Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Studie zu zehn Jahren Hartz-IV-Politik: Bürger auf Bewährung
> Soziologen aus Jena untersuchen die Folgen der Arbeitsmarktpolitik. Sie
> widerlegen das Vorurteil, dass Jobsuchende in Resignation abgleiten.
Bild: Holzabfälle zu Parkbänken – Hauptsache, man bleibt in Bewegung: Ein-E…
So viele Erwerbstätige wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik,
die geringste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung, die
Arbeitslosen selbst infolge Zusammenlegung von Sozial- und
Arbeitslosenhilfe erst sichtbar, sodann mobil gemacht – das klingt nach
erfülltem Versprechen, „fordern und fördern“: glückliche Zeiten für
Arbeitende wie Arbeitslose dank Peter Hartz?
Die Studie „Bewährungsproben für die Unterschicht?“ der „Jenaer Gruppe�…
Klaus Dörre erzählt die Geschichte hinter diesen Erfolgsmeldungen, wobei
sie Zahlen, zeitliche Verläufe, vor allem aber die Erfahrungen der Akteure
des „aktivierenden“ Arbeitsmarktregimes ins Feld führt.
Die Erwerbstätigkeit stieg, nicht jedoch das jährliche Arbeitsvolumen aller
Beschäftigten, das gibt zu denken; offenbar füllten atypische Erwerbsformen
(Teilzeit, Leiharbeit, Minijobs) die Lücke auf, die der Abbau gesicherter
und einkömmlicher Stellen hinterließ; deren Anteil an der
Gesamtbeschäftigung beläuft sich derweil auf rund 37 Prozent und hat sich
seit dem Wirksamwerden der Hartz-Gesetze mit Beginn des Jahres 2003
annähernd verdoppelt.
Dass ein knappes Viertel aller Erwerbspersonen dem Niedriglohnsektor
zuzurechnen ist und 5 Millionen Vollzeitler, um leben zu können, zum
„Aufstocken“ antreten, weist in dieselbe Richtung einer Erosion der
„bürgerlichen Form der Lohnabhängigkeit“ (Robert Castel). Für all diese
„stimmt die neue Arbeitsgesellschaft nur wenig mit dem Bild überein, das
Reformbefürworter […] gerne von ihr zeichnen“.
Fuhren die Arbeitslosen besser? Eine Regionalstudie (Kleinstadt West,
Kleinstadt Ost, Großstadt West, Landkreis Ost) liefert im Verein mit
wiederholten Befragungen von Fallmanagern, Vermittlern, speziell
Betroffenen, euphemistisch „Kunden“ genannt, profunde Antworten auf diese
Frage.
## Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!
Das selbstgesetzte Erfolgskriterium des aktivierenden Sozialstaats
schlechthin ist die Rekrutierung Arbeitsloser für den ersten Arbeitsmarkt,
auf dem sie hinfort verbleiben und für sich selber sorgen sollen.
Tatsächlich verzeichnet die Studie solche Fälle, nur zeugen die wenigen
Glücklichen gegen statt für das neue Regime. Sie eroberten reguläre
Beschäftigung fast durchgehend aus eigenem Bemühen, „ohne Zutun“ der
Instanzen, was diese nicht daran hindert, den Erfolg für sich zu
reklamieren. So werden Arbeitswille und Tatkraft des weit überwiegenden
Teils der Arbeitslosen – „das Aktivierungspostulat läuft bei den
Leistungsbezieherinnen offene Türen ein“ – aufs falsche Konto gebucht.
Andere, obgleich innerlich ebenso auf Arbeit fixiert wie die
Selbstvermittler, bereiten, da sie über geringere Ressourcen verfügen, den
Ämtern größere Schwierigkeiten. Je länger sie in der „Zone der Fürsorge�…
verweilen, desto schroffer bekommen sie die Ungeduld und den Unwillen der
Amtswalter zu spüren, desto stärker neigen diese zur Moralisierung des
notorischen Arbeitslosenschicksals. Die Betroffenen ihrerseits erleben
Arbeitslosigkeit als Wettkampf, dessen simple Diktate („Wer arbeiten will,
bekommt Arbeit!“ „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!“) die
erfolgreichen Stellenaspiranten faktisch und die Arbeitsvermittler
gebetsmühlenartig formulieren.
