schulungen zum Bürokaufmann besucht. Zum | |
PC-Programmierer. Zum Jugendbetreuer. Jetzt schreibt er Bewerbungen an das | |
Jugendamt Cottbus. Sportförderung. Oder an den Tourismusverband | |
Senftenberg, als Stadtführer – jeden Monat verschickt er etwa fünf Briefe. | |
Abwechselnd ist er „überqualifiziert“ oder „unterqualifiziert“. | |
Er hat nichts unversucht gelassen und vielleicht ist das Teil des Problems. | |
Er hat den Fokus verloren. Dabei hat er Talente. | |
Ruhlands Platz ist im Senftenberger Rathaus links neben dem Rednerpult. | |
Hier, hinter der mit Soli-Geldern erbauten Glasfassade, kennt ihn jeder. | |
„Druckst du mir bitte die Beteiligungsrichtlinie aus“, sagt er zu dem | |
jungen Mitarbeiter mit Stoppelbart, der ihm auf der Treppe entgegenkommt: | |
„Farbig.“ Die Hauptamtsleiterin geht vorbei und nickt ihm zu. | |
## Er sitzt im Finanzausschuss und im Sozialausschuss | |
Am 18. März 1990 ist Ruhland in die SED-PDS eingetreten. Um etwas gegen die | |
Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland zu unternehmen, sagt er. Er | |
sitzt jetzt im Finanzausschuss und im Sozialausschuss. Unentgeltlich. | |
Weil für ihn nichts Neues beginnt, hält sich Christoph Ruhland an das, was | |
bleibt. Die Heimat und die Tradition. Reporter der Lokalzeitung haben ihn | |
oft fotografiert: In blumenbesticktem Gewand und Strumpfhosen steht er vor | |
dem Barockschloss Altdöbern und stützt sich auf einen Spazierstock. Die | |
Kostüme näht er selbst. Für eine „Geschichtsbörse“ in der Calauer | |
Stadthalle trägt er Spitzenhemd und Federhut. Er ist August der Starke. | |
Aber nur ehrenamtlich. | |
In Cottbus, beim Erwerbslosentreffen, reißt Hapich Dittgard die | |
Plastikfolie von einer Schokoladentafel und bricht sie in Stückchen. Die | |
legt sie, samt Verpackung, auf einen Brotteller in der Tischmitte. „Wir | |
müssen auch an Nachfolger denken“, sagt sie: „Wir sind alle auf | |
Arbeitssuche. Es kann sein, dass wir alle morgen nicht mehr hier sind.“ | |
Es bleibt kurz still. „Da brauchst du bei mir keine Angst haben“, sagt | |
eine, die mal in der Braunkohleförderung gearbeitet hat. Die | |
brandenburgischen Tagebaugruben wurden in den neunziger Jahren mit Wasser | |
gefüllt. Heute ist dort, wo früher die Förderanlagen standen, eine | |
Seenplatte mit Sporthafen. | |
## Frustration ist Privatsache | |
Dittgard nickt, sie kommt nun zu den Anträgen. Für die Gewerkschafter | |
arbeitet sie sich an den Hartz-IV-Gesetzen ab. Sie fordert mehr Leistungen, | |
eine Abschaffung der Strafen und Steuererhöhungen für Gutverdienende. | |
Über Jobsuche reden sie hier beim Erwerbslosenausschuss eigentlich nie. | |
Frustration ist Privatsache. Von Maßnahme zu Maßnahme. Alle sind älter als | |
50. Die Generation der gebrochenen Biografien. Existenzminimum. | |
„Dass wir hier alle für die Sache brennen, das wissen wir“, ruft Dittgard. | |
„Aber wie ziehen wir die anderen mit?“ | |
## Die „amerikanische Botschaft“ in Senftenberg | |
Mediziner Dr. Greining blickt von seinen Mandarinenschalen auf: „Die | |
Unterschicht braucht wirklich Erfolgserlebnisse“, sagt er. | |
„Gut, ich möchte schließen“, sagt Christoph Ruhland. „Haben alle ihren | |
Kaffee ausgetrunken?“ | |
Der rote Vectra steht auf dem Parkplatz, bis Senftenberg braucht er eine | |
Stunde. Er hat entschieden, seine Arbeitskraft der DDR zur Verfügung zu | |
stellen. Dabei ist er geblieben. Ostdeutschland zu verlassen, das kam für | |
ihn nie in Frage. | |
Er steuert den Wagen zu seinem Elternhaus. Er ist nie ausgezogen. An der | |
Kreuzung, wo er immer abbiegt, steht jetzt eine McDonald’s-Filiale. Ruhland | |
hat für sie auch einen Spitznamen gefunden: „Die amerikanische Botschaft“ | |
nennt er sie. | |
31 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Kristiana Ludwig | |
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