| # taz.de -- Diakonie-Experte über Hartz-IV-Wahrnehmung: „Die absonderlichste… | |
| > Faul und ohne Initiative: Wenig scheint so haltbar wie die Vorurteile | |
| > gegenüber Hartz-IV-EmpfängerInnen. Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg | |
| > über den täglichen Existenzkampf, die Mühen der Selbst-Organisation und | |
| > eine ignorante Mittelschicht. | |
| Bild: Die Idee, dass die soziale Sicherung ein Grundrecht ist, sei hierzulande … | |
| taz: Laut einer Allensbach-Studie glaubt ein Drittel der Befragten, | |
| Arbeitslose wollten nicht arbeiten. Warum hält sich dieses Bild vom faulen | |
| Arbeitslosen so hartnäckig, Herr Hauer? | |
| Dirk Hauer: Es hält sich so hartnäckig, weil Politik, Verwaltung und Medien | |
| stetig daran stricken. | |
| Ist es eine inhärente Notwendigkeit eines Systems, das auf größtmögliche | |
| Effizienz und Fleiß der Arbeitnehmer angelegt ist, solche Schreckensbilder | |
| zu entwerfen? | |
| Aus meiner Sicht ist es vor allem einer tief verwurzelten Haltung | |
| geschuldet, die davon ausgeht, dass, wer staatliche soziale Leistungen | |
| beziehen will, sich die auch verdienen muss. Es gibt in Deutschland nur | |
| eine unterentwickelte Tradition des Denkens, dass die soziale Sicherung ein | |
| soziales Grundrecht ist, das jedem Menschen qua Existenz zusteht. Dazu | |
| kommt eine gewisse protestantische Arbeitsethik: der extrem hohe | |
| Stellenwert, der Arbeit an sich zugesprochen wird, ohne dass gefragt wird, | |
| was das überhaupt für eine Arbeit ist. | |
| Es tauchen immer wieder Vorschläge auf, dass Hartz-IV-Empfänger sich | |
| ehrenamtlich engagieren sollten. Ist das reiner Populismus? | |
| Da muss man gucken, wer sie macht. Im Wahlkampf sind sie häufig | |
| populistisch. Es gibt aber auch die irrige Vorstellung, dass wer arbeitslos | |
| ist, zu Hause herumliegt und nichts tut. Ich halte das für die Sicht einer | |
| relativ gut abgesicherten Mittelschicht auf die ihr zunehmend fremde Welt | |
| der Armut. Ich glaube, dass das eine Angst- und Abwehrdiskussion ist. | |
| Der Blick einer Mittelschicht, die ihr eigenes Menetekel sieht? | |
| Es ist so ähnlich wie im 19. Jahrhundert: Da herrschte die Angst des | |
| Bürgertums vor den pauperisierten Massen. Da kommen die absonderlichsten | |
| Fantasien zutage, wie arme Menschen eigentlich leben. Was wir in unseren | |
| Beratungsstellen mitbekommen, ist etwa ganz anderes: Leben mit Hartz IV ist | |
| mit das Anstrengendste, was man sich denken kann. Ich kenne niemanden, der | |
| härter arbeitet als diese Menschen, um sich und ihre Familien einigermaßen | |
| über die Runden zu bringen. | |
| Derzeit wird Inge Hannemann, die Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters, | |
| die mit ihrer Kritik an Hartz IV an die Öffentlichkeit gegangen ist, von | |
| vielen gefeiert. Ist das ein Fanal für ein weit verbreitetes Ungenügen an | |
| den Hartz-IV-Strukturen? | |
| Wir haben eine Untersuchung zu den Mitarbeitern des Jobcenters, ihren | |
| Arbeitsbedingungen und der Wahrnehmung ihrer KundInnen in Auftrag gegeben. | |
| Was für mich daran besonders auffällig war: Es gibt kaum ein öffentliches | |
| Verwaltungshandeln, bei dem die subjektive Einstellung der Sachbearbeiter | |
| so unmittelbare Auswirkungen auf die KundInnen hat. | |
| Wie wirkt sich das aus? | |
| Das kann enthusiastische Empathie bedeuten, eine rigorose Parteinahme für | |
| den Klienten, aber auch die absolut gegenteilige Haltung: Der Kunde ist | |
| mein Feind. Es gibt auch nüchterne Distanz, und es gibt auch | |
| Zwischenhaltungen. Eine, die ich besonders bedenklich finde, ist: Wer mir | |
| sympathisch ist, dem helfe ich, wer mir unsympathisch ist, dem helfe ich | |
| nicht. Die Sachbearbeiter in den Jobcentern bekommen viele Fortbildungen, | |
| aber auf dieses interaktive Element, auf das Machtgefälle zwischen ihnen | |
| und den Klienten werden sie nicht vorbereitet. | |
| Ein Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit hat angesichts der | |
| Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern gesagt, dass die meisten Menschen | |