Überhaupt sind es die „schwierigen Kunden“, die mit sämtlichen Finessen d…
revidierten Regelwerks Bekanntschaft machen. Ihr Leben in der
Arbeitsanwartschaft gleicht einer einzigen Prüfung. Geprüft werden
Arbeitsbereitschaft und Arbeitsfähigkeit, Finanzstatus, Wohn- und
Privatverhältnisse (Stichwort „Bedarfsgemeinschaft“), ob sie ihrer
Residenzpflicht genügen, Bewerbungsschreiben in der geforderten Anzahl
verfassen, ihre Vorladungen pünktlich wahrnehmen, keine Anzeichen von
Verwahrlosung erkennen lassen und so weiter und so fort.
Von Prüfungsformaten gleichsam umstellt, in einem engmaschigen Kontrollnetz
gefangen, von Termin zu Termin eilend, wenden sie den Blick von der
vorgestellten Zukunft ab und der unmittelbaren Gegenwart zu, wodurch genau
jene an Langsicht gebundene unternehmerische Disposition untergraben wird,
die auszubilden gerade der Ehrenpunkt des Mobilisierungsprojekts war. Die
Aktivierung schlägt in ihr Gegenteil um, wird „mittels Infragestellung eben
jener Ressourcen, die die Eigenaktivität erst ermöglichen“,
kontraproduktiv.
## Die politische Konstruktion der Unterschicht
Innerlich blockiert zu leisten, was von ihnen gefordert wird, entwickeln
vornehmlich ressourcenschwächere Arbeitslose oftmals Minderwertigkeits- und
Schuldgefühle, Symptome seelisch-körperlicher Desintegration. Diese
Kundgaben des „Körpereigensinns“ bezeichnen die Grenze der
Mobilisierbarkeit: chronische Krankheit als Ausstiegsklausel aus dem
Dickicht der Prüfungen, der Kraft- und Bewährungsproben. Als kranker
Arbeitsloser wird der nicht Vermittelbare wieder zum guten Arbeitslosen,
gesellschaftliche Re-Integration per anerkanntem Handicap.
Die Hartz-Reformen entfalteten ihr „strukturveränderndes Potenzial“, indem
sie die Zone der Fürsorge in eine Zone gesteigerter Verwundbarkeit
verwandelten, kollektive Rechtsansprüche durch individualisierte Kontakte
ersetzten und den Weg zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft ebneten,
die mit der auf Statusgarantien beruhenden Vollbeschäftigungsgesellschaft
wenig gemein hat.
Niklas Luhmanns Vermutung, der westliche Sozialstaat könnte seinen alle
Bürger einschließenden Wohlfahrtsanspruch preisgeben und das „Restproblem
der Exklusion“ neuerlich für politisch unlösbar erklären, scheint sich zu
bewahrheiten. Frei von jeglicher Idealisierung der Arbeitsreservisten,
räumen die Jenaer Forscher gründlich mit Stereotypen und Vorurteilen auf.
Sowohl der Selbstachtung als auch gesellschaftlicher Wertschätzung halber
besetzt das Gros der Arbeitslosen freie Stellen sogar dann, wenn sie ein
eigenes Leben davon nicht bestreiten können. Zudem zeigen die
vermeintlichen „Abkassierer“ eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung und
begreifen die Eingliederungsverträge als Abkommen auf Gegenseitigkeit.
Fast jeder der Befragten, der staatliche Unterstützung in Anspruch nimmt,
fühlt sich zu Gegenleistungen verpflichtet und greift, wenn der Traum von
einer guten Stelle platzt, bereitwillig zu einer „Maßnahmekarriere“. Im
scharfen Kontrast schließlich „zum Klischee der passiven Arbeitslosen sind
die Leistungsbezieherinnen zu einem erheblichen Teil ausgesprochen aktiv“.
Vielfach Gratis- statt Minderleister, engagieren sie sich in der
Nachbarschaft, üben Ehrenämter aus oder engagieren sich in Initiativen, die
mit Begleitumständen arbeitslosen Lebens ringen (Verschuldung, Zwangsumzug
et cetera).