| schlicht keinen Kontakt zu ihnen hätten. Haben Sie in Ihrem privaten | |
| Bekanntenkreis Hartz-IV-Empfänger? | |
| Ja. Das hängt damit zusammen, dass ich lange Jahre sowohl ehrenamtlich als | |
| auch beruflich in der Sozialhilfe-Beratung gearbeitet. In meinem Freundes- | |
| und Bekanntenkreis gibt es einige, die durchaus längere Hartz IV Erfahrung | |
| haben. Das „länger“ muss man dazu sagen. | |
| Warum? | |
| Längerfristig mit Hartz IV auskommen zu müssen und den Kontrollambitionen | |
| des Jobcenters ausgesetzt zu sein, macht Leute auf Dauer fertig. Wir | |
| beobachten, dass immer mehr Langzeitarbeitslose psychisch angeschlagen | |
| sind, auch die Engagierten. Jahr und Tag um jeden Cent kämpfen zu müssen, | |
| das laugt aus. | |
| Wir haben uns in der Redaktion heftig um den Begriff „typische | |
| Hartz-IV-EmpfängerIn“ gestritten. Gibt es einen statistisch repräsentativen | |
| Typus, mit einem bestimmten Alter, Familien- und Bildungsstand? | |
| Ich würde nicht von einem prototypischen Hartz-IV-Empfänger sprechen. | |
| Natürlich ist es so, dass etwa schlecht ausgebildete Menschen stärker von | |
| Arbeitslosigkeit bedroht sind. Aber inzwischen kann jeder – und wird jeder | |
| – von Hartz IV betroffen. Es gibt inzwischen sehr viele ältere Menschen, | |
| die jahrelang eine solide Erwerbsbiografie gehabt haben und die, wenn ihre | |
| Firma schließt, mit einem Schlag erwerbslos werden. | |
| Also gibt es nichts zu verallgemeinern? | |
| Was wir wahrnehmen: Je länger Menschen arbeitslos sind und sich im | |
| Hartz-IV-Dschungel zurechtfinden müssen, desto stärker prägt das ihr Leben: | |
| der Existenzkampf, irgendwie durch den Tag zu kommen, wird oberste | |
| Priorität. | |
| Genau das ist ja ein häufiger Vorwurf: dass die Hartz-IV-Empfänger nicht | |
| aktiver ihre Zukunft in die Hand nehmen. Erreicht das System, das | |
| eigentlich etwas anderes will, also genau das Gegenteil? | |
| Hartz-IV-EmpfängerInnen sind ja nicht dumm, sie wissen, dass es keine | |
| Arbeit für sie gibt. Und sie haben einen realistischen Blick darauf, was | |
| schönes Gerede ist und was wirklich für sie getan wird. | |
| Wir haben für ein Streitgespräch Vertreter von Erwerbslosen-Initiativen | |
| gesucht – und in Hamburg kaum welche gefunden. Warum gibt es vor allem | |
| Stellen wie die Diakonie, die stellvertretend für sie sprechen? | |
| Eine Antwort ist: Kein Mensch möchte sich als Erwerbsloser verstehen und | |
| sich als solcher dann organisieren. Außerdem bedeutet Erwerbslosigkeit in | |
| aller Regel einen Individualisierungsschub. Es ist schwieriger für | |
| Erwerbslose, soziale Kontakte zu pflegen und zu halten – das ist aber eine | |
| Voraussetzung für Organisation. Und es ist unter den harten | |
| Lebensbedingungen auch schwieriger, Gruppen- und Terminregelmäßigkeiten | |
| durchzuhalten. Außerdem funktioniert so etwas nach meiner Erfahrung | |
| dauerhaft nur mit Hauptamtlichen, die irgendwie, etwa von öffentlicher | |
| Hand, finanziert werden müssen – das gibt es aber für Erwerbslose nicht. | |
| Die einzigen beständigen Strukturen, die ich in dem Bereich kenne, gibt es | |
| bei den Gewerkschaften. | |
| In den späten 90ern hat sich die Gruppe der „Glücklichen Arbeitslosen“ | |
| organisiert, mit einem ganz neuen lässigen, bohemehaften Gestus. Warum sind | |
| die so in der Versenkung verschwunden? | |
| Ich glaube, dass das kurzlebige, auf mediale Öffentlichkeit angelegte | |
| Ansätze waren. In Hamburg gab es in den 80er-Jahren mit den Jobber- und | |
| Erwerbsloseninitiativen Ansätze, sich in den Stadtteilen zu verankern und | |
| selbstbestimmte Kontakt- und Beratungsstellen zu sein – und das mit Politik | |
| zu verbinden. Das funktioniert aber nur, wenn es eine kritische Masse von | |
| Leuten gibt, die das rund um die Uhr, sprich hauptamtlich, machen können. | |
| Sonst ist das nur in einer bestimmten Lebensphase möglich, wenn man zum | |
| Beispiel keine Familie zu ernähren hat. | |
| 28 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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| Inge Hannemann | |
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