## Alte Grundannahmen der Forschung gebrochen
Dennoch haftet ein Stigma an ihnen, und dass es haften bleibt, begreift die
Forschergruppe als mutmaßlich beherrschenden Zweck der ganzen Übung. „Die
politische Konstruktion der Unterschicht“ heißt das abschließende Kapitel
des Buches; gemeint ist „Subjekt(ver)formung“ von oben, auf dem
Verfahrensweg. Das Hartz-Regime produziere einen sozialen Stand, mit dessen
Angehörigen niemand tauschen möchte, Bürger auf Bewährung, „ein
feingliedriges System der De- und Reprivilegierung, das auch jene
diszipliniert, die nicht oder noch nicht in prekären Verhältnissen leben
müssen. Die zunehmende Konzessionsbereitschaft qualifizierter Arbeitskräfte
bei der Stellenwahl, die als großer Reformerfolg gepriesen wird, ist
Ausdruck dieser Entwicklung.“
Die erstaunlichste Einsicht der Studie ist zugleich die, die am meisten
ermutigt: „In der Erwerbslosigkeit dominiert keinesfalls die Wahrnehmung
eines Bruchs mit sozialen Beziehungen.“
Gerade dann, wenn soziale Entkopplung und Isolation unabwendbar scheinen –
angesichts eines für irreversibel erachteten Abschieds vom Erwerbssystem –,
setzen Regenerationsprozesse ein. Das Dasein bäumt sich mit letzter Kraft
gegen die Gleichsetzung von „gelungenem Leben“ und „ordentlicher Arbeit“
auf. Die Eigenaktivität springt wieder an, Netzwerke werden neu geknüpft,
selbst jene, die sich resigniert zurückgezogen hatten, verlassen wieder
ihre Wohnung, sei es auch „nur“, um unter ihresgleichen Trost und Zuspruch
zu finden.
Dieser Befund bricht mit Grundannahmen der Forschung über
(Langzeit-)Arbeitslosigkeit, die seit dem Klassiker „Die Arbeitslosen von
Marienthal“ als unantastbar galten. Das macht dieses Buch eigens
empfehlenswert.
30 Jul 2013
## AUTOREN
Wolfgang Engler
## TAGS
Teilzeit
Leiharbeit
Minijob
Hartz IV
Europa
Hamburg
Familie
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Niedriglohn
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar EU-Arbeitslosigkeit: Bummelzug Konjunktur
Das einzige, was sich in Europa derzeit aufschwingt, sind die
Erwerbslosenquoten. Eine Jugend ohne Job könnte die EU infrage stellen.
Urteil gegen Hartz-IV-Aktivistin: Kein Job beim Jobcenter
Das Hamburger Arbeitsgericht lehnt den Antrag der Hartz-IV-Aktivistin Inge
Hannemann auf Weiterbeschäftigung ab. Aber sie hat noch eine weitere Klage
eingereicht.
Diakonie-Experte über Hartz-IV-Wahrnehmung: „Die absonderlichsten Fantasien�…
Faul und ohne Initiative: Wenig scheint so haltbar wie die Vorurteile
gegenüber Hartz-IV-EmpfängerInnen. Dirk Hauer von der Diakonie Hamburg über
den täglichen Existenzkampf, die Mühen der Selbst-Organisation und eine
ignorante Mittelschicht.
Hartz IV: Staatsdoktrin Sanktionsterror
In der Broschüre des Pinneberger Jobcenters sieht der Sozialberater Herbert
Thomsen Methode: Wer mit falschen Infos gefüttert wird, lässt sich leichter
über den Tisch ziehen.
Geringverdiener in Städten: Mietpreise erhöhen Armutsrisiko
Einkommensschwache Familien haben nach Zahlung der Miete oft weniger Geld
als Hartz IV-Empfänger übrig. Vor allem in beliebten Städten ist das
Armutsrisiko hoch.
Der taz-Wahlcheck (2): Mindestens Mindestlohn
Die Parteien treten mit unterschiedlichen Positionen zur Wahl an. Tun sie
das wirklich? Die taz hat die Programme thematisch durchforstet. Diesmal:
Arbeit und Soziales.
Debatte Niedriglöhne: Die Kehrseite der Nächstenliebe
Die Gesellschaft profitiert in großem Maße von freiwilligen Helfern in
Kliniken und Wohlfahrtsverbänden. Die Beschäftigten profitieren nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.